Lyrik gegen den steifen Nacken

Lydia Dimitrow lädt uns zu einer Verabredung besonderer Art ein, dem Lyrik Speeddating. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um den schnellen Austausch zwischen den Teilnehmer*innen. Hierbei werden natürlich keine persönlichen Informationen ausgetauscht, sondern Lyrik. Ein Gedicht soll aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt werden und dies recht zügig. Lydia, die selbst beruflich Gedichte aus dem Französischen und Englischen übersetzt, gibt uns einige Hinweise. Form und Inhalt seien nicht zu trennen, meint sie. Dabei bezieht sie sich auf Rüdiger Zymner und seinen Begriff des Attraktors. Wo die Wissenschaft rhetorische Stilmittel in Texten als Störung betrachtet, sieht Zymner fesselnde Auffälligkeiten. Diesen gilt es nun bem Übersetzen zu beachten. Wir legen los. 

Das französische Gedicht, das wir übersetzen, sieht so aus:

Et pourtant et pourtant 

la lumière sans discontinuer

passe et repasse ses plumes

sur nos nuques raidies

José-Flore Tappy: Terre battue suivi de Lunaires. Editions Empreintes, 2008

Zuerst versuchen wir eine «Lesewelle» zu machen. Das heisst, alle Teilnehmer*innen sollen der Reihe nach das französische Gedicht lesen. Eine Welle wird zwar nicht draus, aber am Schluss haben es alle einmal gelesen. Jetzt bekommen wir fünf Minuten, um es zu übersetzen. 

Wir übersetzen es so: 

Und trotzdem und trotzdem

streift das Licht unablässig

seine Federn wieder und wieder

über unsere steifen Nacken

(Mara)

Und doch

streift das Licht

immer wieder und wieder seine Federn

über unsere steifen Nacken

(Selina)

Nachdem wir alle unsere Gedichte vorgetragen haben, kriegen wir noch etwas Überarbeitungszeit. In einem zweiten Anlauf verwandeln sich unsere Texte. Das Licht wird zur Erkenntnis und das etwas melancholisch klingende «und doch» wird zum aufmunternden «Doch, doch!» 

Und trotzdem und trotzdem

Streift die Erkenntnis unablässig

ihre Federn wieder und wieder

Über unsere steifen Nacken

(Mara)

Doch, doch!

Das Licht streicht

wieder und wieder sein Gefieder

über unsern steifen Hals

(Selina)

Randnotiz: Es ist jetzt schwer, unsere Gedichte hier beim Schreiben nicht nochmals etwas zu überarbeiten. Aber wir tun’s nicht. Die sind echt, wir schwören. 

Wir lesen in einer Abfolge, die schon eher an eine Welle erinnert als am Anfang, unsere zweiten Versionen vor. Trotz anfänglicher technischer Schwierigkeiten kommen zum Schluss die verschiedensten Übersetzungen zusammen. Die Teilnehmer*innen stützen sich beim zweiten Versuch auf die Vorschläge der anderen und passen einige Sachen an. Trotzdem ist keine Übersetzung gleich wie die nächste. Diese Übung hat aufgezeigt, wie man als Übersetzer*in nicht nur mechanisch übersetzt, sondern ein Gedicht immer transponiert und so auch etwas Neues schafft. 

Text: Selina Widmer und Mara Baccaro