Über Sprache und Ideologie
Katharina Alder im Gespräch mit Christoph Höhtker

Christoph Höhtker, in deinem neuen Roman Schlachthof und Ordnung stellst du die Menschen unter die Wunderdroge Marazepam. Im Ernst, wäre die Welt so nicht vielleicht besser?

Natürlich ist es für meine Begriffe keine gangbare Alternative, die Leute chemisch zu beeinflussen. Es ist aber letztendlich so, dass auf der ganzen Welt Drogen- oder Medikamentenkonsum gang und gäbe ist; es gehört zum normalen Alltag und ich stehe dem nur moderat kritisch gegenüber. Ich habe da keine ideologischen Schranken. Wenn man das jetzt auf die gesamte Menschheit hochrechnet… [lacht] Naja, man könnte sagen, dass die Menschheit momentan nicht in allerbester Laune ist und wenn die ein bisschen gehoben würde, wäre das vielleicht auch mal ganz angebracht. Letzendlich sind das globale Fragen von grosser Tragweite, die in so einem Buch nicht wirklich behandelt werden können. Für mich ging es darum, dass eine Droge, die auf jeden Menschen unterscheidlich wirken kann, ein sehr gutes Instrument ist, um viele verschiedene Szenarien durchszuspielen.

Du hast neben Drogen auch schon den Weltkommunismus als einzig gangbare Lösung erwähnt.

Also wenn man den Grundkern dieser Ideologie zu definieren versucht, ist das eine relativ rationale Analyse von Wirtschaftsgeschehen. Diese Form von Rationalität ist natürlich etwas, was gerade in pandemischen Zeiten durchaus mal verloren gehen kann. Insofern wäre Vernunft in Kombination mit Gerechtigkeit schon mal ein guter Ansatz, um die Welt zu organisieren. Andererseits glaube ich, und das ist in meinen Augen das zentrale Argument, dass der Kapitalismus keine wirkliche Ideologie ist, sondern etwas, was wesentlich näher am Kern des Menschen dran ist. Er ist eine menschliche Bedürfnisstruktur. Insofern glaube ich, ist der Kapitalismus dauerhaft schwer zu überwinden.

Der Roman ist voller Ideologien; du hast alles reingepackt, was geht.

Da wird mit vielen Ideologien gespielt, ja. In meinen anderen Büchern ist es auch so, dass politische Versatzstücke immer wieder benutzt werden. Die kann man natürlich auch humoristisch auswerten, nichtsdestotrotz haben sie aber immer einen relativ ernsten Kern.

Das speist sich bestimmt auch aus deinem soziologischen Interesse. Gestern im Gespräch mit Tom Kummer hast du diesbezüglich ein bisschen tiefgestapelt: Du sagtest, du hättest Wissenschaft nie ganz verstanden, würdest aber diese pseudowissenschaftlichen Belege lieben, die du in deinem Buch verwertest.

Damit meinte ich natürlich Folgendes: Ich stamme ja aus Bielefeld. Bielefeld ist ein sehr bekannter Soziologie-Standort. Zeitweise habe ich auch da studiert, aber mein Hauptstudium hab ich in Hamburg absolviert. Bielefeld ist berühmt für eine ganz bestimmte Schule der Soziologie: die Systemtheorie. Und wer etwas mit Bielefeld und Soziologie assoziiert denkt an den Namen Luhmann. Ich hab ihn natürlich gelesen, aber das sind schon sehr komplexe Theoreme. Deswegen habe ich gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob ich da solide Verständnisgrundlagen habe. Das möchte ich mir nicht anmassen, zumal es auch schon sehr lange her ist.

Hast Du Dir mal überlegt Theaterstücke zu schreiben? Der neue Roman wirkt ja durchaus wie ein postmodernes Fragmentstück.

Ja, das würd mich nicht stören, wenn das Buch als Theater inszeniert würde. Es war natürlich meine Intention, Dinge, Szenarien, Stile zusammenzumischen und konventionelle Romanstrukturen bzw. Macharten postmodern oder postpostmodern aufzubrechen. Das mache ich gerne! Mit Theatertstücken habe ich mich bisher noch nicht so sehr auseinandergesetzt, wär aber auch gut. Das Problem ist die Zeit. Ich kann mich nicht einfach irgendwohin setzen und etwas produzieren, bei dem die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Schubalde bleibt, extrem hoch ist. Da muss ich mir vorher sehr gut überlegen, ob ich dieses Risiko eingehen will. Wenn mir jemand sagen würde, er inszeniere an der Volksbühne und brauche ein Stück, würd ich mir das natürlich überlegen. Das Theater ist faszinierend, aber eine Welt, mit der ich nicht sonderlich vertraut bin.

Das ist interessant, denn es wirkt so, wie wenn du dich da zuhause fühlen würdest. Dieser innere Monolog des Junkies auf dem Weg zu Dr. Bunnemann beispielsweise ist grandios.

Jajajaja! Dieser Typ, Joachim Angélique Gerke… [kichert vor sich hin]

Ich sehe, du hast Spass.

Ja, der ist schon echt irre. Für mich ist diese Figur ein Sprachexperiment. Der Typ ist für meine Begriffe der sprachliche Extremstvertreter in dem Buch. Diese sehr kurzen Sätze, diese Assoziationen, diese Wortspiele, diese Kombinationen… der hat’s echt drauf. Ich habe nach Schlachthof und Ordnung noch einen Text geschrieben, in dem er alleine ist. Nur dieser Typ mit dieser Erzählweise, die noch wilder und extremer geworden ist. Dieses Buch wird wahrscheinlich niemals veröffentlicht werden.

Doch, unbedingt!

Nene, für sowas werde ich niemanden finden.

Deine Sprache ist überbordernd, sprudelnd, so breit, dass man sie nicht einordnen kann. Machst du das bewusst, oder passiert dir das?

Das ist bewusst. Diese Wortspiele fallen mir einfach ein. Wenn ich gut gelaunt bin und 2000 Kaffee getrunken habe, fällt mir sowas ein, aber das Spiel mit verschiedenen Sprachebenen, Stilen, Slangs, das ist schon ein zentrales Merkmal der Komposition – wenn ich das so sagen darf – von Schlachthof und Ordnung. Das ist bewusst. Es bereitet mir unheimliches Vergnügen, unterschiedliche Dinge in so einem gemischten Salat zusammenzumixen. Viel mehr, als wenn eine Linie so durchgehalten wird. Wobei ich es auch gut finde, wenn Leute das so machen, wie Tom Kummer zum Beispiel. In meinem neuen Text habe ich jetzt jedoch nur einen Sprachstil durchgehalten. Ich wechsle das immer. In Schlachthof und Ordnung kann auf jeder Seite etwas ganz anderes passieren. In meinem neuen Text ist es so, dass eine erwartbare Sache bis ins Manische übertrieben wird. [lacht] Ich mag es, den Leser ein bisschen zu nerven.

Zu Stimmungen zwischen Memento und Vision

Tom Kummer und Christoph Höhtker treffen sich zum Gespräch mit Stefan Humbel im Rahmen der Veranstaltung «Zu Stimmungen zwischen Memento und Vision». Sie diskutieren die Motive ihrer neuesten Bücher Nicht von schlechten Eltern und Schlachthof und Ordnung. Lorenz Ruesch, Dominik Fischer und Katharina Alder tickerten dazu live. 

[12:57] Lorenz Ruesch
Hmm, versprecht ihr euch etwas Konkretes vom Gespräch Kummer-Höhtker? Erwartungen, Wünsche?
[12:57] Katharina Alder
Ich kann mir vorstellen, dass es viel um Drogen, Tod und Wahrnehmung gehen wird. Und um Surrealismus.
[12:58] Dominik Fischer
S'ist thematisch ja sehr offen gehalten. Ich erwarte schon viel von den beiden, vor allem grossartige Unterhaltung!
[12:58] Katharina Alder
Zwei Mordskaliber. Aber das kann auch in die Hosen gehen.
[12:58] Lorenz Ruesch
Eine gutes Gespann, definitiv.
[12:58] Dominik Fischer
Das ist schon ein bisschen der «Main Event» der Literaturtage, oder?
[12:59] Katharina Alder
Wenn man's ein wenig quer mag. Für die Gesitteten ist wahrscheinlich eher das Gespräch mit Lukas Bärfuss der Main Event.  
[13:00] Lorenz Ruesch
Stimmt, Bärfuss war Mainstage, zur Primetime. Kurz nach Mittag ist ja eigentlich an Openairs nicht viel los, aber da unterscheiden sich die Literaturtage wahrscheinlich von Musikfestivals.

Liveübertragung des Gesprächs beginnt. 

[13:00] Katharina Alder
Da sitzen sie... ganz brav.
[13:01] Dominik Fischer
Der Moderator Stefan Humbel scheint auch ein bisschen eingeschüchtert.

[13:01] Katharina Alder
Stefan Humbel startet das Gespräch mit einer Einleitung zu Tom Kummer, Christoph Höhtker und ihren neuesten Büchern. Schnarch.
[13:02] Dominik Fischer
Durch diese einschläfernden, lang hingezogenen Buchzusammenfassungen erfährt die Vorfreude erstmal einen Dämpfer. 
[13:01] Lorenz Ruesch
Ja, da les ich lieber das Buch.
[13:02] Katharina Alder
Ist aber auch sehr schwierig, dieses Buch sinnvoll zusammenzufassen.
[13:02] Dominik Fischer
Oh lame...... Wieso nicht grad mit dem Gespräch starten?
[13:02] Katharina Alder
Ich finde, dieser Café litteraire-Stil wird dem Buch nicht gerecht. – Ok, jetzt Kummer.
[13:04] Dominik Fischer
Ich hoffe, dass Kummer und Höhtker diesen Buchclub-Stil gleich ausm Fenster werfen. Die sitzen schon ganz missmutig da.
[13:05] Lorenz Ruesch
Das stimmt. Bald sind fünf Minuten vergangen, ohne dass einer der Autoren ein Wort gesagt hat. Erinnert mich an die uferlosen Vorstellungen von Professor*innen an Gastvorlesungen, das ist auch so ein Phänomen.

[13:06] Dominik Fischer
«Der Roman spielt mit Nähe und Distanz.» Können wir bitte die Plattitüden des Moderators beiseite lassen und die Stars zu Wort kommen lassen?!
[13:06] Katharina Alder
Christoph Höhtker sieht aus wie der Götti meines Sohnes. Schon mal sympathisch.
[13:06] Dominik Fischer
Du bist offensichtlich parteiisch. ;)
[13:07] Katharina Alder
Oh, Seitenhieb. Tom Kummer gefällt Höhtkers Buch «aus ganz anderen Gründen als du [Stefan] gesagt hast.» Autsch.
[13:07] Lorenz Ruesch
«Wer von euch hat von wem abgeschrieben?». Keine schlechte Einstiegsfrage.
[13:07] Katharina Alder
Ja, aber die Bücher sind extrem unterschiedlich. Bei dieser Frage geht es natürlich auch um den «Stil» von Kummer, der ja der Plagiatskönig war...
[13:07] Dominik Fischer
Ja, Kummer grätscht grad mal schön in den Aufbau des Moderators und switcht grad zu Burroughs und psychedelischer Literatur. - Gangster!
[13:08] Katharina Alder
Mega Gangster.
[13:10] Katharina Alder
Kummer hat Höhtkers Buch erst grad gelesen, Höhtker Kummer heute Morgen noch husch gelesen.
[13:10] Dominik Fischer
Die beiden sind top vorbereitet.
[13:09] Katharina Alder
Kummer sieht am Schluss einen Funken Hoffnung. Bei Höhtker nicht, da wird Marc Troisier zu Wurst verarbeitet...
[13:09] Lorenz Ruesch
Gerade der Schluss von Kummers Buch hat mich nicht sehr überzeugt.
[13:10] Dominik Fischer
Jetzt kommentiert Kummer sein Verhältnis zur Schweiz: «Ich will mit der Schweiz nichts zu tun haben, sie irritiert mich, deshalb habe ich meinen Roman in der Nacht angesiedelt.» Spannend!
Schade, dass Humbel immer wieder versucht, Zusammenhänge zwischen Kummers und Hötkers Buch herzustellen. ​
[13:12] Katharina Alder
Mir ist das zu wenig. Der Moderator nimmt extrem den Wind aus der Sache raus.
Jetzt kommen die Drogen.

[13:15] Dominik Fischer
Kummer nimmt die Drogen direkt mit ins Studio.
[13:15] Lorenz Ruesch
... und platziert seine Schmerztabletten neben seinem Weinglas?
[13:16] Dominik Fischer
Kummer und Höhtker sind sich einig in der Kritik an der Benzos-Epidemie und der US-amerikanischen Drogenpolitik.
[13:17] Lorenz Ruesch
Ein Thema, das immer häufiger auftaucht in neueren Büchern... auch in Schertenleibs «Palast der Stille» am Rand zum Beispiel.
[13:20] Lorenz Ruesch
«Das sollte eigentlich gar kein konsumierbarer Roman werden.» Starke Aussage von Höhtker!
Da weiss Humbel gar nicht mehr was fragen.
[13:20] Katharina Alder
Ich bin ja so froh, dass Höhtker das sagt. Ich bin nach 20 Seiten durchgedreht und musste nochmals anfangen. Der Roman ist in der Tat nicht konsumierbar. Aber eben, wenn man keinen Druck hat, irgendwas verstehen zu müssen oder den Durchblick zu haben, ist er ziemlich geil! 
[13:22] Dominik Fischer
Cool zu sehen, wie stark sich Kummer auf Höhtkers Buch bezieht und sich in Lob ergeht. Humbel schwadroniert, Kummer und Höhtker holen mit ihrem lässigen Witz des Gespräch auf dem Boden zurück.​ Kummer übernimmt auch ein bisschen die Moderation und stellt die wirklich spannenden Fragen an Höhtker.
[13:23] Lorenz Ruesch
Ja, sie wirken wirklich angenehm relaxt und unaffektiert.
[13:26] Katharina Alder
Kummer interviewt Höhtker zu seinem neuen Buch Schlachthof und Ordnung!
[13:26] Dominik Fischer
Die beiden sind so auf einer Wellenlänge, dass es gar keine Moderation brauchen würde. 
[13:29] Katharina Alder
Höhtker nennt Toms Buch einen «dunklen Schweizer Heimatroman»!!! Treffende Analyse.

[13:29] Dominik Fischer
Kummer sieht wieder literarisches Potential in der Schweiz und findet sie auch als Wohnort wieder erträglich. 
[13:29] Katharina Alder
Genau, das langweilige Schweiz-Idyll: Immer alles rein und sauber. Die Schweiz würde mehr von Kummers Visionen vertragen: urban, düster, melancholisch. – Aber warum unterbricht jetzt der Humbel mit einem neuen Thema? Das wär doch jetzt spannend gewesen, die Schweiz als Kulisse... So kommt man null in die Tiefe.
[13:31] Lorenz Ruesch
Kummer bringt's wieder zurück auf die Mobilität und erzählt davon, wie seine Figur mit edlen Diplomatenkarren durch die nächtliche Schweiz cruisen. ​Den Innenraum dieser Luxusautos bezeichnet er als geisterhafte Zwischenwelt, die Diplomatenautos als «untouchables».
[13:32] Dominik Fischer
Spannend, die Luxusautos der Diplomatenklasse bieten sich als literarischer Zwischenort an. Dabei «fahren der Suizid und der Fährmann Charon aus der Unterwelt auch immer mit», kommentiert Kummer.
[13:33] Katharina Alder
Oh! Beides Nachttaxi-Fahrer...!!!
[13:33] Lorenz Ruesch
Das ist ja eine unerwartete biographische Verbindung: Höhtker als Nachttaxifahrer kann sich selbst sehr gut in die Erzählsituation in Kummers Buch hineinversetzen, erzählt er. Die Einsamkeit, die Kummer bei seinen nächtlichen Autofahrten durch die Schweiz schildert, hat Höhtker selbst erlebt.
[13:40] Lorenz Ruesch
Humbel sieht das Schreiben irgendwie mystischer als die Autoren selber. Will es ständig künstlich überhöhen. «Hat sich da bei Ihnen was reingeschlichen» etc. Kummer und Höhtker so: «Bö. Einfach mal machen, ist lustig.» Irgendwann kann diese laid-back-Attitüde auch ein bisschen viel werden, nicht? Verkauft sich Höhtker da nicht bewusst unter seinem Wert? Aber er ist mir trotzdem sehr sympathisch.
[13:43] Kathrin Alder
«Das Trauma des Nichtverstehens in seinen Büchern weiterverarbeiten.» Ich fühl mich ganz zu Hause bei Höhtker.
[13:45] Dominik Fischer
Flucht innerhalb des eigenen Landes wird zum Thema, die trostlosen Orte der Schweiz mythisch aufzuladen, das ist es, was Kummer versucht und ihm mit seinem «fantastischen Realismus» gelingt. Die Schweiz anders anzusehen, das ist vielleicht das Mittel, was Kummer braucht, um sich mit der Schweiz wieder anzufreunden.
[13:45] Lorenz Ruesch
Der harte Boden Schweiz vs. die Traumwelt Hollywoods.
[13:48] Kathrin Alder
Nun geht es um den Schreibprozess. Das Schriftsteller-Idyll an der Schreibmaschine. Macht die Ablenkung die Autor*innen zu schlechteren Schriftsteller*innen?
Oh, Dissonanz... Tom Kummer muss sich zwingen zu schreiben und quält sich. Schreiben als Kampf oder Spass?
[13:47] Lorenz Ruesch
Er muss sich «durch schlechte Sätze quälen», kommentiert Kummer. Erfrischend ehrlich, alle beide.
[13:47] Katharina Alder
Ich finde, diese beiden Ansätze widerspiegeln sich in ihren Büchern.
​[13:49] Dominik Fischer
Kummer sehnt sich jedenfalls zurück an seine Olivetti. 
[13:49] Lorenz Ruesch
Ich glaube nicht, dass Schlachthof und Ordnung von Hand oder auf Schreibmaschine geschrieben hätte werden können.
[13:50] Dominik Fischer
Höhtker ist da sehr schlicht, spielt das runter, das klingt so als ob der die Bücher am Computer einfach runter tippt. 
[13:50] Kathrin Alder
Aber ich kann mir gut vorstellen, dass er das auch macht. Die Texte klingen schon so. Der hat eine lustige Idee und haut sie rein.
[13:52] Dominik Fischer
Promptes Ende. Da hätte man (wie so oft an diesen knapp bemessenen Veranstaltungen an den SLT) noch länger zuhören können. Stark war das Gespräch v.a. dort, wo Kummer und Höhtker in den Dialog traten und Humbel ein wenig im Hintergrund trat. Beachtlich auch Kummers Interview-Fähigkeiten mit seinen spannenden Fragen an Höhkter und Höhtkers unglaubliche Gelassenheit.

Skriptor Prosa
Oszillieren zwischen Schlaf und Tod

Beobachten zu dürfen, wie sich das Publikum leger im Liegestuhl fläzt oder auf dem heimischen Sofa thront, sei schon fast wie ein Buch zu lesen. Meint Donat Blum, Moderator des Skriptor prosa, Die Textwerkstatt geht dieses Mal mit 36 abgebrühten Zoom-Profis und einer Textprobe von Deborah Neininger an den Start.

Das Veranstaltungsgefäss Skriptor ist aus dem Bedürfnis entstanden, einen Begegnungsraum für Autor*innen zu schaffen. Diese Versuchsanordnung soll Schreibprozesse sichtbar zu machen, die Textentwicklung vorantreiben – und bleibt dabei immer ein Wagnis für die Diskutierenden und vor allem die Autor*in.

Erklärtermassen aufgeregt liest Deborah Neininger aus dem Basler Gundeli einen kleinen Teil vom Anfang ihres Textes.

Dieser ist packend. Vom erbarmungslosen Katzentod schwenkt die Erzählerin zum tagelangen Sterbeprozess ihres Vaters, der zu Lebzeiten ein guter Schläfer gewesen war. Geschickt baut sie gleich zu Beginn einen – wie Romana Ganzoni richtig beobachtet – enormen Topos auf: Hypnos und Thanatos, der Schlaf und der Tod. Dieser Anfang führt laut Pino Dietiker dazu, dass jedes weitere zitierte Schlafen im Text dadurch eine neue Konnotation bekommt. Du siehst überall den Tod, sagt eine Figur. Und genau damit spielt Deborah Neininger.

Ein Wechselbad nennt es Alexandra von Arx. Hinter jeder Banalität lauere der Tod, jedes Idyll, alle Schönheit drohe jederzeit in den Abgrund zu stürzen. Der Kontrast als starker Aspekt des Textes. Ein anderer ist für Franco Supino die Sprache, die ihn trotz weniger Widerstände mitzieht. Diese Widerstände sind schwierig zu bennenen, auch Benjamin Kevera hat sie, findet aber auch nicht eindeutige Worte dafür. Einig sind sie sich, dass der Text voller starker Elemente ist, die von der Autorin aber noch auf ihre Eindeutigkeit geprüft werden sollen. Welche Funktion haben Neiningers Assoziationsketten? Kreieren sie ein Postkartenidyll? Und wie viel davon verträgt ein Text? Oder trügt gar der Schein, wie Ganzoni proklamiert? Sind die Kindheitserinnerungen der Erzählerin singulär, oder sollen sie ein Allgemeines abbilden?

Gut, dass Donat Blum noch einmal in die essentielle Richtung kickt und konkrete Handhabung für Neininger fordert. Romana Ganzoni würde den Text fertig schreiben und dann anhand der Inputs bewusster an die Szenen gehen und diese verdeutlichen. Die starken Motive brauchen Bewusstsein. Alexandra von Arx möchte die Ich-Erzählerin in der jetzigen Gegenwart besser spüren. Die Erzählerin in den Rückblenden habe eine starke Beobachtungsgabe. Dadurch, dass die ihre Aufmerksamkeit nicht auf Grosses, sondern auf das Detail richtet, gewinne sie an Stärke. Auch Franco Supino spricht von einer Erzählerin, die über allem steht, deren Gegenwartsfigur aber noch zu blass sei.

Deborah Neininger profitiert zweifach von der gelungenen Veranstaltung. Die breite Zustimmung versichert ihr, auf gutem Weg zu sein, die ähnlich gelagerten Widerstände signalisieren einen klaren Fokus hinsichtlich der Textüberarbeitung. Wohlgefühlt und gut gerundet funktioniert zoom-Skriptor tadellos. Dissonanz hätte das Medium wohl schlecht ertragen.

Unser Team in Solothurn:
Katharina Alder

Katharina Alder studierte – nach kurzen Ausflügen in die Philosophie (UZH) und ins grafische Arbeiten in einer Werbeagentur – Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes im Frühling 2010 nahm sie ihr früheres Studium an der Universität Zürich wieder auf und belegt dort momentan Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft im Master.

2014 gründete sie aus purem Idealismus ihre eigene Buchhandlung – den klappentext in Weinfelden – und organisiert regelmässig kulturelle Veranstaltungen, so beispielsweise die Reihe textkultur sowie die Weinfelder Buchtage.

Seit der Rückkehr in die Schweiz hat sie Theater gespielt, zahlreiche Lesungen gehalten, Live-Hörspiele aufgeführt und unter dem Label alles&nichts verschiedene Veranstaltungsgefässe gegründet und kuratiert. Mit 6 Jahren erhielt sie ihren ersten Geigenunterricht. Sie spielte mehrere Jahre im Kammerorchester Konstanz, bevor sie Mitgründerin des im Thurgau ansässigen Kammermusik-Ensembles camerata aperta wurde.

Katharina liebt Texte und Musik, Frank Zappa und guten Rotwein, den Regen, die Melancholie, sandige Haut in der Sommersonne, Christoph Marthaler-Stücke und Wechselbäder der Gefühle.