Man kann nicht fragen:
«Erzähl mal»

Draussen scheint die Sonne, drinnen sitzt Lika Nüssli beim Werkstattgespräch zur Jugend- und Kinderliteratur für Erwachsene zwischen Palmen. Das erinnert ein wenig an Ferien. Worüber sie in ihrem Buch Starkes Ding. Die Geschichte eines Verdingkindes, basierend auf den Erinnerungen meines Vaters spricht, ist aber das Gegenteil von unbeschwert.

Eigentlich trug Nüssli die Idee zum Buch schon eine Weile mit sich herum. Sie war jedoch der Meinung, dass sie zuerst selbst reifen musste um der Geschichte ihres Vaters gerecht zu werden. Zu Beginn der Corona-Pandemie war es schliesslich soweit. Nüssli hielt sich gerade in Belgrad auf. Während der Ausgangssperre fing sie an, ihren Vater anzurufen, der sich in der Schweiz in einem Altersheim ebenfalls im Lockdown befand. Durch diese Gespräche merkte sie, wie fragil das Leben ist und dass sie zu spät angefangen hat, ihrem Vater Fragen über seine Zeit als Verdingkind zu stellen. «Das Erlebte ist jedoch so gross, dass man jemanden nicht einfach so fragen kann: ‹Erzähl mal!'». Nüssli stellte deshalb ein Konzept mit Fragen zusammen, welche die Türe zu Erinnerungen öffnen sollten. Wieder zu Hause in der Schweiz führten die beiden die Gespräche fort.

«Es war so wie ein Schatz, den ich gehoben habe», meint Nüssli über die immer zahlreicheren Kindheitserinnerungen, die ihr Vater hervorholte. Ihr ist bewusst, dass sie Verantwortung für die Geschichte ihres Vaters trägt und will deshalb sorgfältig damit umgehen. Durch den Prozess hat sie viel über ihn erfahren und ist dankbar dafür, dass sie beide über eine – wie sie es nennt – «Sprachbrücke» wieder zusammengefunden haben. Aber auch mit anderen findet sie sich. Seit Erscheinen des Buches kommen immer wieder Menschen auf sie zu, deren Väter ebenfalls Verdingkinder waren oder die nun selbst etwas über den eigenen Vater erfahren möchten. So reichen die Diskussionen so über das Buch hinaus.

Die Bilder im Buch hat Nüssli selbst gezeichnet und sich dabei von Senntumsmalerei – Appenzeller und Toggenburger Bauernmalerei – inspiriert. Jedoch hat sie diese in Kinderzeichnungen umgewandelt. Gleichzeitig war es der Autorin wichtig, in den Bildern die Zeit der 1950er Jahre anklingen zu lassen. Die schwarz-weissen Zeichnungen, die auch skizzenhafte Elemente aufweisen, machen die Notlage der Verdingkinder deutlich. Dennoch ist sie der Meinung, dass Text eine Geschichte besser vermitteln kann als Bilder, die unterschiedlich interpretierbar sind.

Die Frage aus dem Publikum, ob sie auch Interviews zusammen mit ihrem Vater gegeben hat, bejaht Nüssli lachend. Ihr Vater habe es genossen und den Eindruck erweckt, als habe er schon immer Interviews gegeben. Zudem nütze er die Gelegenheiten jeweils, ihre Darstellungen im Buch zu korrigieren oder sogar noch weitere Geschichten zu erzählen. Ihre Zeichnungen fände er jedoch wild und er sei auch der Meinung, dass das Buch zum Preis von 35 Franken viel zu billig sei.

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