Zürich – Philadelphia

Ursula Rucker und Jurczok 1001 verstehen sich persönlich, sprachlich und rhythmisch, dieselbe Leidenschaft für die Dichtkunst und ihr «brand new baby» Spoken Word treibt sie um. Gleich zu Beginn des Gesprächs wird klar, bei den beiden stimmt die Chemie. Was Rucker als kosmische Anziehung bezeichnet, versucht Jurczok zu benennen. Ein Kampf, den sie gemeinsam austragen, ist der um die Anerkennung ihrer Kunstform.

Unter dem bezeichnenden Titel «Spoken Word Artist? No!! I am a poet» sprechen die Künstlerin und der Künstler über die Entwicklung des Spoken Word seit ihrem ersten Treffen im Zürcher Club Moods im Jahr 2007. Dabei legen sie die Ausschlussmechanismen und den Kulturelitismus des Literaturbetriebs offen: Ohne ein Buch herausgegeben zu haben, zähle die Arbeit nicht, eingeladen wird man erst recht nicht. Damals, vor Social Media, gab es noch kein Produkt, das man als Spoken Word Künstler*in vorlegen konnte. Fördermittel blieben aus, die für die Zuschauer*innen gerade attraktive Performativität der Kunstform wurde zum Hindernis. Doch die Situation habe sich gebessert, so Jurczok, nun wird auch ihnen an den Literaturfestivals eine Plattform gegeben. 

Die Bezeichnung als Spoken Word Artist findet Ursula Rucker aber einschränkend. Sie will sich keiner Genredefinition unterwerfen. Ihre grenzensprengende Praxis stellen Jurczok 1001 und Ursula Rucker auch im angepassten virtuellen Rahmen unter Beweis. In Form eines Poetry Exchange „Zürich – Philadelphia“ senden sie sich Haikus zu und haben das Ganze im Logbuch der Literaturtage festgehalten. Im Gespräch lesen sie diese nun vor, nehmen die Worte mit einer ansteckenden Begeisterung auseinander. Jurczok gibt den Zuschauer*innen zum Ende eine Kostprobe seiner von Rap und Beatboxing inspirierten Spoken Beats. Spontan greift sich Ursula Rucker in Philadelphia einen Egg Shaker und steigt mit ein. Bittersüss war das Treffen, wie Rucker sagt. Wunderbar war es, sich an den Literaturtagen über ihre Kunst zu unterhalten, sie könne es jedoch kaum erwarten, bald wieder miteinander zu performen.

Lyrik gegen den steifen Nacken

Lydia Dimitrow lädt uns zu einer Verabredung besonderer Art ein, dem Lyrik Speeddating. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um den schnellen Austausch zwischen den Teilnehmer*innen. Hierbei werden natürlich keine persönlichen Informationen ausgetauscht, sondern Lyrik. Ein Gedicht soll aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt werden und dies recht zügig. Lydia, die selbst beruflich Gedichte aus dem Französischen und Englischen übersetzt, gibt uns einige Hinweise. Form und Inhalt seien nicht zu trennen, meint sie. Dabei bezieht sie sich auf Rüdiger Zymner und seinen Begriff des Attraktors. Wo die Wissenschaft rhetorische Stilmittel in Texten als Störung betrachtet, sieht Zymner fesselnde Auffälligkeiten. Diesen gilt es nun bem Übersetzen zu beachten. Wir legen los. 

Das französische Gedicht, das wir übersetzen, sieht so aus:

Et pourtant et pourtant 

la lumière sans discontinuer

passe et repasse ses plumes

sur nos nuques raidies

José-Flore Tappy: Terre battue suivi de Lunaires. Editions Empreintes, 2008

Zuerst versuchen wir eine «Lesewelle» zu machen. Das heisst, alle Teilnehmer*innen sollen der Reihe nach das französische Gedicht lesen. Eine Welle wird zwar nicht draus, aber am Schluss haben es alle einmal gelesen. Jetzt bekommen wir fünf Minuten, um es zu übersetzen. 

Wir übersetzen es so: 

Und trotzdem und trotzdem

streift das Licht unablässig

seine Federn wieder und wieder

über unsere steifen Nacken

(Mara)

Und doch

streift das Licht

immer wieder und wieder seine Federn

über unsere steifen Nacken

(Selina)

Nachdem wir alle unsere Gedichte vorgetragen haben, kriegen wir noch etwas Überarbeitungszeit. In einem zweiten Anlauf verwandeln sich unsere Texte. Das Licht wird zur Erkenntnis und das etwas melancholisch klingende «und doch» wird zum aufmunternden «Doch, doch!» 

Und trotzdem und trotzdem

Streift die Erkenntnis unablässig

ihre Federn wieder und wieder

Über unsere steifen Nacken

(Mara)

Doch, doch!

Das Licht streicht

wieder und wieder sein Gefieder

über unsern steifen Hals

(Selina)

Randnotiz: Es ist jetzt schwer, unsere Gedichte hier beim Schreiben nicht nochmals etwas zu überarbeiten. Aber wir tun’s nicht. Die sind echt, wir schwören. 

Wir lesen in einer Abfolge, die schon eher an eine Welle erinnert als am Anfang, unsere zweiten Versionen vor. Trotz anfänglicher technischer Schwierigkeiten kommen zum Schluss die verschiedensten Übersetzungen zusammen. Die Teilnehmer*innen stützen sich beim zweiten Versuch auf die Vorschläge der anderen und passen einige Sachen an. Trotzdem ist keine Übersetzung gleich wie die nächste. Diese Übung hat aufgezeigt, wie man als Übersetzer*in nicht nur mechanisch übersetzt, sondern ein Gedicht immer transponiert und so auch etwas Neues schafft. 

Text: Selina Widmer und Mara Baccaro

Viele Hände und viel Politik

Das Radio läuft noch bei einer Teilnehmerin der Zoomsitzung, aber Moderator Donat Blum begrüsst unbeirrt und herzlich das eintrudelnde Publikum. Ich bin beim Skriptor Lyrik, wo unveröffentlichte Gedichte von Ruth Loosli im Kreise anderer Autor*innen besprochen werden. Dazu gehören Nora Gomringer, Flurina Badel, Johanna Lier, Daniela Huwyler und Milena Keller.

Die Texte sieht man als Teilnehmer*in im Chat, so kann man auch mitlesen, wenn Ruth Loosli ihre Gedichte vorliest. Und vor allem kommen so die formalästhetischen Eigenheiten der Texte zum Vorschein, die bei Looslis Text zum Tragen kommen, so die typographischen Spielereien mit fetter Schrift oder verschobenen Zeilen.

Die Leseeindrücke der anderen Autorinnen steuern schnell in eine gemeinsame Richtung: Viele Hände und viel Politik. Und weglassen könnte man einiges. Nein, nicht weglassen, meint Flurina Badel, oder vielleicht doch, aber dann für ein neues Gedicht verwenden. Einig sind sich alle darüber, dass die Texte von einer Autorin zeugen, die aus einem grossen Fundus schöpft. Nora Gomringer lobt Ruth Loosli für ihre politische Haltung. Sie teile diese mit ästhetischen Mitteln unmissverständlich mit, und das sei sehr mutig. Dem pflichtet auch Flurina Badel bei. Die Gedichte gehen auf spezielle Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik um: Immer wieder findet ein Perspektivenwechsel statt, manchmal ist das lyrische Ich sogar selbst im Boot.

Gedicht Nummer 5 hat es besonders vielen angetan. In diesem Gedicht geht es nicht um Flüchtlinge, sondern um eine Hand, die einen Tumor skizziert. Es heisst Notiz auf dem Tisch. Das sei doch eigentlich genau das, was auch die Lyrik mache, wirft jemand ein. Hier werde die magische Bannkraft des Notierens angesprochen. Das wollen wir doch alle: Das Bedrohliche in Schrift und Bild bannen.

Lyrische Bildwelten

Vom lyrischen Illustrationsbattle zum lyrischen Illustrationsduett. Eine kurzfristige Namensänderung, die auf jeden Fall Sinn macht. Denn ohne lautstarkes Publikum kein richtiges Battle. Als stiller Beobachter, ohne Stress, seine Bewunderung ausdrücken zu müssen, wird die Veranstaltung zu einer komplett neuen Erfahrung.

In 6 Runden lassen die Illustrator*innen vom Bolo Klub – Vera Eggermann, Edi Ettlin, Fruzsina Korondi, Meret Landolt, Eva Rust und Martina Walther – ihrer Kreativität freien Lauf. Gedichte werden illustriert und in kreative Bildwelten verwandelt. Der Bolo Klub ist ein Förderungsprojekt für eine neue Generation von Bilderbuchmacher*innen in der Schweiz. Die Kinderbuchautorin und Lektorin Katja Alves führt durch den Abend.

Die drei anwesenden Autorinnen Johanna Lier, Simone Lappert und Ruth Loosli tragen je zwei Gedichte vor, die gleichzeitig von jeweils zwei Illustrator*innen auf dem Blatt zum Leben erweckt werden.

Das Publikum, das bei einem Battle normalerweise den lautesten Akteur darstellt, ist virtuell nun gar nicht mehr bemerkbar. Es ist still. Zu still. Die Gedanken schweifen ab, während man die Entstehung von kleinen Kunstwerken beobachten darf. Eine Stille, die immer mal wieder durch die Stimme einer Autorin unterbrochen wird, die ihr Gedicht erneut vorträgt und so den gestalterischen Akt akustisch unterstreicht.

Ein inspirierendes, entspannendes und die Sinne erweckendes Zusammenspiel von Bild und Ton. Unglaublich, wie viele tolle Illustrationen in nur 40 Minuten dabei entstanden sind.

Unser Team in Solothurn:
Selina Widmer

Wieder mal in Solothurn. Oder eben nicht wirklich, aber doch ein bisschen. Selina freut sich sehr auf das literarische Online-Treiben als Abwechslung zum Sport in der Küche. Die Sehnsucht nach dem Fremden ist ihr nicht fremd, deshalb möchte sie wissen, was Literatur und Wissenschaft beim Podium dazu zu sagen haben. Ausserdem will sie dem störrischen Eigensinn von Kunstsprachen auf den Grund gehen und beim Gläsernen Übersetzer einer Übersetzerin über die Schulter schauen. Und etwas Lyrik wird wohl auch noch drinliegen.

Selina studiert Deutsche Literaturwissenschaft und Deutsche Literatur: TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.