Viele Hände und viel Politik

Das Radio läuft noch bei einer Teilnehmerin der Zoomsitzung, aber Moderator Donat Blum begrüsst unbeirrt und herzlich das eintrudelnde Publikum. Ich bin beim Skriptor Lyrik, wo unveröffentlichte Gedichte von Ruth Loosli im Kreise anderer Autor*innen besprochen werden. Dazu gehören Nora Gomringer, Flurina Badel, Johanna Lier, Daniela Huwyler und Milena Keller.

Die Texte sieht man als Teilnehmer*in im Chat, so kann man auch mitlesen, wenn Ruth Loosli ihre Gedichte vorliest. Und vor allem kommen so die formalästhetischen Eigenheiten der Texte zum Vorschein, die bei Looslis Text zum Tragen kommen, so die typographischen Spielereien mit fetter Schrift oder verschobenen Zeilen.

Die Leseeindrücke der anderen Autorinnen steuern schnell in eine gemeinsame Richtung: Viele Hände und viel Politik. Und weglassen könnte man einiges. Nein, nicht weglassen, meint Flurina Badel, oder vielleicht doch, aber dann für ein neues Gedicht verwenden. Einig sind sich alle darüber, dass die Texte von einer Autorin zeugen, die aus einem grossen Fundus schöpft. Nora Gomringer lobt Ruth Loosli für ihre politische Haltung. Sie teile diese mit ästhetischen Mitteln unmissverständlich mit, und das sei sehr mutig. Dem pflichtet auch Flurina Badel bei. Die Gedichte gehen auf spezielle Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik um: Immer wieder findet ein Perspektivenwechsel statt, manchmal ist das lyrische Ich sogar selbst im Boot.

Gedicht Nummer 5 hat es besonders vielen angetan. In diesem Gedicht geht es nicht um Flüchtlinge, sondern um eine Hand, die einen Tumor skizziert. Es heisst Notiz auf dem Tisch. Das sei doch eigentlich genau das, was auch die Lyrik mache, wirft jemand ein. Hier werde die magische Bannkraft des Notierens angesprochen. Das wollen wir doch alle: Das Bedrohliche in Schrift und Bild bannen.

Satzfetzen loswerden

Auch nach einer kalten Dusche und einem starken Kaffee schweben in meinem Kopf immer noch Satzfetzen vom gestrigen Literaturtag umher. Das ist ein kläglicher Versuch, sie loszuwerden:

Der Konflikt wird auf der sprachlichen Ebene ausgetragen.

Ich weiss immer, was mit Prinz Harry los ist, aber nicht, wie’s meinem Bruder geht.

Therapie ist eine Frage des Milieus.

Les Jeveux et les Geaidequoi mangeaient des sangliers rôtis.

Wurstsalat wurde leider nicht gewählt.

Ich habe hier einen Fressack vorbereitet.

Ja, vielleicht erstmal die anderen aussteigen lassen, bitte?

Je vais vite voir s’il y a un dessert.

Gained in Translation

Patricia Klobusiczky gewährt uns beim Werkstattgespräch «Gläserner Übersetzer» Einblick in ihre Tätigkeit als Übersetzerin. Sie übersetzt live eine Passage aus dem Buch Quand le diable sortit de la salle de bains (Als der Teufel aus dem Badezimmer kam) von Sophie Divry vom Französischen ins Deutsche. 

Nach einer etwas lang geratenen Anmoderation von Ruth Gantert, in der es vor allem um technische Zoom-Angelegenheiten geht, legt Patricia Klobusiczky los. Sie weist darauf hin, dass der Verleger Mühe hatte, die Auslandsrechte für dieses Buch zu verkaufen, da es von vielen Lektor*innen als unübersetzbar abgestempelt wurde. Dem widerspricht sie jedoch. Unübersetzbarkeit ist ein Mythos, meint sie. Die Frage sei nur, wie sehr man selbst beim Übersetzen zur Schriftstellerin werden muss oder darf.

Patricia Klobusiczky wirft zielstrebig Synonyme in die Runde, übersetzt Satz für Satz. Sie gibt zu, dass sie mit ihrer Übersetzung zufrieden ist, es aber immer noch Dinge gibt, die besser sein könnten. Die Schwierigkeit dieses Buches sieht sie darin, dass die Autorin mit den unterschiedlichsten Schreibstilen experimentiert. Im Absatz, dem sich unsere gläserne Übersetzerin im Rahmen dieses Gesprächs widmet, hat sich Divry gekonnt im mittelalterlichen Feudalstil ausgedrückt. Gespannt folgen wir Klobusiczkys Überlegungen, diese Sprache so ins Deutsche zu übertragen, dass sie die Stilmittel beibehalten und gleichzeitig unnötige Gallizismen vermeiden kann. Dem Gebrauch zu vieler Fremdwörter hat sie aus persönlicher Überzeugung weitestgehend abgeschworen. Scheinbar mühelos meistert sie diese Aufgabe, wobei sie nur an wenigen Stellen bei der Wortwahl stolpert. 

Hier kommen dann sogleich die Teilnehmer*innen des Gesprächs zum Zuge, immer wieder werden Vorschläge aus dem Publikum laut. Welche Klobusiczky dankend annimmt. Der Junker reitet hoch zu Pferde umher, schreibt sie. Eine Teilnehmerin schlägt vor, dass er doch auf hohem Ross umherreiten könnte. Sie denke dabei an den französischen Ausdruck « monter sur ses grands chevaux ». Klobusiczky lacht. Genau, jetzt wird’s lustig. So müsse man denken, gerade bei diesem parodistischen Text. 

Dann steht sie bei dem Satz an: « Les Jeveux et les Geaidequoi mangeaient des sangliers rôtis en parlant de leurs voyages en Italie au futur, de leurs possessions foncières au présent, de leurs glorieux mariages au passé composé. » Wie sollte sie «passé composé» übersetzen? Sie entscheidet sich für «Perfekt», ist aber nicht sicher. Eine weitere Teilnehmerin meint, dass sie das Perfekt eine geniale Lösung fände, da es auf das «perfekte» Leben des Adels anspiele und den ironischen Unterton treffe. Stimmt, findet Klobusiczky. Es sei eben nicht so, dass man beim Übersetzen zwingend etwas verliere. Im Gegenteil. Gained in Translation! Auch Übersetzungen können etwas Neues und Unerwartetes leisten.

Mara Baccaro und Selina Widmer

Augenbrauen inspirieren

Den Abschluss eines geistreichen Tages in der Welt der Literatur verbringen wir in der Kneipe und lassen uns von der Jukebox Littéraire berieseln. Schade nur, dass unsere Textwünsche nicht ausgespuckt wurden. 

Das Konzept ist einfach. Das Publikum tippt ein Wort in die Tasten, die Regie wählt aus der Fülle aus, die Autor*innen werden zu einer Lesung inspiriert und suchen so schnell wie möglich einen passenden Text. Dabei sind heute die Initiantinnen des Formats Odile Cornuz und Antoinette Rychner sowie Tanasgol Sabbagh und René Frauchiger. Für den musikalischen Teil zwischen den Lesungen sorgt Adrien Gygax.

Ein ausgewähltes Wort ist die Augenbraue. Dazu haben gleich drei Autor*innen einen Text zu bieten. Augenbrauen inspirieren anscheinend. Auf die Texte folgt wieder ein Lied und auf das Lied wieder ein Wort und auf das Wort die nächsten Texte.

Für zwanzig Minuten ist dieses Format lustig. Danach wird es aber trotz Ukulele-Intermezzo und bunter Grafik etwas langatmig. Monika kommentiert noch rege weiter und wirft Begriffe in die Runde. Rar, Laktose, Lachgas. Aber wir sind dann irgendwann doch am Schluss angelangt. Wurstsalat wurde nicht gewählt, aber das macht nichts. 

Den vielen lachenden Gesichtern auf dem Bildschirm nach zu schliessen, hatten die Autor*innen und Moderatoren Spass. Wir übrigens auch. Und der Spass, das ist doch das wichtigste bei so einer Jukebox, oder?

Laura Barberio und Selina Widmer

Scheinwelt oder Schweinwelt

Herzlich willkommen in der Akropolis. Anscheinend ist der Raum, in dem Roland Reichen, Dragica Rajčić Holzner und der Moderator Stefan Humbel sitzen, ganz nach griechischem Vorbild dekoriert. Wir Zuschauer*innen sehen das Ausmass der Dekoration nicht wirklich, bis auf die Weingläser mit den hellblauen Stielen und die weissen Blumen auf den Bartischchen. Zum Glück, meint Dragica Raičić.

Es geht also los, Fischernetze hin oder her. Die neuesten Texte der beiden Autor*innen sind beim Verlag «Der gesunde Menschenversand» erschienen, der sich auf Spoken Word spezialisiert. Rajčićs Buch «Glück» erzählt über Gewalt an Frauen und lässt die gebrochene Sprache so erscheinen wie sie ist. Roh, ungeschliffen und unsorgfältig. «Ich mache das Gegenteil von Sorgfalt», sagt sie. Alles komme aus einer Dringlichkeit, einem Anspruch, das Leben im Eiltempo zu bewältigen. Vom Ausdruck des Spoken Word grenzt sie sich ab. Es müsse schlussendlich eine künstlerische Qualität vorliegen bei einem Text, der veröffentlicht wird. Ob der eher mündlich oder schriftlich daherkomme, sei ihr einerlei.

Reichens Buch lässt ebenfalls durch seine Figuren Menschen zu Wort kommen, die in unserer Welt keine Stimme haben. Schonungslos erzählt der Autor in zwölf «Bitzen» aus dem Leben von Menschen, die, wie der Titel verrät, «auf der Strecke» geblieben sind. Für ihn macht die Unterscheidung zwischen Mündlichem und Schriftlichem Sinn. Denn beim Schreiben seien für ihn Stimmen sehr wichtig. Wenn er schreibt, hat er eine Stimme im Ohr. Er stellt sich vor, wie es klingen sollte. Und manchmal liest er sich die Texte selber laut vor.

Rajčić liest ihre Texte nie laut. Eine Stimme habe immer mehr Wahrheitsgehalt als ein geschriebener Text. Es entflammt eine Diskussion über die lange christliche Tradition, in der das gesprochene Wort mehr Wichtigkeit hat als das geschriebene. Wir – damit meint Rajčić uns – sollten besser Mittag essen gehen, anstatt ihren Ausführungen zuzuhören. Ich finde nicht, es wird interessant. Vor allem sie scheint eine unangepasste Person zu sein, deren Meinung ich hören will.

Stefan Humbel will auch noch nicht Mittag essen gehen und versucht immer wieder, das Gespräch auf das Thema der Kunstsprache zu lenken. Die Schrift, gerade bei Rajčić, halte oft mehr Möglichkeiten offen als das Gesprochene. Man könne etwas so oder auch anders aussprechen, und das könne dann den Sinn komplett verändern. Rajčić pflichtet ihm bei. Ja, zum Beispiel hätte es in einem Text mal «Scheinwelt» heissen müssen, es stand aber «Schweinwelt». Versprecher oder kleine Fehler schaffen oft ganz schöne Dinge.

Genau in dem Neuschaffen von Varianten liegen viele Möglichkeiten, meint auch Reichen. Texte wie die von Dragica Rajčić sieht er als poetische Bereicherung der deutschen Literatursprachen. Er meint auch, dass durch Kunstsprachen die Einzigartigkeit des individuellen Leidens besser ausgedrückt werden kann. Man habe so die Möglichkeit, das zu sagen, das einem eigentlich die Sprache verschlägt.

Humbel spricht vom ständigen Wechsel zwischen Registern, von der gebrochenen Sprache, die einen Raum mit eigenen Gesetzmässigkeiten schafft. Rajčić geht nicht darauf ein. Sie sagt dafür, was sie an Lesungen immer traurig macht. Es gehe immer um die literarische Verwertung von Schmerz. Ihre Erwartung sei aber ein Dialog über den Inhalt. Dann kommt das Zeichen der Regie und Humbel bricht das Gespräch freundlich ab.

Schade, dass das Gespräch hier aufgehört hat. Aber gut, dass der Fokus des Publikums auf die Dringlichkeit von gesellschaftlichen Themen gelenkt wurde und nicht etwa auf die Fischernetze.

Unser Team in Solothurn:
Selina Widmer

Wieder mal in Solothurn. Oder eben nicht wirklich, aber doch ein bisschen. Selina freut sich sehr auf das literarische Online-Treiben als Abwechslung zum Sport in der Küche. Die Sehnsucht nach dem Fremden ist ihr nicht fremd, deshalb möchte sie wissen, was Literatur und Wissenschaft beim Podium dazu zu sagen haben. Ausserdem will sie dem störrischen Eigensinn von Kunstsprachen auf den Grund gehen und beim Gläsernen Übersetzer einer Übersetzerin über die Schulter schauen. Und etwas Lyrik wird wohl auch noch drinliegen.

Selina studiert Deutsche Literaturwissenschaft und Deutsche Literatur: TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.