Sind Autor*innen bessere Menschen?

Die Frage stellt sich schon bei der Anreise: Ist es im Moment moralisch vertretbar, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen statt mit dem Fahrrad, wie im Falle von Lukas Bärfuss, 110 Kilometer nach Solothurn zu radeln? Na ja, wer Geld habe, könne sich die Fahrt in der ersten Klasse jedenfalls leisten, meint Sandra Künzi. Nora Gomringer musste sich die Gretchenfrage nicht stellen, denn sie ist an diesem Abend live von Frankfurt aus per Video zugeschaltet.

Doch das Thema des Abends ist ja eigentlich Moral und Literatur. Moderator Lucas Marco Gisi stellt gleich zu Beginn die Hauptfrage: Ist Literatur verpflichtet, sich an moralische Gesetzmässigkeiten zu halten und diese zu reflektieren? Nein, findet Künzi sogleich, Autor*innen seien nicht bessere Menschen. Von der schöngeistigen, nicht besonders machtvollen Literatur verlange man immer, dass sie moralisch sei. Dabei sollte ihrer Meinung nach Politik und Wirtschaft diesen Anspruch haben.

Damit ist Bärfuss nicht ganz einverstanden. «Sprache ist immer moralisch», findet er, schliesslich müsse man über seinen Wortschatz stets bestimmen. Und da gibt Bärfuss, ganz Systematiker, auch schon den Anstoss zu einer Begriffsdiskussion, denn was bedeute «Moral» überhaupt? Seien damit universelle Werte gemeint, oder habe das Ganze womöglich, wie Gomringer aus Frankfurt anmerkt, auch mit dem/r Adressat*in zu tun? Sobald man ein Gegenüber habe, das man überzeugen und verführen will, richte man sich dann nicht nach einer bestimmten Moral oder Sittlichkeit?

Bärfuss jedenfalls glaubt an die Macht der Sprache. Es sei schliesslich wissenschaftlich bewiesen, dass die Artikulation eines Wortes im Kopf ein Aktionspotential freisetze und damit auf eine Tat vorbereite. In anderen Worten: Dächten wir «Hammer», spannten sich unsere Muskeln und wölbe sich unsere Hand schon um den imaginären Griff, um etwas damit niederzumähen. Auch Nora Gomringer ist von der Macht der Literatur überzeugt, ihre Leser*innen zu einer moralischen Reflexion ihres Handelns zu bewegen. Ein möglicher Beweis: In Gebieten, die sich in Richtung Diktatur neigten, würden die Dichter als allererstes ruhig gestellt. Es fällt das Stichwort Ungarn.

Fazit: Sollte man also in der momentanen Situation nicht am besten Autor*innen ins Bundeshaus Bern einladen? Schliesslich sind sie die eigentlichen Profis im Modellieren von (moralischen) Szenarien.

«Ich spreche eigentlich nicht gern über Bücher»

Geprellte, vom Leben gezeichnete Figuren und eine einzigartige, authentische Sprache. Das haben «Glück» und «Auf der Strecki», die beiden neuen Texte von Dragica Rajčić Holzner und Roland Reichen, gemeinsam. Beide sind ausserdem im Verlag «Der gesunde Menschenversand» in der «Edition Spoken Script» erschienen. Ihre besondere Sprache ist eine Mischung aus Dialekt und Hochsprache, ein «Zwitterwesen», das es so bei uns im Alltag gar nicht gibt. Doch wie kommen die beiden dazu?

«Ich spreche eigentlich nicht gern über Bücher», meint Rajčić gleich zu Beginn. Daher hat Moderator Stefan Humbel auch gleich schon ein «Fressäckli» mit Trumpf-Wörtern mit dabei. Die darin enthaltenen Schokoeier und Stichwörter werden dann aber letztendlich fast nicht gebraucht, denn trotz dieser Ankündigung fehlen, wie man bald merkt, weder Rajčić noch Reichen die Worte zu ihren Werken. Tatsächlich ist Rajčić‘ Aussage umso spannender, wenn man bedenkt, dass die Vorlage für ihren jetzigen Text ein Theaterstück war, das 2018 in Basel uraufgeführt wurde. Also ist «Glück» auf gewisse Weise bereits in der Vorstellung entstanden, einmal laut vorgelesen oder ausgesprochen zu werden. Wogegen sich Rajčić selber jedoch vehement sträubt: Die Stimme habe für sie eine grössere Wahrheit als das geschriebene Wort. Sie wolle das auseinanderhalten. Ja, bei einem Text, der von der Misshandlung und dem Missbrauch von Frauen handelt, ist das verständlich. Denn, wenn man diese Dinge laut ausspricht, könnten sie ja real sein. Indem man sie artikuliert, könnten sie tatsächlich wahr sein. Und das wäre verstörend, nicht?

Doch zurück zur Kunstsprache.

Als Nicht-Muttersprachlerin sehe sie in vielen Wörtern oft Bedeutungen, auf die Muttersprachler gar nicht mehr kommen würden, meint Rajčić. So wird bei ihr ein Blatt zum Beispiel nicht ausgefüllt, sondern «ausgefühlt». Reichen hingegen ist vom nahen Umfeld zu seinem Wortreichtum inspiriert. Er hört den Menschen zu und schöpft aus diesen Gesprächen für sein Schreiben. Jedoch sind sich beide einig: Diese einzigartige, ‚dialektal‘ gefärbte Sprache ist trotz ihres Bezugs zum Mündlichen, Alltäglichen nicht unbedingt authentischer als unser gebürtiges Hochdeutsch. Vielmehr ist diese Sprache authentisch gemacht und die Frage, die sich das Duo samt Moderator Stefan Humbel im Gespräch schliesslich stellt, lautet: Ist eine solche Kunstsprache besser geeignet für den Ausdruck von individuellem Schmerz und Leiden als eine puristische, deutsche Sprache? Und inwiefern läuft eine Kunstsprache weniger Gefahr, nivelliert zu werden als purer Schweizer Dialekt oder pures Hochdeutsch?

Vielleicht liegt ihr Reiz ja darin, dass sie uns irritiert beim Lesen. Und dass wir so auch genauer hinhören und hinschauen, worüber geschrieben wird.

Unser Team in Solothurn:
Marina Zwimpfer

Bald ist es real: Solothurn geht viral. Mit ein paar Klicks hackt sich Marina Zwimpfer dann in die altehrwürdige Säulenhalle, belauscht das Podium zu Literatur und Moral und grübelt über den Eigensinn von Kunstsprachen nach. Gespannt ist sie auf die Fragerunde für Autor*innen – und auf die Disco, die in dieser virtual reality natürlich nicht fehlen darf.

Marina Zwimpfer studiert Germanistik und Anglistik an der Universität Zürich und parallel dazu Musik mit Hauptfach Oboe an der Hochschule Luzern.