Worte wider die Vergänglichkeit

Im Gespräch mit dem Schweizer Buchjahr erzählt Schriftsteller Rolf Hermann von der produktiven Kraft seiner Todesphobie, dem zwiespältigen Begriff der Heimat und der fragilen Grenze zwischen Realität und Fiktion.

In Deinem Prosadebüt Flüchtiges Zuhause versammelst Du Erzählungen rund um das Aufwachsen im Wallis. Das Wallis erscheint dabei immer wieder als Fixpunkt, als das heimelig Vertraute. Ist Flüchtiges Zuhause etwa ein Heimatroman?

„Heimatroman“ ist ein schwieriger Begriff. Ich würde sagen, es ist ein Herkunftstext, oder vielmehr ein Band, der Erzählungen zu Dingen versammelt, die mir sehr vertraut sind. Das Konzept „Heimat“ ist politisch aufgeladen. Ich hoffe, den Begriff mit meinen Erzählungen aus der unschönen Ecke herausziehen zu können, die Heimat als etwas Ausgrenzendes konzipiert. Ich halte es für absurd, diesen Begriff als Argument für das Ziehen von Grenzen in der politischen Debatte anzuführen. Für mich steht Heimat für etwas Grenzüberschreitendes, Pluralistisches. Vielleicht wäre es ohnehin sinnvoll, den Begriff der „Heimat“ mit dem Plural „Heimaten“ zu ersetzen. Ich selber habe mehrere Heimaten und die sind alle offen und laden Menschen zum Verweilen ein.

Bereits der Titel Deines Erzählbandes verweist auf das Flüchtige, sich Auflösende. Welche Rolle spielt das Motiv der Vergänglichkeit für Dein literarisches Schaffen?

Die Vergänglichkeit ist für mich ein wichtiger Impetus fürs Schreiben. Mit den Worten, mit dem Schreiben versuche ich diesem unaufhaltsamen Prozess etwas entgegenzusetzen. In meinen Texten kommen immer wieder Figuren vor, die von Menschen inspiriert wurden, die mir nahestehen oder nahegestanden sind. Durch meine Texte kann ich diesen Menschen ein längeres Leben verleihen und ihnen in einer unglaublichen Intensität nahekommen – auch wenn sie bereits verschwunden sind.

Wird das Schreiben als Versuch, der Erosion durch die Zeit etwas entgegenzusetzen, in Deinem Erzählband nicht auch demontiert in der Figur der Grossmutter? Grossmutter hängt das Schreiben mit dem Alter schliesslich an den Nagel, weil sie ihre eigene zittrige Schrift nicht mehr lesen kann. Wie endet dieses Kräftemessen zwischen Zeit und Literatur?

Das Schöne ist ja, dass die bereits geschriebenen Gedichte der Grossmutter bleiben und dass so in ihnen auch die Stimme der Grossmutter weiterlebt. Der Schreibprozess kommt unweigerlich irgendwann zu einem Ende, das Geschriebene aber überdauert – so ist zumindest meine Hoffnung.

Zurück zur Flüchtigkeit: Wie kann Flüchtigkeit literarisch eingefangen werden?

Ich versuche die Flüchtigkeit in meiner Literatur nicht zu benenne, sondern heraufzubeschwören. Zum Beispiel, indem ich eine Autofahrt beschreibe, in der man Dinge vorbeiflackern sieht. Sie leuchten auf und verschwinden sogleich wieder. Ein anderes Instrument, das ich einsetze, sind Zeitsprünge, welche den Alterungsprozess der Figuren sichtbar machen. Du hast das Gefühl, gestern noch hättest du im Juniorenteam Fussball gespielt – dabei liegt das schon dreissig Jahre zurück. Seitdem ich Vater bin, ist auch die eigene Kindheit wieder präsenter geworden – manchmal sogar beinahe physisch fassbar. Diese Momente wollte ich festhalten und schauen, was das mit mir macht.

Also schreibst Du auch in erster Linie für Dich selbst und gar nicht unbedingt für ein Publikum?

Nein, ich schreibe immer mit dem Gedanken an ein Publikum. Ich will, dass die Leute meine Texte lesen und sich darin zum Teil wiedererkennen können. Literatur soll einen Moment des Berührtseins herstellen. Schreiben nur für mich, das scheint mir undenkbar. Dass ich aber Sätze bewusst umformuliere, um den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden, kommt nicht vor. Vielmehr versuche ich der Geschichte, die erzählt werden will, gerecht zu werden.

Um noch einmal auf das zentrale Motiv der Vergänglichkeit zu sprechen zu kommen: Woher rührt Deine intensive Beschäftigung mit dem sich Verflüchtigenden?

Aufgrund eines Schreibstipendiums wohnte ich während drei Monaten auf dem Tübinger Stadtfriedhof, im ehemaligen Friedhofswärterhäuschen. Dort war ich quasi permanent von Toten umzingelt, was prägend war. Die Thematik der Vergänglichkeit beschäftigt mich aber bereits viel länger: Seit ich fünf oder sechs Jahre alt bin, habe ich eine Art Todesphobie. Die Einsicht, dass alle Dinge endlich sind, ist für mich manchmal kaum auszuhalten.

Trotz diesem düsteren Aspekt der Vergänglichkeit, wird in Flüchtiges Zuhause aber auch ein unglaublich idyllisches Familienleben geschildert. Soll das die Leser*innen gar etwas neidisch machen?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte einfach das Glück, inmitten einer lieben Familie aufzuwachsen. Trotzdem gibt es in den vorliegenden Erzählungen Stellen, die schwierige, ungerechte Dinge leise problematisieren – etwa die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Meine Grossmutter hat feministische Manifeste gelesen und über Jahre hinweg das Fehlen des Frauenstimmrechts angeprangert. Nicht plakativ, aber immer wieder möchte ich solche Momente in meinen Erzählungen spürbar machen.

Die Grossmutter hat ja auch immer eine Sehnsucht nach der weiten Welt ausserhalb des Dorfes. Hat die Beschaulichkeit eines Bergdorfes bisweilen etwas Beengendes?

Für mich hatte sie das nicht, obwohl man im Wallis der 70er Jahre relativ abgeschlossen von der Aussenwelt war. Aber in diesem kleinen, von Bergen umschlossenen Raum war immer auch die Möglichkeit einer anderen Welt präsent: Ich bin direkt an der Sprachgrenze aufgewachsen. Nach einer Autofahrt von zehn Minuten haben die Leute französisch gesprochen und in diesen Stimmen rückte plötzlich sogar Paris ganz nahe.

Du selbst bist zum Studium nach Iowa gegangen, aber dann auch wieder zurückgekehrt – unter anderem sogar auf die Alm, um Schafe zu hüten.

Ja, das war ein völlig verrücktes Unterfangen damals, dieses Pendeln zwischen den Welten. Die Schafe waren wieder bei ihren Besitzern im Tal und zwei Tage später flog ich nach Iowa. Und dort wurde mir bewusst, dass einem eine Landschaft tatsächlich auch physisch fehlen kann. Iowa ist völlig flach. Diese Bewegung des steilen Hinauf- und Hinuntergehens, das ich als Schafhirt täglich stundenlang getan hatte, hat mir in Iowa gefehlt. Ich war glücklich, als ich dann etwas ausserhalb der Ortschaft, wo ich damals wohnte, einen kleinen Staudamm entdeckte, den ich von Zeit zu Zeit erklimmen konnte.

Der Erzählband macht ja auch das sinnlich Erfahrbare sehr stark: Als Leser*in sieht man etwa das Bergpanorama ganz plastisch vor sich.

Ja, diese visuelle Komponente ist mir wichtig. Ich versuche mit Worten einen Raum erfahrbar zu machen. Wenn meine Hörer*innen mich nach einer Lesung ansprechen und erzählen, dass sie das Gefühl hatten, direkt mit mir durch die Berge zu gehen, freut mich das enorm. Beim Schreiben versuche ich mich so genau zu erinnern, dass ich das Gefühl habe, ich könnte mich mit geschlossenen Augen durch die beschriebene Landschaft bewegen.

Du schreibst ja unter anderem auch Spoken Word Texte. Wie unterscheiden sich diese von Deinen Texten im vorliegenden Erzählband?

Der Unterschied liegt primär in der Länge. Ausserdem erscheinen meine Spoken Word Texte immer in einer zweisprachigen Fassung. Einerseits auf Walliserdeutsch, andererseits auf Hochdeutsch. Auch Leute, die das Walliserdeutsch nicht sprechen, sollen so einen Zugang dazu erhalten. Die Herausforderung ist aber unabhängig vom Genre immer dieselbe: Wie kann ich einen emotionalen Kurzschluss zwischen Text und Leser*innen herstellen?

Flüchtiges Zuhause enthält ja durchaus sehr autobiographische Einflüsse. Während der Lesung hier in Solothurn, im Landhaussaal, wurde das ja bereits angesprochen. Du hast aber auch betont, dass es immer ein fiktionales Element gebe. Wie spielt das ineinander hinein?

Man kann bei meinen Erzählungen nie genau sagen, was erfunden ist und was sich wirklich zugetragen hat. Ich habe beim Schreiben auch plötzlich gemerkt, dass das eigentlich gar keine Rolle spielt. Hin und wieder bin ich geliebten Menschen in der Fiktion näher gekommen, als es mir in der Realität möglich war. Das Schreiben bot mir auch die Möglichkeit, mich von Menschen, die ich geliebt habe und die bereits verschwunden sind, noch einmal zu verabschieden. So lande ich automatisch in der Fiktion. Und in dieser Fiktion entsteht für mich auch jene Nähe, die vielleicht unter die Haut geht.

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