Über Sprache und Ideologie
Katharina Alder im Gespräch mit Christoph Höhtker

Christoph Höhtker, in deinem neuen Roman Schlachthof und Ordnung stellst du die Menschen unter die Wunderdroge Marazepam. Im Ernst, wäre die Welt so nicht vielleicht besser?

Natürlich ist es für meine Begriffe keine gangbare Alternative, die Leute chemisch zu beeinflussen. Es ist aber letztendlich so, dass auf der ganzen Welt Drogen- oder Medikamentenkonsum gang und gäbe ist; es gehört zum normalen Alltag und ich stehe dem nur moderat kritisch gegenüber. Ich habe da keine ideologischen Schranken. Wenn man das jetzt auf die gesamte Menschheit hochrechnet… [lacht] Naja, man könnte sagen, dass die Menschheit momentan nicht in allerbester Laune ist und wenn die ein bisschen gehoben würde, wäre das vielleicht auch mal ganz angebracht. Letzendlich sind das globale Fragen von grosser Tragweite, die in so einem Buch nicht wirklich behandelt werden können. Für mich ging es darum, dass eine Droge, die auf jeden Menschen unterscheidlich wirken kann, ein sehr gutes Instrument ist, um viele verschiedene Szenarien durchszuspielen.

Du hast neben Drogen auch schon den Weltkommunismus als einzig gangbare Lösung erwähnt.

Also wenn man den Grundkern dieser Ideologie zu definieren versucht, ist das eine relativ rationale Analyse von Wirtschaftsgeschehen. Diese Form von Rationalität ist natürlich etwas, was gerade in pandemischen Zeiten durchaus mal verloren gehen kann. Insofern wäre Vernunft in Kombination mit Gerechtigkeit schon mal ein guter Ansatz, um die Welt zu organisieren. Andererseits glaube ich, und das ist in meinen Augen das zentrale Argument, dass der Kapitalismus keine wirkliche Ideologie ist, sondern etwas, was wesentlich näher am Kern des Menschen dran ist. Er ist eine menschliche Bedürfnisstruktur. Insofern glaube ich, ist der Kapitalismus dauerhaft schwer zu überwinden.

Der Roman ist voller Ideologien; du hast alles reingepackt, was geht.

Da wird mit vielen Ideologien gespielt, ja. In meinen anderen Büchern ist es auch so, dass politische Versatzstücke immer wieder benutzt werden. Die kann man natürlich auch humoristisch auswerten, nichtsdestotrotz haben sie aber immer einen relativ ernsten Kern.

Das speist sich bestimmt auch aus deinem soziologischen Interesse. Gestern im Gespräch mit Tom Kummer hast du diesbezüglich ein bisschen tiefgestapelt: Du sagtest, du hättest Wissenschaft nie ganz verstanden, würdest aber diese pseudowissenschaftlichen Belege lieben, die du in deinem Buch verwertest.

Damit meinte ich natürlich Folgendes: Ich stamme ja aus Bielefeld. Bielefeld ist ein sehr bekannter Soziologie-Standort. Zeitweise habe ich auch da studiert, aber mein Hauptstudium hab ich in Hamburg absolviert. Bielefeld ist berühmt für eine ganz bestimmte Schule der Soziologie: die Systemtheorie. Und wer etwas mit Bielefeld und Soziologie assoziiert denkt an den Namen Luhmann. Ich hab ihn natürlich gelesen, aber das sind schon sehr komplexe Theoreme. Deswegen habe ich gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob ich da solide Verständnisgrundlagen habe. Das möchte ich mir nicht anmassen, zumal es auch schon sehr lange her ist.

Hast Du Dir mal überlegt Theaterstücke zu schreiben? Der neue Roman wirkt ja durchaus wie ein postmodernes Fragmentstück.

Ja, das würd mich nicht stören, wenn das Buch als Theater inszeniert würde. Es war natürlich meine Intention, Dinge, Szenarien, Stile zusammenzumischen und konventionelle Romanstrukturen bzw. Macharten postmodern oder postpostmodern aufzubrechen. Das mache ich gerne! Mit Theatertstücken habe ich mich bisher noch nicht so sehr auseinandergesetzt, wär aber auch gut. Das Problem ist die Zeit. Ich kann mich nicht einfach irgendwohin setzen und etwas produzieren, bei dem die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Schubalde bleibt, extrem hoch ist. Da muss ich mir vorher sehr gut überlegen, ob ich dieses Risiko eingehen will. Wenn mir jemand sagen würde, er inszeniere an der Volksbühne und brauche ein Stück, würd ich mir das natürlich überlegen. Das Theater ist faszinierend, aber eine Welt, mit der ich nicht sonderlich vertraut bin.

Das ist interessant, denn es wirkt so, wie wenn du dich da zuhause fühlen würdest. Dieser innere Monolog des Junkies auf dem Weg zu Dr. Bunnemann beispielsweise ist grandios.

Jajajaja! Dieser Typ, Joachim Angélique Gerke… [kichert vor sich hin]

Ich sehe, du hast Spass.

Ja, der ist schon echt irre. Für mich ist diese Figur ein Sprachexperiment. Der Typ ist für meine Begriffe der sprachliche Extremstvertreter in dem Buch. Diese sehr kurzen Sätze, diese Assoziationen, diese Wortspiele, diese Kombinationen… der hat’s echt drauf. Ich habe nach Schlachthof und Ordnung noch einen Text geschrieben, in dem er alleine ist. Nur dieser Typ mit dieser Erzählweise, die noch wilder und extremer geworden ist. Dieses Buch wird wahrscheinlich niemals veröffentlicht werden.

Doch, unbedingt!

Nene, für sowas werde ich niemanden finden.

Deine Sprache ist überbordernd, sprudelnd, so breit, dass man sie nicht einordnen kann. Machst du das bewusst, oder passiert dir das?

Das ist bewusst. Diese Wortspiele fallen mir einfach ein. Wenn ich gut gelaunt bin und 2000 Kaffee getrunken habe, fällt mir sowas ein, aber das Spiel mit verschiedenen Sprachebenen, Stilen, Slangs, das ist schon ein zentrales Merkmal der Komposition – wenn ich das so sagen darf – von Schlachthof und Ordnung. Das ist bewusst. Es bereitet mir unheimliches Vergnügen, unterschiedliche Dinge in so einem gemischten Salat zusammenzumixen. Viel mehr, als wenn eine Linie so durchgehalten wird. Wobei ich es auch gut finde, wenn Leute das so machen, wie Tom Kummer zum Beispiel. In meinem neuen Text habe ich jetzt jedoch nur einen Sprachstil durchgehalten. Ich wechsle das immer. In Schlachthof und Ordnung kann auf jeder Seite etwas ganz anderes passieren. In meinem neuen Text ist es so, dass eine erwartbare Sache bis ins Manische übertrieben wird. [lacht] Ich mag es, den Leser ein bisschen zu nerven.

Sind Autor*innen bessere Menschen?

Die Frage stellt sich schon bei der Anreise: Ist es im Moment moralisch vertretbar, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen statt mit dem Fahrrad, wie im Falle von Lukas Bärfuss, 110 Kilometer nach Solothurn zu radeln? Na ja, wer Geld habe, könne sich die Fahrt in der ersten Klasse jedenfalls leisten, meint Sandra Künzi. Nora Gomringer musste sich die Gretchenfrage nicht stellen, denn sie ist an diesem Abend live von Frankfurt aus per Video zugeschaltet.

Doch das Thema des Abends ist ja eigentlich Moral und Literatur. Moderator Lucas Marco Gisi stellt gleich zu Beginn die Hauptfrage: Ist Literatur verpflichtet, sich an moralische Gesetzmässigkeiten zu halten und diese zu reflektieren? Nein, findet Künzi sogleich, Autor*innen seien nicht bessere Menschen. Von der schöngeistigen, nicht besonders machtvollen Literatur verlange man immer, dass sie moralisch sei. Dabei sollte ihrer Meinung nach Politik und Wirtschaft diesen Anspruch haben.

Damit ist Bärfuss nicht ganz einverstanden. «Sprache ist immer moralisch», findet er, schliesslich müsse man über seinen Wortschatz stets bestimmen. Und da gibt Bärfuss, ganz Systematiker, auch schon den Anstoss zu einer Begriffsdiskussion, denn was bedeute «Moral» überhaupt? Seien damit universelle Werte gemeint, oder habe das Ganze womöglich, wie Gomringer aus Frankfurt anmerkt, auch mit dem/r Adressat*in zu tun? Sobald man ein Gegenüber habe, das man überzeugen und verführen will, richte man sich dann nicht nach einer bestimmten Moral oder Sittlichkeit?

Bärfuss jedenfalls glaubt an die Macht der Sprache. Es sei schliesslich wissenschaftlich bewiesen, dass die Artikulation eines Wortes im Kopf ein Aktionspotential freisetze und damit auf eine Tat vorbereite. In anderen Worten: Dächten wir «Hammer», spannten sich unsere Muskeln und wölbe sich unsere Hand schon um den imaginären Griff, um etwas damit niederzumähen. Auch Nora Gomringer ist von der Macht der Literatur überzeugt, ihre Leser*innen zu einer moralischen Reflexion ihres Handelns zu bewegen. Ein möglicher Beweis: In Gebieten, die sich in Richtung Diktatur neigten, würden die Dichter als allererstes ruhig gestellt. Es fällt das Stichwort Ungarn.

Fazit: Sollte man also in der momentanen Situation nicht am besten Autor*innen ins Bundeshaus Bern einladen? Schliesslich sind sie die eigentlichen Profis im Modellieren von (moralischen) Szenarien.

Hummermässiges Instantdichten

Eine kurze Vorstellungsrunde, und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Nicht nur das Dichten scheint hier instant zu passieren. Die Spielregeln werden erklärt – ich hab sie irgendwie nicht richtig mitbekommen und den Stichworten im Chat nach zu beurteilen, bin ich nicht die Einzige – und schon geht es los.

Das Publikum gibt ein Stichwort, dann haben die vier Autor*innen 20 Minuten Zeit, einen Text zu erarbeiten und tragen ihn anschliessend vor. Katja Alves und Boni Koller überbrücken die Wartezeit mit einem kleinen Quiz – es gibt sogar etwas zu gewinnen. So weit so gut. Den Teil, in dem Alves und Koller erklären, dass jeweils ein Stichwort in der Kategorie «Handwerkliche Tätigkeit», «Preis» und «Politiker» gesucht wird, bekomme ich nicht mit. Wieso überhaupt diese Einschränkung?

Reina Gehrig, die dem Abend als Notarin beiwohnt, hat dementsprechend einige Mühe, passende Begriffe zu finden oder sie wenigstens der jeweiligen Kategorie zu zuordnen. Da haben wohl einige Zuhörer*innen ihre Stichworte auch nicht nach Kategorie gewählt.

Schliesslich fällt die Auswahl auf «Wein stampfen», «Schwingerkönigin» und «Richard Nixon». Die Autor*innen, Flurina Badel, Romana Ganzoni, Demian Lienhard und Giuliano Musio, ziehen sich zurück und machen sich ans Schreiben.

«Was konnte sich Lukas Bärfuss als Jugendlicher nicht leisten?» Diese und andere Fragen gilt es im Quiz zu beantworten, Punkte zu sammeln und so eine Ausgabe des Strapazins zu ergattern. Leider zieht sich das Quiz etwas hin, doch die Autor*innen freut’s, so haben sie fünf Minuten länger Zeit, um an ihren Texten zu feilen.

Das Highlight des Abends sind dann definitiv die Lesungen der entstandenen Texte. Die Anstrengung, die dahinter steckt, merkt man ihnen überhaupt nicht an. Trotzdem, einfach war es nicht: «Es waren sehr schwierige Begriffe. Ich hätte viel lieber über den Hummer auf eurem Tisch geschrieben. Und ich habe von Hand geschrieben, jetzt kann ich meinen Text fast nicht mehr lesen», zieht Demian Lienhard sein Fazit.

Das Feedback der Zuschauer*innen zeigt, es war ein unterhaltsamer Abend, dessen Hauptrolle dann doch ein stiller Teilnehmer spielte: «hummermässig!»

Wie wird ein Buch?

Unter dieser Leitfrage finden Simone Lappert und Zsuzsanna Gahse an den 42. Solothurner Literaturtagen zusammen, sprechen über ihre Texte «Der Sprung» und «Schon bald» und darüber, wie sie als Autorinnen Dinge sammeln, selektionieren und ordnen.

Die Autorinnen schweifen nicht in metaphysische Spekulationen ab, obwohl der eher bemüht abstrakt klingende Veranstaltungstitel «Zur Zusammengehörigkeit der Dinge» anderes vermuten liesse. Stattdessen bleiben Lappert und Gahse angenehm konkret. Sie unterhalten sich, moderiert von Stefan Humbel, unter anderem über ihren persönlichen Schreibprozess. Obwohl das Webcamformat in diesem Gespräch ausbleibt, erhalten die Zuhörer*innen Einblick in die Arbeitszimmer der Autorinnen. Zsuzsanna Gahse erzählt von ihren grossen und kleinen Schreibtischen und ihrem Stehpult. Das Schreiben geschieht gerne mal im Bett und die Auslegeordnung findet auf dem Boden statt.

Darüber hinaus sprechen die Autorinnen vom Ordnen im Text. Besonders die Figuren bieten dabei Orientierungshilfe. In «Der Sprung» ist es eine Menschenmenge, die zum Handlungsträger wird. Lappert verfolgt die Vielzahl an Lebensgeschichten, erforscht die divergierenden Sichtweisen und konfrontiert sich mit düsteren Erfahrungswelten. Zsuzsanna Gahse überschreitet Grenzen im medialen Sinn. Sie verbindet Dichtung, Prosa und Essay, vergibt die Handlungsmacht an Dinge und Räume.

Die Frauen sprechen auch von dem, was sich der Ordnung entzieht. Für Lappert heisst das, der Figur nicht Worte in den Mund zu legen, sondern diese selbst zu Wort kommen lassen. Es geht darum, die Figur soweit kennenzulernen, dass ihre Worte die der Autorin werden und gleichzeitig die Distanz zu wahren, damit die Autorin die Figur nicht inkorporiert und ihren Ausdruck behauptet, anstatt erzählt. Die Figuren dürfen nicht zu Marionetten werden – auch nicht dann, wenn es darum geht, eine Erzählung zu strukturieren. Entweder die Dinge fügen sich, docken aneinander an oder sie tun es nicht. Und was nicht zusammengehört, bleibt übrig, wird in einer Schublade verstaut und kann, fügt Gahse an, Jahre später an einem anderen Ort wieder auftreten.

Dann ein plot twist: Für einmal lesen die Autorinnen nicht aus ihren eigenen Büchern, sondern haben sich eine Passage aus der Arbeit ihrer Gesprächspartnerin ausgesucht. Lappert erzählt, dass sie ohnehin stark mit den Ohren schreibt. Sie liest sich den Text selbst laut vor beim Schreiben. Der Klang der Worte sei für sie Inhaltsträger. Denn damit der Text einen Körper erhält, muss er in den Raum – ins Dreidimensionale – geholt werden, erklärt sie. Es gehe darum, den eigenen Text zu prüfen; sie muss ihn hören, um zu wissen, ob sie ihm glauben kann.

Zsuzsanna Gahse wiederum verweist auf das Dialogische des Schreibprozesses und die Wichtigkeit der Aussensicht. «Das Vortragen ist fundamentaler Bestandteil des Schreibens», hallt es aus unseren Computerlautsprechern. Einmal mehr wird die Bedeutung des Zwischenmenschlichen im scheinbar isolierten Prozess des Schreibens deutlich. Schreiben, ergänzt Simone Lappert, sei für sie sowieso immer eine Begegnung – und wenn sie merkt, dass sie die Reaktion ihrer Figur nicht bis zu jedem Mass beeinflussen kann, dann weiss sie, dass ihr Buch auf gutem Wege ist.

Judith Rehmann und Sarah Rageth

Jamais vu et souvent lu

Le voyage intime des traducteurs de Philippe Rahmy

Les choses continuent d’exister quand nous ne sommes pas là. Il suffit de les disposer avec soin pour que les autres les trouvent belles et s’en servent en notre absence. Écrire. Que sont les livres sinon la chambre vacante d’un écrivain parti en voyage dans ses histoires ?
(Philippe Rahmy, Béton armé)

En effet, les écrits de Rahmy, disposés avec soin ont su plaire. Luciana Cisbani, traductrice d’Allegra parle d’un coup de foudre de lecture, qui a déclenché l’envie de traduire le roman en italien. De même, Yves Raeber s’est beaucoup investi dans la traduction de Béton armé en allemand. 

Les deux traducteurs de Rahmy n’ont pas connu Philippe personnellement. Pourtant, ils le nomment par son prénom, parlent de lui comme d’un ami proche, de ses souffrances et de sa maladie, de la corporalité et du mystère de ses livres. 

Même s’il s’agit d’un auteur comme Rahmy, qui invite ses lecteurs chaleureusement à vivre en intimité avec ses livres, on peut s’interroger sur la possibilité et les limites de connaître quelqu’un à travers son écriture. 

Traduire permet de faire revivre un écrit, de le faire survivre. La traduction construit un pont qui permet au texte de dépasser son cadre original. Or, dans un premier temps le traducteur doit envisager le voyage dans le sens inverse, c’est-à-dire il lui faut enjamber le fossé là où il n’y a pas encore de pont. Un saut dans le vide, là où le traducteur suppose un fondement fécond du texte. Sur les traces fictionnelles de Béton armé, Yves Raeber a entrepris un voyage à Shanghaï. Pour rédiger Die Panzerung, il s’est plongé dans le décor dans lequel le livre original a vu le jour. Incontestablement une telle expérience crée de la proximité et accentue l’empathie du traducteur pour l’auteur. Néanmoins, cette proximité peut être trompeuse. Elle est construite unilatéralement et repose sur les dispositions et sensibilités personnelles du traducteur. C’est dans ce sens que Luciana Cisbani nous rappelle que le traducteur est amené à faire des choix et qu’il doit supporter que les autres possibilités ne se taisent jamais.

Lyrik gegen den steifen Nacken

Lydia Dimitrow lädt uns zu einer Verabredung besonderer Art ein, dem Lyrik Speeddating. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um den schnellen Austausch zwischen den Teilnehmer*innen. Hierbei werden natürlich keine persönlichen Informationen ausgetauscht, sondern Lyrik. Ein Gedicht soll aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt werden und dies recht zügig. Lydia, die selbst beruflich Gedichte aus dem Französischen und Englischen übersetzt, gibt uns einige Hinweise. Form und Inhalt seien nicht zu trennen, meint sie. Dabei bezieht sie sich auf Rüdiger Zymner und seinen Begriff des Attraktors. Wo die Wissenschaft rhetorische Stilmittel in Texten als Störung betrachtet, sieht Zymner fesselnde Auffälligkeiten. Diesen gilt es nun bem Übersetzen zu beachten. Wir legen los. 

Das französische Gedicht, das wir übersetzen, sieht so aus:

Et pourtant et pourtant 

la lumière sans discontinuer

passe et repasse ses plumes

sur nos nuques raidies

José-Flore Tappy: Terre battue suivi de Lunaires. Editions Empreintes, 2008

Zuerst versuchen wir eine «Lesewelle» zu machen. Das heisst, alle Teilnehmer*innen sollen der Reihe nach das französische Gedicht lesen. Eine Welle wird zwar nicht draus, aber am Schluss haben es alle einmal gelesen. Jetzt bekommen wir fünf Minuten, um es zu übersetzen. 

Wir übersetzen es so: 

Und trotzdem und trotzdem

streift das Licht unablässig

seine Federn wieder und wieder

über unsere steifen Nacken

(Mara)

Und doch

streift das Licht

immer wieder und wieder seine Federn

über unsere steifen Nacken

(Selina)

Nachdem wir alle unsere Gedichte vorgetragen haben, kriegen wir noch etwas Überarbeitungszeit. In einem zweiten Anlauf verwandeln sich unsere Texte. Das Licht wird zur Erkenntnis und das etwas melancholisch klingende «und doch» wird zum aufmunternden «Doch, doch!» 

Und trotzdem und trotzdem

Streift die Erkenntnis unablässig

ihre Federn wieder und wieder

Über unsere steifen Nacken

(Mara)

Doch, doch!

Das Licht streicht

wieder und wieder sein Gefieder

über unsern steifen Hals

(Selina)

Randnotiz: Es ist jetzt schwer, unsere Gedichte hier beim Schreiben nicht nochmals etwas zu überarbeiten. Aber wir tun’s nicht. Die sind echt, wir schwören. 

Wir lesen in einer Abfolge, die schon eher an eine Welle erinnert als am Anfang, unsere zweiten Versionen vor. Trotz anfänglicher technischer Schwierigkeiten kommen zum Schluss die verschiedensten Übersetzungen zusammen. Die Teilnehmer*innen stützen sich beim zweiten Versuch auf die Vorschläge der anderen und passen einige Sachen an. Trotzdem ist keine Übersetzung gleich wie die nächste. Diese Übung hat aufgezeigt, wie man als Übersetzer*in nicht nur mechanisch übersetzt, sondern ein Gedicht immer transponiert und so auch etwas Neues schafft. 

Text: Selina Widmer und Mara Baccaro

Anime als Einstiegsdroge

Ausgestattet mit Stift und Papier – oder in meinem Fall etwas digitaler –, stehen wir in den Startlöchern für den Comic Workshop mit Nando von Arb. Lassen wir unserer Kreativität für einmal freien Lauf!

Das ist auch Nando von Arbs Motto: Einfach drauflos zeichnen, nicht zu viel nachdenken und schon gar keine «Erwachsenen-Filter» einschalten. Als Kinder hätten wir alle zeichnen können, wir hätten es einfach wieder verlernt.

Zu Beginn stellt der Comic-Künstler sein eigenes Werk vor. Seine autobiographische Graphic Novel 3 Väter ist gerade in Solothurn mit dem allerersten Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet worden und erzählt von seiner Kindheit in einer Patchworkfamilie mit drei Vätern und einer alleinerziehenden Mutter, die dabei an ihre Grenzen kommt. In seiner Geschichte tritt die Mutter als Vogel und der Vater als wildes Tier auf. Für das Schreiben und Illustrieren ist er sowohl emotional als auch stilistisch in seine Kindheit zurückgekehrt und hat sich von dieser Perspektive leiten lassen.

Genau das sollen nun auch wir versuchen: Denken und zeichnen wie wir das als Kinder gemacht haben, aus der Perspektive eines Kindes. Und wichtig: Einfach drauflos zeichnen! Menschen, mit denen wir noch eine Rechnung offen haben, als tierischen Charakter darstellen und kleine Geschichten entwickeln.

Geleitet von von Arbs Instruktionen und seinem liebevoll gestalteten Worksheet packen wir unsere Stifte und legen los. Es fällt mir schwer, meine perfektionistischen Gedanken und mein Bedürfnis nach Ästhetik zu unterdrücken oder wenigstens zu ignorieren: «Ich kann das nicht. Das sieht sowas von hässlich aus.» Obwohl wir eigentlich keinen Radiergummi benutzen sollten, verwende ich meine «Rückgängig-Taste» anfänglich alle zwei Sekunden. Mit jeder weiteren Illustration, für die uns von Arb jeweils ein paar Minuten Zeit lässt, fällt es mir jedoch leichter loszulassen. Einfach Spass haben und sehen, was ich da auf dem Bildschirm zum Leben erwecke.

Nach jeder Runde sind wir eingeladen, unsere Experimente und Versuche mit den anderen Teilnehmer*innen zu teilen. Ich traue mich noch nicht, aber es macht grosse Freude zu sehen, was bei den anderen entstanden ist. Ein Mädchen zeigt stolz ihre Zeichnung. Sie sei von einer Anime-Serie inspiriert gewesen. Für von Arb ist das keine Überraschung: Anime sei schliesslich eine typische «Anfängerdroge».

Schritt für Schritt werden so aus Menschen Giraffen, Schildkröten, Hunde und schliesslich Comicfiguren mit Emotionen und kleinen Geschichten. Zufrieden und entspannt endet der Workshop nach einer guten Stunde. Ich habe viel Neues gelernt und bin zur Ruhe gekommen. Es tut gut, den Kopf für ein paar Minuten einfach einmal auszuschalten und einfach nur zu zeichnen.

Zu Stimmungen zwischen Memento und Vision

Tom Kummer und Christoph Höhtker treffen sich zum Gespräch mit Stefan Humbel im Rahmen der Veranstaltung «Zu Stimmungen zwischen Memento und Vision». Sie diskutieren die Motive ihrer neuesten Bücher Nicht von schlechten Eltern und Schlachthof und Ordnung. Lorenz Ruesch, Dominik Fischer und Katharina Alder tickerten dazu live. 

[12:57] Lorenz Ruesch
Hmm, versprecht ihr euch etwas Konkretes vom Gespräch Kummer-Höhtker? Erwartungen, Wünsche?
[12:57] Katharina Alder
Ich kann mir vorstellen, dass es viel um Drogen, Tod und Wahrnehmung gehen wird. Und um Surrealismus.
[12:58] Dominik Fischer
S'ist thematisch ja sehr offen gehalten. Ich erwarte schon viel von den beiden, vor allem grossartige Unterhaltung!
[12:58] Katharina Alder
Zwei Mordskaliber. Aber das kann auch in die Hosen gehen.
[12:58] Lorenz Ruesch
Eine gutes Gespann, definitiv.
[12:58] Dominik Fischer
Das ist schon ein bisschen der «Main Event» der Literaturtage, oder?
[12:59] Katharina Alder
Wenn man's ein wenig quer mag. Für die Gesitteten ist wahrscheinlich eher das Gespräch mit Lukas Bärfuss der Main Event.  
[13:00] Lorenz Ruesch
Stimmt, Bärfuss war Mainstage, zur Primetime. Kurz nach Mittag ist ja eigentlich an Openairs nicht viel los, aber da unterscheiden sich die Literaturtage wahrscheinlich von Musikfestivals.

Liveübertragung des Gesprächs beginnt. 

[13:00] Katharina Alder
Da sitzen sie... ganz brav.
[13:01] Dominik Fischer
Der Moderator Stefan Humbel scheint auch ein bisschen eingeschüchtert.

[13:01] Katharina Alder
Stefan Humbel startet das Gespräch mit einer Einleitung zu Tom Kummer, Christoph Höhtker und ihren neuesten Büchern. Schnarch.
[13:02] Dominik Fischer
Durch diese einschläfernden, lang hingezogenen Buchzusammenfassungen erfährt die Vorfreude erstmal einen Dämpfer. 
[13:01] Lorenz Ruesch
Ja, da les ich lieber das Buch.
[13:02] Katharina Alder
Ist aber auch sehr schwierig, dieses Buch sinnvoll zusammenzufassen.
[13:02] Dominik Fischer
Oh lame...... Wieso nicht grad mit dem Gespräch starten?
[13:02] Katharina Alder
Ich finde, dieser Café litteraire-Stil wird dem Buch nicht gerecht. – Ok, jetzt Kummer.
[13:04] Dominik Fischer
Ich hoffe, dass Kummer und Höhtker diesen Buchclub-Stil gleich ausm Fenster werfen. Die sitzen schon ganz missmutig da.
[13:05] Lorenz Ruesch
Das stimmt. Bald sind fünf Minuten vergangen, ohne dass einer der Autoren ein Wort gesagt hat. Erinnert mich an die uferlosen Vorstellungen von Professor*innen an Gastvorlesungen, das ist auch so ein Phänomen.

[13:06] Dominik Fischer
«Der Roman spielt mit Nähe und Distanz.» Können wir bitte die Plattitüden des Moderators beiseite lassen und die Stars zu Wort kommen lassen?!
[13:06] Katharina Alder
Christoph Höhtker sieht aus wie der Götti meines Sohnes. Schon mal sympathisch.
[13:06] Dominik Fischer
Du bist offensichtlich parteiisch. ;)
[13:07] Katharina Alder
Oh, Seitenhieb. Tom Kummer gefällt Höhtkers Buch «aus ganz anderen Gründen als du [Stefan] gesagt hast.» Autsch.
[13:07] Lorenz Ruesch
«Wer von euch hat von wem abgeschrieben?». Keine schlechte Einstiegsfrage.
[13:07] Katharina Alder
Ja, aber die Bücher sind extrem unterschiedlich. Bei dieser Frage geht es natürlich auch um den «Stil» von Kummer, der ja der Plagiatskönig war...
[13:07] Dominik Fischer
Ja, Kummer grätscht grad mal schön in den Aufbau des Moderators und switcht grad zu Burroughs und psychedelischer Literatur. - Gangster!
[13:08] Katharina Alder
Mega Gangster.
[13:10] Katharina Alder
Kummer hat Höhtkers Buch erst grad gelesen, Höhtker Kummer heute Morgen noch husch gelesen.
[13:10] Dominik Fischer
Die beiden sind top vorbereitet.
[13:09] Katharina Alder
Kummer sieht am Schluss einen Funken Hoffnung. Bei Höhtker nicht, da wird Marc Troisier zu Wurst verarbeitet...
[13:09] Lorenz Ruesch
Gerade der Schluss von Kummers Buch hat mich nicht sehr überzeugt.
[13:10] Dominik Fischer
Jetzt kommentiert Kummer sein Verhältnis zur Schweiz: «Ich will mit der Schweiz nichts zu tun haben, sie irritiert mich, deshalb habe ich meinen Roman in der Nacht angesiedelt.» Spannend!
Schade, dass Humbel immer wieder versucht, Zusammenhänge zwischen Kummers und Hötkers Buch herzustellen. ​
[13:12] Katharina Alder
Mir ist das zu wenig. Der Moderator nimmt extrem den Wind aus der Sache raus.
Jetzt kommen die Drogen.

[13:15] Dominik Fischer
Kummer nimmt die Drogen direkt mit ins Studio.
[13:15] Lorenz Ruesch
... und platziert seine Schmerztabletten neben seinem Weinglas?
[13:16] Dominik Fischer
Kummer und Höhtker sind sich einig in der Kritik an der Benzos-Epidemie und der US-amerikanischen Drogenpolitik.
[13:17] Lorenz Ruesch
Ein Thema, das immer häufiger auftaucht in neueren Büchern... auch in Schertenleibs «Palast der Stille» am Rand zum Beispiel.
[13:20] Lorenz Ruesch
«Das sollte eigentlich gar kein konsumierbarer Roman werden.» Starke Aussage von Höhtker!
Da weiss Humbel gar nicht mehr was fragen.
[13:20] Katharina Alder
Ich bin ja so froh, dass Höhtker das sagt. Ich bin nach 20 Seiten durchgedreht und musste nochmals anfangen. Der Roman ist in der Tat nicht konsumierbar. Aber eben, wenn man keinen Druck hat, irgendwas verstehen zu müssen oder den Durchblick zu haben, ist er ziemlich geil! 
[13:22] Dominik Fischer
Cool zu sehen, wie stark sich Kummer auf Höhtkers Buch bezieht und sich in Lob ergeht. Humbel schwadroniert, Kummer und Höhtker holen mit ihrem lässigen Witz des Gespräch auf dem Boden zurück.​ Kummer übernimmt auch ein bisschen die Moderation und stellt die wirklich spannenden Fragen an Höhtker.
[13:23] Lorenz Ruesch
Ja, sie wirken wirklich angenehm relaxt und unaffektiert.
[13:26] Katharina Alder
Kummer interviewt Höhtker zu seinem neuen Buch Schlachthof und Ordnung!
[13:26] Dominik Fischer
Die beiden sind so auf einer Wellenlänge, dass es gar keine Moderation brauchen würde. 
[13:29] Katharina Alder
Höhtker nennt Toms Buch einen «dunklen Schweizer Heimatroman»!!! Treffende Analyse.

[13:29] Dominik Fischer
Kummer sieht wieder literarisches Potential in der Schweiz und findet sie auch als Wohnort wieder erträglich. 
[13:29] Katharina Alder
Genau, das langweilige Schweiz-Idyll: Immer alles rein und sauber. Die Schweiz würde mehr von Kummers Visionen vertragen: urban, düster, melancholisch. – Aber warum unterbricht jetzt der Humbel mit einem neuen Thema? Das wär doch jetzt spannend gewesen, die Schweiz als Kulisse... So kommt man null in die Tiefe.
[13:31] Lorenz Ruesch
Kummer bringt's wieder zurück auf die Mobilität und erzählt davon, wie seine Figur mit edlen Diplomatenkarren durch die nächtliche Schweiz cruisen. ​Den Innenraum dieser Luxusautos bezeichnet er als geisterhafte Zwischenwelt, die Diplomatenautos als «untouchables».
[13:32] Dominik Fischer
Spannend, die Luxusautos der Diplomatenklasse bieten sich als literarischer Zwischenort an. Dabei «fahren der Suizid und der Fährmann Charon aus der Unterwelt auch immer mit», kommentiert Kummer.
[13:33] Katharina Alder
Oh! Beides Nachttaxi-Fahrer...!!!
[13:33] Lorenz Ruesch
Das ist ja eine unerwartete biographische Verbindung: Höhtker als Nachttaxifahrer kann sich selbst sehr gut in die Erzählsituation in Kummers Buch hineinversetzen, erzählt er. Die Einsamkeit, die Kummer bei seinen nächtlichen Autofahrten durch die Schweiz schildert, hat Höhtker selbst erlebt.
[13:40] Lorenz Ruesch
Humbel sieht das Schreiben irgendwie mystischer als die Autoren selber. Will es ständig künstlich überhöhen. «Hat sich da bei Ihnen was reingeschlichen» etc. Kummer und Höhtker so: «Bö. Einfach mal machen, ist lustig.» Irgendwann kann diese laid-back-Attitüde auch ein bisschen viel werden, nicht? Verkauft sich Höhtker da nicht bewusst unter seinem Wert? Aber er ist mir trotzdem sehr sympathisch.
[13:43] Kathrin Alder
«Das Trauma des Nichtverstehens in seinen Büchern weiterverarbeiten.» Ich fühl mich ganz zu Hause bei Höhtker.
[13:45] Dominik Fischer
Flucht innerhalb des eigenen Landes wird zum Thema, die trostlosen Orte der Schweiz mythisch aufzuladen, das ist es, was Kummer versucht und ihm mit seinem «fantastischen Realismus» gelingt. Die Schweiz anders anzusehen, das ist vielleicht das Mittel, was Kummer braucht, um sich mit der Schweiz wieder anzufreunden.
[13:45] Lorenz Ruesch
Der harte Boden Schweiz vs. die Traumwelt Hollywoods.
[13:48] Kathrin Alder
Nun geht es um den Schreibprozess. Das Schriftsteller-Idyll an der Schreibmaschine. Macht die Ablenkung die Autor*innen zu schlechteren Schriftsteller*innen?
Oh, Dissonanz... Tom Kummer muss sich zwingen zu schreiben und quält sich. Schreiben als Kampf oder Spass?
[13:47] Lorenz Ruesch
Er muss sich «durch schlechte Sätze quälen», kommentiert Kummer. Erfrischend ehrlich, alle beide.
[13:47] Katharina Alder
Ich finde, diese beiden Ansätze widerspiegeln sich in ihren Büchern.
​[13:49] Dominik Fischer
Kummer sehnt sich jedenfalls zurück an seine Olivetti. 
[13:49] Lorenz Ruesch
Ich glaube nicht, dass Schlachthof und Ordnung von Hand oder auf Schreibmaschine geschrieben hätte werden können.
[13:50] Dominik Fischer
Höhtker ist da sehr schlicht, spielt das runter, das klingt so als ob der die Bücher am Computer einfach runter tippt. 
[13:50] Kathrin Alder
Aber ich kann mir gut vorstellen, dass er das auch macht. Die Texte klingen schon so. Der hat eine lustige Idee und haut sie rein.
[13:52] Dominik Fischer
Promptes Ende. Da hätte man (wie so oft an diesen knapp bemessenen Veranstaltungen an den SLT) noch länger zuhören können. Stark war das Gespräch v.a. dort, wo Kummer und Höhtker in den Dialog traten und Humbel ein wenig im Hintergrund trat. Beachtlich auch Kummers Interview-Fähigkeiten mit seinen spannenden Fragen an Höhkter und Höhtkers unglaubliche Gelassenheit.

«Ich spreche eigentlich nicht gern über Bücher»

Geprellte, vom Leben gezeichnete Figuren und eine einzigartige, authentische Sprache. Das haben «Glück» und «Auf der Strecki», die beiden neuen Texte von Dragica Rajčić Holzner und Roland Reichen, gemeinsam. Beide sind ausserdem im Verlag «Der gesunde Menschenversand» in der «Edition Spoken Script» erschienen. Ihre besondere Sprache ist eine Mischung aus Dialekt und Hochsprache, ein «Zwitterwesen», das es so bei uns im Alltag gar nicht gibt. Doch wie kommen die beiden dazu?

«Ich spreche eigentlich nicht gern über Bücher», meint Rajčić gleich zu Beginn. Daher hat Moderator Stefan Humbel auch gleich schon ein «Fressäckli» mit Trumpf-Wörtern mit dabei. Die darin enthaltenen Schokoeier und Stichwörter werden dann aber letztendlich fast nicht gebraucht, denn trotz dieser Ankündigung fehlen, wie man bald merkt, weder Rajčić noch Reichen die Worte zu ihren Werken. Tatsächlich ist Rajčić‘ Aussage umso spannender, wenn man bedenkt, dass die Vorlage für ihren jetzigen Text ein Theaterstück war, das 2018 in Basel uraufgeführt wurde. Also ist «Glück» auf gewisse Weise bereits in der Vorstellung entstanden, einmal laut vorgelesen oder ausgesprochen zu werden. Wogegen sich Rajčić selber jedoch vehement sträubt: Die Stimme habe für sie eine grössere Wahrheit als das geschriebene Wort. Sie wolle das auseinanderhalten. Ja, bei einem Text, der von der Misshandlung und dem Missbrauch von Frauen handelt, ist das verständlich. Denn, wenn man diese Dinge laut ausspricht, könnten sie ja real sein. Indem man sie artikuliert, könnten sie tatsächlich wahr sein. Und das wäre verstörend, nicht?

Doch zurück zur Kunstsprache.

Als Nicht-Muttersprachlerin sehe sie in vielen Wörtern oft Bedeutungen, auf die Muttersprachler gar nicht mehr kommen würden, meint Rajčić. So wird bei ihr ein Blatt zum Beispiel nicht ausgefüllt, sondern «ausgefühlt». Reichen hingegen ist vom nahen Umfeld zu seinem Wortreichtum inspiriert. Er hört den Menschen zu und schöpft aus diesen Gesprächen für sein Schreiben. Jedoch sind sich beide einig: Diese einzigartige, ‚dialektal‘ gefärbte Sprache ist trotz ihres Bezugs zum Mündlichen, Alltäglichen nicht unbedingt authentischer als unser gebürtiges Hochdeutsch. Vielmehr ist diese Sprache authentisch gemacht und die Frage, die sich das Duo samt Moderator Stefan Humbel im Gespräch schliesslich stellt, lautet: Ist eine solche Kunstsprache besser geeignet für den Ausdruck von individuellem Schmerz und Leiden als eine puristische, deutsche Sprache? Und inwiefern läuft eine Kunstsprache weniger Gefahr, nivelliert zu werden als purer Schweizer Dialekt oder pures Hochdeutsch?

Vielleicht liegt ihr Reiz ja darin, dass sie uns irritiert beim Lesen. Und dass wir so auch genauer hinhören und hinschauen, worüber geschrieben wird.

Viele Hände und viel Politik

Das Radio läuft noch bei einer Teilnehmerin der Zoomsitzung, aber Moderator Donat Blum begrüsst unbeirrt und herzlich das eintrudelnde Publikum. Ich bin beim Skriptor Lyrik, wo unveröffentlichte Gedichte von Ruth Loosli im Kreise anderer Autor*innen besprochen werden. Dazu gehören Nora Gomringer, Flurina Badel, Johanna Lier, Daniela Huwyler und Milena Keller.

Die Texte sieht man als Teilnehmer*in im Chat, so kann man auch mitlesen, wenn Ruth Loosli ihre Gedichte vorliest. Und vor allem kommen so die formalästhetischen Eigenheiten der Texte zum Vorschein, die bei Looslis Text zum Tragen kommen, so die typographischen Spielereien mit fetter Schrift oder verschobenen Zeilen.

Die Leseeindrücke der anderen Autorinnen steuern schnell in eine gemeinsame Richtung: Viele Hände und viel Politik. Und weglassen könnte man einiges. Nein, nicht weglassen, meint Flurina Badel, oder vielleicht doch, aber dann für ein neues Gedicht verwenden. Einig sind sich alle darüber, dass die Texte von einer Autorin zeugen, die aus einem grossen Fundus schöpft. Nora Gomringer lobt Ruth Loosli für ihre politische Haltung. Sie teile diese mit ästhetischen Mitteln unmissverständlich mit, und das sei sehr mutig. Dem pflichtet auch Flurina Badel bei. Die Gedichte gehen auf spezielle Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik um: Immer wieder findet ein Perspektivenwechsel statt, manchmal ist das lyrische Ich sogar selbst im Boot.

Gedicht Nummer 5 hat es besonders vielen angetan. In diesem Gedicht geht es nicht um Flüchtlinge, sondern um eine Hand, die einen Tumor skizziert. Es heisst Notiz auf dem Tisch. Das sei doch eigentlich genau das, was auch die Lyrik mache, wirft jemand ein. Hier werde die magische Bannkraft des Notierens angesprochen. Das wollen wir doch alle: Das Bedrohliche in Schrift und Bild bannen.