Ein ruhiges Fliessen

Während draussen die Aare gelassen vor sich hinfliesst, machen sich drinnen im Landhaussaal sowohl Publikum wie auch der Mann der Stunde, Christian Haller, in schweizerischer Ordentlichkeit für die Lesung bereit. Fein säuberlich legt eine Frau ihr „Öpfelpütschgi“ in ein Papiertaschentuch, eine andere zupft die über den Stuhl gehängte Jacke des Vordermanns zurecht und Christian Haller öffnet seine schwarze Umhängetasche, aus der er sorgsam seinen neuen Roman Das unaufhaltsame Fliessen hervorzieht.

Nach Die verborgenen Ufer ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie, in der Haller seinen Weg zum Schriftsteller nachzeichnet. Der Roman wirkt fast noch ordentlicher als die Vorbereitungen zur Lesung. Jeder vorgelesene Ausschnitt ist darauf ausgelegt, sein Stück zum Werdegang des Autors beizutragen. Das Fliessen hin zu seinem Ziel war trotz verschiedener Rückschläge dann eben doch unaufhaltsam.

Zunächst wäre da die Begegnung mit der Witwe des bisher zu wenig beachteten Schriftstellers Adrien Turel. Fasziniert vom anarchischen Denken, das er in den Manuskripten des Verstorbenen antrifft, beschliesst Haller, sich um dessen Nachlass zu kümmern. Durch die Beschäftigung mit den Texten kommt es bei Haller zu einer ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Später wird er Zoologie studieren. Wie Haller im Gespräch mit Karin Schneuwly bekanntgibt, hatte die Naturwissenschaft und insbesondere das wissenschaftliche Schreiben einen grossen Einfluss auf seine Arbeit als Schriftsteller. Dadurch habe er gelernt, sich einfach und klar auszudrücken. Ein Schreiben, das ohne Redundanzen zum Kern der Sache vordringen soll.

Literarischen Input erhält Haller im Anschluss an ein Abendessen mit Georg Kreisler. Der bereits gestandene Künstler erklärt sich dazu bereit, Hallers Texte zu lesen und ihm ein schonungsloses Feedback zu geben. Brieflich teilt Kreisler ihm mit, dass er ihn „leider ermutigen muss“ weiterzumachen. Das Publikum lacht. Der Altmeister schafft es auch noch über seinen Tod hinaus, für Unterhaltung zu sorgen.

Schliesslich kommt Haller auf die Globuskrawalle zu sprechen. Eine Schlacht, wie Haller beschreibt, zwischen Demonstranten und Polizisten, bei der sich der angehende Autor in die Rolle des Beobachters gedrängt sieht. Anstatt nach einem Pflasterstein zu greifen, um diesen gegen die Polizisten zu schleudern, entschliesst er sich dagegen. Und das obwohl er ein guter Werfer sei. Er war sogar so gut, dass es er eine Spezialausbildung im Militär als Handgranatenwerfer machen durfte. Erneutes Lachen macht sich im Publikum breit. Doch – wen wundert’s – Haller will lieber mit Worten und Sprache um sich werfen und nicht mit Pflastersteinen.

Im anschliessenden Gespräch nimmt Karin Schneuwly eine Frage auf, die auch dem ersten Kapitel vorangestellt ist: „Wo stehe ich heute auf meinem Weg, vier Jahre nach dem Entschluss, Schriftsteller zu werden?“ Sie fragt ihn, wie er diese Frage heute beantworten würde. Er sei angekommen, ansonsten hätte er sich auch gar nicht dazu in der Lage gefühlt, eine Autobiographie zu schreiben, in der er seinen Weg zum eigenen Schaffen Revue passieren lässt. Das merkt man. Es ist die Biographie eines arrivierten Schriftstellers, der am Ende seiner Suche angelangt ist. Das Fliessen in die Schriftstellerei zeigt sich in jeder der beschriebenen Stationen. Mitgerissen wird man dabei als Leser jedoch nicht. Zu harmonisch und verklärt wirkt Hallers Blick auf seinen Werdegang. Das Lesen gleicht mehr einem sanften Treibenlassen. Das ist in Ordnung, mehr aber auch nicht.

Die Blätterteigzeitung und weitere Gemälde

Die sommerlichen Temperaturen sind bereits spürbar und die Aussenbühne beim Solothurner Landhausquai wird kräftig bestrahlt. Trotzdem sind die Sitzplätze restlos besetzt und Menschentrauben bilden sich um das kleine Leser_innenpodest. Denn, es lohnt sich. Vor allem wenn der Vorleser Christian Haller heisst. Mit unaufgeregter, warmer Stimme liest er zwei Kurzgeschichten aus dem 2010 erscheinen Werk Die Stecknadeln des Herr Nabokov vor.

Haller schafft es, aus Alltäglichem das gewisse Etwas heraus zu kitzeln. Immer wieder muss das Publikum schmunzeln und nicken, wenn es sich an eigene ähnliche Erlebnisse erinnert.

Die morgendliche Zeitung wird zum Blätterteig, der das Übel der Welt bereit hält. Sie wird auch zu einem Ort der Versicherung, dass sich über Nacht nichts grundlegend verändert hat. Ein Ort, wo man seine „heimlichen Laster“ finden kann. Für die Einen mag es der Wetterbericht sein, für andere die Kontaktanzeigen, für Dritte die Rätselseite. Für den Erzähler sind es die Stellenangebote, die Fenster zur unbekannten, möglichen Zukunft öffnen. Oder zumindest waren es die Stellenangebote. Mit fortschreitendem Alter jedoch werden die Todesanzeigen und die näher rückenden Jahreszahlen immer interessanter. Gespannt folgt man den morgendlichen Kämpfen gegen das Altfühlen des Erzählers und fühlt sich ertappt, ähnliche Gedankengänge ebenfalls schon ausgeführt zu haben.

Mit der zweiten Kurzgeschichte entführt Haller uns ins Baltikum. Wir fahren mit einem Übersetzer von Tallinn nach Vilnius. Gestoppt wird auf einem alten Adelshof mit verwildertem Garten und am Meer, um spontan baden zu gehen. Die Halte vergleicht Haller liebevoll detailliert mit bekannten Gemälden und Fotografien. Es gelingt ihm, die grundverschiedenen Atmosphären und Farben der beiden Orte einzufangen.

Kurz vor Schluss flechtet Haller geschickt eine historische Rückblende ein. Achtvoll lässt er die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges an ebendieser Küste aufleben. Die weisse Stille des Strandes wirkt plötzlich nicht mehr ganz so friedlich und wird zum Ort des Vergessenen. Die Erzählungen Hallers berührt unerwartet.

Unaufgeregt endet die Lesung. Schade eigentlich, trotz der Hitze.

Kein Streit

„Joute de traduction“ heisst die Veranstaltung, an der eine Übersetzerin und ein Übersetzer in den Ring treten und ihre jeweilige Wortwahl verteidigen sollen. Die übersetzten Textpassagen stammen aus Levin Westermanns Gedichtsammlung 3511 Zwetajewa. Valentin Decoppet und Raphaëlle Lacord treffen sich zum Duell und werden sich um Worte streiten, so die Erwartung.

Doch der Moderator Yves Raeber warnt vor: Der Ausdruck „rompre une lance“, „eine Lanze brechen“, könne man ja auch auf zwei Arten verstehen. Einen Gegner töten, könne es heissen, auch aber eine Lanze brechen für jemanden, als Zeichen des Respekts und der Freundschaft. Freundschaftlich geht es zwischen den beiden die ganze Stunde über zu. Was als „joute“, als Turnier oder Wettstreit angelegt ist, wird eher zum freundlich-vorsichtigen Abtasten.

Die beiden Parteien geraten sich einfach nicht so richtig in die Haare. Im zweiminütigen Verteidigungstakt bringen sie Argumente an, weshalb sie einen gewissen Textauszug so übersetzt haben, wie sie ihn übersetzt haben. Wie haben die beiden zum Beispiel „Urzustand“ übersetzt? Die Spannung steigt, die Blicke sind auf die Leinwand gerichtet. Dann erscheint der Text, Decoppet und Lacord lesen ihre Vorschläge vor. Lacord hat sich für „l’état premier“ entschieden, während Decoppet „l’état originel“ bevorzugte. Doch dies bleiben Vorschläge, und oft können sie die Übersetzung des anderen auch ganz gut nachvollziehen.

Raeber versucht immer mal wieder, das Feuer zu entfachen und sie zum Streit anzustiften: „Maintenant il faut tout donner!“, „Jetzt müsst ihr alles geben!“, betont er gegen Ende nochmals. Immer noch kein Streit. Vielleicht heisst alles zu geben in der Übersetzung auch einfach nicht, das Beste zu finden und auf Gedeih und Verderben zu verteidigen, sondern das Gute immer wieder umzudrehen, von allen Seiten her anzuschauen und zu befragen.

Juhui – jemand stirbt und Frauen gibt es auch

Der Freitag neigt sich langsam seinem Ende zu, man hat viel erlebt und noch mehr gehört. Die Festivalbesucher_innen flanieren zwischen den Lesungen umher und nicht wenige finden sich im Uferbau wieder. Dort will das Duo Dietiker/Diller mit einer Mischung aus Spoken Word und Klangteppich das Publikum betören.

Pino Dietiker, der Aargauer Texter, und Jul Dillier, der Obwaldner Musiker, nennen ihr Oeuvre Planer und Flaneur. Vier Texte sollen das Zusammenspiel von exakter Planung von urbanen Räumen und das entspannte Flanieren und Sinnieren miteinander verbinden und Gegensätze aufheben.

Vielversprechend beginnt Dillier mit seinem E-Piano rhythmische Klänge in den dunklen Raum zu senden. Das Publikum ist bald umhüllt davon und es scheint nur natürlich, dass Dietiker beginnt, von einer Zugfahrt zu erzählen. Das Stück ist ein Wechselspiel zwischen Gedanken und Beobachtungen im Zug und einem Bericht über einen Vater, der es nie geschafft hat, das Eigenheim fertig zu stellen. „Er war ein Bauherr der nicht Hausherr werden konnte“, sagt Dietiker melancholisch.

Immer morbider werden die Bilder. Das Altglas im Keller wartet auf die Wiedergeburt, die Schuhe im Haus sind das Letzte, was ein Toter auszieht. Im Zug rasieren sich Menschen und gehen der Nagelpflege nach. „Unterwegs zu Hause“, zitiert Dietiker die Deutsche Bahn. Unaufgeregt endet das Stück, das grosse Fühlen hat nicht eingesetzt, obwohl das Duo alle Tasten bedient. Das Makabre, den Tod des Vaters, den Ekel beim Zugfahren. Zu emotionslos und monoton bleibt das Vortragen Dietikers und je länger, desto undeutlicher wird’s. Mitreissende Spoken Word Performances sehen anders aus.

Mit dem nächsten und titelgebenden Stück „Planer und Flaneur“ setzt sich die Qualitätsabwärtsspirale der Aufführung fort. Dietiker erzählt von Legotürmen und Städten, Wachstumsblasen und Bettlern. Dabei bedient er sich allerlei überverwendeter popkultureller Referenzen wie „Houston, we have a problem!“, Super Mario und ganz vielen weissen Schafen mit einem Schwarzen dabei. Das irritiert und es ist beinahe unmöglich, dem Stück zu folgen, ohne sich immer wieder daran zu stossen. Es tauchen ebenfalls erste Repetitionen auf. Wiederum spielt er mit makabren Bildern und wiederum ist der Tod prominent platziert. Menschen bringen sich um in Grossstädten. Erste Besuchende beginnen nun den Uferbau zu verlassen.

Das dritte Stück behandelt die „Éoliennes“ von Saint- Imier. Die Riesenwindräder drehen sich auf dem Berge und der Held fährt hinauf zu ihnen. Wie zu erwarten, verwendet Dietiker auch hier die offensichtlichsten Metaphern. Don Quixote de la Mancha und die Himmelfahrtsthematik werden regelrecht ausgeschlachtet. Der Held wurde versetzt und sucht Trost bei den „Éoliennes“. Versetzt wurde er von einer Frau, die auch noch Spanisch sein muss und dazu Simone de Beauvoir liest. Die Diskreditierung der feministischen Spanierin misslingt Dietiker, der versucht, ihre Oberflächlichkeit durch ihren Tindergebrauch und Schuhbesitz zu entlarven. 2018 sollten selbstbestimmte, sexpositive Frauen auch im Spoken Word Universum angekommen sein. Wiederum muss jemand sterben im Stück. Wiederum ist es Suizid. Weitere Besuchende verlassen den Raum.

Jetzt wäre die Vorstellung eigentlich fertig – doch das Duo lässt sich noch zu einer Zugabe hinreissen. Das hätten sie lieber gelassen…

Wir sind wieder in der Stadt. Doch die Stadt ist eine Frau. Eine Frau, die man(n) bewandern kann und brauchen darf. In dieser Stadt tanzen Seiltänzer auf den Stromkabeln der Trolleybusse, die „in Schlafzimmer alleinstehender Frauen eindringen.“ Das Grundwasser der Stadt kommt natürlich aus den steinernen Brüsten der Frau und muss unglaublich hart sein. Es stapeln sich Frauentorsos am Strassenrand, die bei Brand Wasser spritzen. Die Strasse ist gespickt von „Warzenhöfen“. Was man ebenfalls in dieser Stadt finden kann, sind „mundgerechte Wurfgeschosse“ (sic!). Das sind weisse, spermienähnliche Kaugummiflecken am Boden. Ein Wunder, dass die Kaugummis nicht auch noch irgendwo in einem vaginalen Loch der Stadt verschwinden. Ungefragt natürlich. Immerhin hat sich in diesem Stück niemand umgebracht.

Erleichtert verlassen wir Besuchenden den dunklen Raum und kehren in die aufgeklärte Welt zurück.

Gepflegter Trash

Zwei Verlage präsentieren am Solothurner Freitagabend Schund- und Groschenromane fiktionaler Autor_innen. Wir haben uns amüsiert.

Den Anfang macht der Verlag die brotsuppe. Zu zehnt werden in einer ersten szenischen Lesung Perlen des Trashs wie Eine wie keine – oder wie Winnie Grok zum Wunder wurd [sic!] von Raul Rabbassi vorgetragen. Unser Favorit war aber Blut im Mississippi – Vol 1. Die Köter des Todes von Dan D. Dutch. Darin geht es haarsträubend zu – eine lüsterne Witwe «drückt die Zigarette neben dem Sarg ihres Mannes aus» und versucht noch an Ort und Stelle einen unerfahrenen und sehr (!) jungen Buben zu verführen. So viele Tabus auf so wenig Text!

Nach einer Pause empfängt uns das Literaturmagazin Narr mit seiner Auswahl von Groschenromanen zurück. Die Nacht der Todeshandys und Ein Sonnenstrahl kommt selten allein – Verliebt in raue Hände überbieten sich. Dabei tut den Texten die zusätzlich karikierend wirkende szenische Lesung nicht nur gut – es wäre mutiger gewesen, die Texte für sich sprechen zu lassen. Zwischen den Texten werden urkomische Zusammenschnitte fast identischer Kinoszenen (wie durch Dritte gestörte Kussszenen) abgespielt. Diese streichen heraus, dass hier einerseits die relative Einfallslosigkeit der seriellen Groschenromane auf die Schippe genommen werden soll. Andererseits stellt sich dabei auch die Freude am Wiedererkennen von Stereotypen ein, die wohl auch zum Reiz eines einigermassen reflektierten und durchironisierten Trashkonsums gehört.

In diesem zweiten Teil wirkt die Formelhaftigkeit der Groschenroman-Vorlagen besser getroffen, ihre Auswahl parodiert mit grösserer Präzision, aber etwas weniger wilder Fabulierlust. Das lässt die Narr-Texte intelligenter wirken, fast auf groteske Weise analytischer, aber auch ein wenig kühler. Schade, blieben bei diesem Fest des gepflegten Trashs so viele Stühle leer, denn wir waren uns einig: Die pulp fiction bescherte uns kurzweilige drei Stunden mit liebevoll nerdigem Schund.

Marco Neuhaus, Julia Sjöberg 

Tip topi Flip-Flop

Die grosse Menschenmenge vor der Solothurner Landhausquai-Aussenbühne lässt es vermuten: Hier ist ein Könner am Werk. Dieser Könner heisst Pedro Lenz, der beim Publikum für verdiente Begeisterung sorgt. Lenz, dieser grosse Mann, setzt sich für seine Kurzlesung nicht hin. Er steht in voller Grösse da, wohl zur Freude der Zuschauenden in den hinteren Reihen.

Er spricht in seinem Auftritt aus, was wir uns manchmal so denken – zwischen den grossen Gedanken. In seinen Passagen aus Hert am Sound menschelt es gewaltig. Angefangen bei den „Gschwelti“, die er „gschwind“ machen will, kommt er zu Crèmeschnitten. Über den Zuckerguss dieser Crèmeschnitten kommt er zu einem Radiosender, der die beste Musik spielen soll. Denn dieser Zuckerguss passe so viel besser auf Crèmeschnitten als in die immergleichen Songs auf besagtem Radiosender mit ihrem „Shalala“ und „Shake your body“.

Immer wieder kommt er mit seinen Gedankengirlanden auch auf „Tip topi Flip-Flop“. Er hat solche tip topi Flip-Flop nämlich an den Füssen einer bildhübschen Frau auf der Strasse gesehen und fragt sich, ob seine Mutter nie solche tip topi Flip-Flop gekauft habe. Und wenn ja: wieso nicht? Weil es sind so tip topi Flip-Flop! Schlussendlich kauft er sich selber ein Paar tip topi Flip-Flop und geht damit in der Stadt herum. Auf diesem Rundgang begleitet ihn die Frage, warum wir so viel „Längizyti“ haben, wo das Leben doch so kurz sei.

Oder er entdeckt einen Zettel, auf dem ein Hund vermisst wird. Dieser Zettel hängt jedoch unglücklicherweise im Glasfenster eines asiatischen Take-aways, was einen ungewollten Gedankenstrom in Gang setzt. Hat man da nicht mal was gelesen von Asiaten, die dem Grillieren von Hunden nicht ganz abgeneigt seien? Also weiter zu den Shops auf dem Weg zum Bahnhof, die dann dummerweise aber doch wieder Hot-dogs verkaufen. Ungeschickt.

Diese Gedankenströme, bei denen ein Geistesblitz auf den nächsten folgt, werden von Lenz in einem für das Berndeutsche fast unvorstellbaren Tempo mit wippendem Fuss und locker schwingendem Körper vorgetragen. Das Lachen des Publikums folgt deshalb stets etwas zeitverzögert – aber es folgt mit Sicherheit. Und das nicht nur, weil der Redner in Berndeutsch referiert. „Mir löi si chalt, di chalte Kafi“, fügt er zwischen zwei Gedanken noch an. Was er hier geboten hat, lässt jedoch keinen kalt.

Olivia Meier, Selina Widmer

Der Geschichtenerzähler

Auf dem Zeitplan vor der Aussenbühne beim Landhausquai ist Robert Prosser mit seinem Roman Phantome angekündigt. Das Rednerpult jedoch ist leer. Das Publikum wird langsam nervös, hektisch spricht eine Mitarbeiterin der Literaturtage ins Telefon: „Robert, du hättest jetzt eine Lesung.“ Kein guter Start für den österreichischen Autor? Keineswegs, das Warten lohnt sich! Denn das Buch, das auf dem Tisch des Aussenpodiums liegt, bleibt zu: Der Autor rezitiert zwanzig Minuten lang aus seinem Roman. Auswendig. Robert Prosser spricht rhythmisch mit hartem, rollenden R. Seine Hände kreisen vor dem Gesicht, sie betonen jedes Wort.

In seinem Buch schildert Prosser den Jugoslawienkrieg und dessen Folgen in der heutigen Zeit. Sein Blick ist erhoben, er schaut direkt ins Publikum und erzählt vom verbotenen serbischen Dreifingergruss, vom Begräbnis eines dreifarbigen Pferdes, das vergiftet worden ist und der rechten Hand eines Cousins. Diese wurde in einem Massengrab in der Nähe von Srebrenica gefunden und sei ein Platzhalter geworden für die ganze Person.

Der Roman ist dreigeteilt: den ersten und letzten Teil bilden Monologe von einem Graffitikünstler und einem Kriegszeitzeugen. Unterbrochen werden sie von einem Bericht von Krieg, von Flucht und dem Aufbruch in ein neues Leben in Wien.

Nach zwanzig Minuten ohne einmal zu stottern oder aus dem Takt zu fallen, klatscht das Publikum den verdienten Beifall, der lange anhält. In den abflachenden Applaus hinein merkt Prosser noch an: „Ich habe zwei Namen verwechselt. Doch da ich zu Beginn den falschen nannte, wollte ich nicht mehr wechseln, um sie nicht zu verwirren. Nur dass Sie beim Lesen des Romans nicht überrascht sind.“ Den Roman lesen – das kann man nur jedem empfehlen.

Olivia Meier, Maya Olah

Von Siegertypen und Wortrückseiten

Schnell lockert sich die Stimmung im Solothurner Stadttheater, als der Kulturjournalist Pablo Haller mit einem wohlkalkulierten Versprecher über Gion Mathias Caveltys Genese der Menge ein kollektives, schockiert-belustigtes Glucksen abschmeicheln kann: «…isch 1974 gebore, hät in Fribourg studiert – italienischi und rätoromanischi Gschicht, äh, Sproch. Rätoromanischi Gschicht, wohrschinli gäbs nideso vill.»

Der im weissgestreiften, schwarzen Anzug sitzende Metalfan Gion Mathias Cavelty reagiert daraufhin mit vorgeblicher Entrüstung, indem er, das Mikrofon in der Hand, eine ausholende Geste gen Haller andeutet.

Gewiss, dies ist eine Vorstellung sondergleichen, einzig die beiden Scheinwerfer und vielleicht die kleine Bühne bewahren die belustigten Zuschauer vor dem Eindruck, sie wohnten einem gemütlichen Plauderstündchen bei. Gewidmet ist die Lesung jedoch Gion Mathias Caveltys neustem Schelmenstück, äh, Buch – Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Mit väterlich-jovialer Erzählstimme trägt Cavelty Kapitel für Kapitel aus seinem «höchst fiktiven Roman» vor und blickt dann und wann mit einem verschwörerischen Blick ins Publikum, das betört an seinen Lippen hängt. Es ist vornehmlich Cavelty selbst, der nebst all den wunderlichen Abenteuern Franz Klammers – dem Zufallsmord an Jesus Christus, Ausführungen über Templer, Nationalsozialisten und die endgültige Absurdität der Welt – massgeblich das Kolorit der Veranstaltung bestimmt. Kunstgerecht trifft Cavelty all die Höhen und Intonationen des österreichischen Dialekts seiner Figuren, eine humoristische Kulmination überholt die andere, bis – und da huscht nahezu unmerklich ein schelmisches Grienen über Caveltys Gesicht – er bedächtig das letzte Wort seiner Lesung vorliest.

Da zaubert Haller schon seinen nächsten Gag aus dem Hut, oder besser gesagt ein Replikat von Franz Klammers Goldmedaille und überreicht sie dem Autor. Man lacht, Cavelty beisst ins Gold.

(Cavelty im Genuss eines Goldstücks.)

Wie einnehmend Cavelty auch sein kann, dergestalt ernst spricht er auch darüber, was ihn literarisch bewegt. Nonsens sei für Cavelty die höchste Kunst der Literatur: ein «hermetisches Prinzip, das eigentlich besagt, das Obere ist das Untere», führt Cavelty aus. Und auch spezifisch auf seinen Roman bezogen offenbart er dem Publikum, er habe sich seit Langem schon intensiv mit dem «Geist» der Gnosis auseinandergesetzt. Einem festgefahrenen, doktrinistischen System das Gegenteil aufzuzeigen, das sei immerzu Caveltys Drang gewesen.

Franz Klammer sei wahrhaftig ein Idol für Cavelty und sein Buch verlangte nach einem absoluten Siegertyp, es endet ja schliesslich auch im «Totaltriumph von Franz Klammer», verrät uns der Autor. Eine Figur, sagt Cavelty, die ihm zwar am weitesten entfernt ist (er selbst behauptet ja, er sei das Gegenteil eines Sportlers), ist auch die Leitfigur, die ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Franz habe nämlich etwas Unfassbares geschafft – er reduzierte sein Leben auf einen einzigen Satz: «Schifoan und sunst nix».

Das Wort beinhalte, so fabuliert Cavelty achtungsvoll und allmählich raunend, eine Magie, nach der man nicht einfach so greifen kann; das Wort werde lebendig. Und da zeigt sich vielleicht doch eine Parallele zu Franz Klammer, denn wie seinen Skirennfahrer, so interessierte Cavelty auch im Grunde eines. Für ihn ist es die Frage:

«Was befindet sich auf der Rückseite des Wortes?»

Blumen wachsen aus dem Kopf

Der Platz vor der Aussenbühne Landhausquai füllt sich, Menschen reihen sich in die Sitzreihen ein und bilden stehend weitere Reihen um die bereits bestehenden herum. Gespannt schauen alle in Richtung Rednerpult, noch ist niemand da. Dann kommt sie und liest. Melinda Nadj Abonji trägt aus ihrem neuen Buch Schildkrötensoldat vor.

Sie entführt uns in eine andere Welt – in vielerlei Hinsicht. Einerseits ist es die Welt von Serbien im Jahr 1991. Andererseits ist es die Welt des wunderbar phantasievollen jungen Mannes Zoli, der so gar nicht zum Militärdienst passt, den er absolvieren sollte. Er spricht von seinem Unfall, als er vom Motorrad seines Vaters gefallen ist. In Worten, die nur so sprudeln vor Poesie. Er spricht von Blumen, die aus seiner Wunde im Kopf herauswachsen und die dann plötzlich doch keine Blumen mehr sind, sondern Vögel. Er sieht die Welt auf seine ganz eigene Art. Blumen, Vögel, Farben, alles scheint er stärker wahrzunehmen als seine Mitmenschen, vor allem als seine Eltern.

Die grobe Sprache des Vaters steht im krassen Kontrast zu Zolis feiner Wahrnehmung. Zoli erzählt sehr assoziativ und unruhig. Als ob alles raus müsste, mit einem Schwall. Nadj Abonji betont den Rhythmus dieser drängenden Sprache mit unterstreichenden Handbewegungen auf dem Tisch. Das Publikum ist gebannt. Für zwanzig Minuten sind wir dank Melinda Nadj Abonjis farbenstarken Worten in einer anderen Welt.

Sackgassen oder existenzielle Schleudertraumata

18 Uhr. Das Foyer des Stadttheaters ist zum Bersten gefüllt. Ungeduldig warten die Besucher auf den Einlass. Mit einigen Minuten Verspätung beginnt schliesslich die Lesung von David Signer aus seinem neusten Werk Dead End – so glauben wir zumindest. Was dann aber folgt, ist eine euphorische Lobrede des Moderators Florian Vetsch auf den Autor, die kein Ende zu nehmen scheint. Dabei stellen wir uns die Frage, ob Signer diesen Vorschusslorbeeren gerecht werden kann.

Mit ruhiger Stimme liest Signer Ausschnitte aus drei seiner acht Erzählungen von Dead End vor. Sie alle weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Alle Protagonisten sind männlich, weiss und um die 40 Jahre alt. Durch seltsame Zufälle geraten sie in vertrackte Situationen, aus denen sie nicht wieder herauskommen – Sackgassen, oder auf Englisch Dead Ends. Wer dabei die grosse Tragik erwartet, irrt gewaltig: Die Geschichten triefen vor Humor, der genauso düster ist, wie die Milieus, in denen die Handlungen spielen.

Ein ominöses Erbe wartet darauf, in Empfang genommen zu werden und der Einzige, der dafür in Frage kommt, ist Christian Hartmann, Mathematiker und chronisch misstrauisch. Trotzdem rutscht er Schritt für Schritt in sein Verderben. Dies passiert auch Fred, der ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt unter dem Motto „to have a walk on the wild side“. Die Sinne von Drogen vernebelt, trifft er auf die viel jüngere Juliane und verliebt sich auf Anhieb. In absurden Zufällen glaubt er einen tieferen Sinn zu erkennen. Ihre blauen Augen erinnern ihn an den Bodensee – was für eine glückliche Fügung des Schicksals für den Schweizer! Am nächsten Tag versucht er sie anhand von Erinnerungsfetzen wieder aufzuspüren, wobei er ebenso in sein Verderben rennt, wie Christian Hartmann zuvor.

Der schwarze Humor kommt beim Publikum ebenso gut an wie beim Moderator, der die Augen während der Lesung nicht vom Text lassen und sich vor Lachen kaum halten kann. Zu Recht, denn die beschriebenen Situationen sind in ihrer witzigen Absurdität kaum zu überbieten.

Im anschliessenden Gespräch gesteht Signer seine Vorliebe für amerikanische Literatur. Die deutschsprachige Literatur weise für Signer einen zu grossen Fokus auf die Innerlichkeit auf, während in der amerikanischen Literatur die Figuren in die Handlung herausgeschleudert würden. Letzteres will auch Signer in seinen Texten erreichen. Dies ist ihm gelungen. In Dead End werden die Figuren der Handlung hilflos ausgesetzt, trotz vergeblicher Versuche, diese selbst zu bestimmen. Glaubt man Signers eigenen Worten im Gespräch, erleben die Figuren in Dead End ein „existenzielles Schleudertrauma“.

18:50 Uhr. Die Zeit drängt. Bis um 22 Uhr hätte die Lesung weitergehen können, findet der Moderator. Das finden wir auch.

Simon Härtner und Fabienne Suter