Geschichten aus dem Holzkoffer

Bunte Buchstaben hängen gross in der Luft, Kissen, Märchenbücher und Malstifte bedecken kaleidoskopartig die niedrigen Tischchen im Raum, der von einem diffusen Gelächter durchflutet wird. Im zweiten Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung findet sich inmitten literarischer Hektik eine wundersame Oase. Hier wird keine Ernsthaftigkeit gepriesen, keine Textstelle minutiös betont oder analysiert – es ist ein Ort, an dem der ursprünglichste Teil des Menschen sein zuhause findet. Ein Ort für Kinder.

«Lueg, do chasch anesitze und Geschichtli lose», nimmt die Kinderhortleiterin einen kleinen Jungen zur Hand und weist zur winzigen Bühne, auf der ein Holzkoffer steht.

«Wötsch anesitze?», fragt sie ihn. 

Im nahezu vergessenen klassischen Lagerfeuerstil wird hier Mira Gysis Geschichte Die Geiss, die alles weiss von der Leseanimatorin Franziska Honegger präsentiert und zwar mittels eines Kamishibai-Bildtheaters. Das japanische Kompositum aus kami (dt.: Papier) und shibai (dt.: Schauspiel) bezeichnet ein traditionell japanisches Papiertheater in einem Holzkoffer.

Vor der kleinen Theateraufführung teilt Franziska Honegger den Kindern kleine Stoffsäckchen aus, in die sie hineingreifen müssen, um die Protagonisten des Theaterstücks zu befühlen. Hineingucken gilt nicht.  Ein Gummitier mit einem langen Fortsatz. Es sind kleine Mäuse! Grossäugig blicken die Kinder auf die Bühne, als schon das nächste Säckchen verteilt wird. Eine Geschichte, in der die Figuren wahrhaftig spürbar werden.

Die Protagonisten stehen fest – «Muus, Schneck, Geiss, Chatz». Die Geiss (Ziege) ist die wichtigste Figur. Es ist die Geiss, die alles weiss. Ein Dutzend Bilder erzählen von ihrer Entdeckungsreise auf dem Bauernhof, während Honegger den Papierfiguren ihre Stimme leiht. Die Geschichte ist durchwegs interaktiv gestaltet, fortwährend schlüpft Honegger aus ihrer Erzählerrolle und durchbricht die illusorische Geschlossenheit eines klassischen Theaterstücks. Freilich existiert nur eine einzige Wand, die Wand auf der die Szenen Bild für Bild ersetzt werden. Zu jedem Bild werden die Kinder gefragt, was sie auf der Miniaturbühne sehen.

(Franziska Honegger mitten in ihrer Performanz)

«Chäs-chatz», ruft plötzlich ein blondlockiges Mädchen in der vordersten Reihe. Die Eltern im Hintergrund lachen auf.

Zum Schluss öffnet Honegger einen braunen Flechtkorb und reicht den Kindern kleine, mit Laken überdeckte Tupperwaredosen mit Lebensmitteln aus dem Bauernhof. Was die Kleinen genau erschnuppert haben, das fragt man sie am besten selbst. Im Kamishibai-Bildtheater, zweiter Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung…

Von Siegertypen und Wortrückseiten

Schnell lockert sich die Stimmung im Solothurner Stadttheater, als der Kulturjournalist Pablo Haller mit einem wohlkalkulierten Versprecher über Gion Mathias Caveltys Genese der Menge ein kollektives, schockiert-belustigtes Glucksen abschmeicheln kann: «…isch 1974 gebore, hät in Fribourg studiert – italienischi und rätoromanischi Gschicht, äh, Sproch. Rätoromanischi Gschicht, wohrschinli gäbs nideso vill.»

Der im weissgestreiften, schwarzen Anzug sitzende Metalfan Gion Mathias Cavelty reagiert daraufhin mit vorgeblicher Entrüstung, indem er, das Mikrofon in der Hand, eine ausholende Geste gen Haller andeutet.

Gewiss, dies ist eine Vorstellung sondergleichen, einzig die beiden Scheinwerfer und vielleicht die kleine Bühne bewahren die belustigten Zuschauer vor dem Eindruck, sie wohnten einem gemütlichen Plauderstündchen bei. Gewidmet ist die Lesung jedoch Gion Mathias Caveltys neustem Schelmenstück, äh, Buch – Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Mit väterlich-jovialer Erzählstimme trägt Cavelty Kapitel für Kapitel aus seinem «höchst fiktiven Roman» vor und blickt dann und wann mit einem verschwörerischen Blick ins Publikum, das betört an seinen Lippen hängt. Es ist vornehmlich Cavelty selbst, der nebst all den wunderlichen Abenteuern Franz Klammers – dem Zufallsmord an Jesus Christus, Ausführungen über Templer, Nationalsozialisten und die endgültige Absurdität der Welt – massgeblich das Kolorit der Veranstaltung bestimmt. Kunstgerecht trifft Cavelty all die Höhen und Intonationen des österreichischen Dialekts seiner Figuren, eine humoristische Kulmination überholt die andere, bis – und da huscht nahezu unmerklich ein schelmisches Grienen über Caveltys Gesicht – er bedächtig das letzte Wort seiner Lesung vorliest.

Da zaubert Haller schon seinen nächsten Gag aus dem Hut, oder besser gesagt ein Replikat von Franz Klammers Goldmedaille und überreicht sie dem Autor. Man lacht, Cavelty beisst ins Gold.

(Cavelty im Genuss eines Goldstücks.)

Wie einnehmend Cavelty auch sein kann, dergestalt ernst spricht er auch darüber, was ihn literarisch bewegt. Nonsens sei für Cavelty die höchste Kunst der Literatur: ein «hermetisches Prinzip, das eigentlich besagt, das Obere ist das Untere», führt Cavelty aus. Und auch spezifisch auf seinen Roman bezogen offenbart er dem Publikum, er habe sich seit Langem schon intensiv mit dem «Geist» der Gnosis auseinandergesetzt. Einem festgefahrenen, doktrinistischen System das Gegenteil aufzuzeigen, das sei immerzu Caveltys Drang gewesen.

Franz Klammer sei wahrhaftig ein Idol für Cavelty und sein Buch verlangte nach einem absoluten Siegertyp, es endet ja schliesslich auch im «Totaltriumph von Franz Klammer», verrät uns der Autor. Eine Figur, sagt Cavelty, die ihm zwar am weitesten entfernt ist (er selbst behauptet ja, er sei das Gegenteil eines Sportlers), ist auch die Leitfigur, die ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Franz habe nämlich etwas Unfassbares geschafft – er reduzierte sein Leben auf einen einzigen Satz: «Schifoan und sunst nix».

Das Wort beinhalte, so fabuliert Cavelty achtungsvoll und allmählich raunend, eine Magie, nach der man nicht einfach so greifen kann; das Wort werde lebendig. Und da zeigt sich vielleicht doch eine Parallele zu Franz Klammer, denn wie seinen Skirennfahrer, so interessierte Cavelty auch im Grunde eines. Für ihn ist es die Frage:

«Was befindet sich auf der Rückseite des Wortes?»

„When you say X, the bot says Y“

Prolog

Definition Chatbot: Ein textbasiertes, autonomes Computerprogramm, das für Dialoge und Chatinteraktionen konzipiert wurde.

Definition Turingtest: Ein von Alan M. Turing entwickelter Test, der entscheiden soll, ob eine Maschine dem Menschen intellektuell ebenbürtig sei. Gelingt es der Maschine (bzw. Programm) den Menschen zu überzeugen, sie sei keine Maschine, gilt der Turingtest als bestanden.

Definition Eastereggs: Besondere Botschaften, Interaktionen und Meldungen, die von Designern und Programmierern in ihren Computerprogrammen versteckt wurden.

Die Reise beginnt – Chatbots und ihre Figurenzeichnung

Nur langsam trudeln die letzten Besucher in den schwach beleuchteten Seminarraum des Zukunftsateliers ein, als die Türen geschlossen werden und sich alle Blicke nach vorne richten, während das Geflüster abklingt. Der Raum ist mehrheitlich weiss, gar steril und vor allem verheissungsvoll modern; einzig die Backsteinwand wispert von vergangenen Tagen des alten Landhausgebäudes. Noch ahnt man nichts. Der Moderator Roland Fischer begrüsst heute zwei der erfolgreichsten Chatbotdesigner – Jacqueline Feldman und Steve Worswick.

So verwundert es nicht, dass der Einstieg unkonventionell und somit erfrischend ausfällt. Man beginnt prompt mit einer Skype-Direktübertragung. Marione Sardone, die Hauptverantwortliche für die Microsoft-Sprachassistentin Cortana Deutschland befindet sich am Ende der Leitung. Cortana sei kein Bot, stellt Sardone als Erstes klar, bei Microsoft nenne man sie «Digitale Assistentin». Die Kontinuität im Verhalten sei das oberste Gebot bei der Programmierung. Direkt spricht sie von Charakterzügen der Assistentin. So dürfe sie nicht kumpelhaft sein oder anzügliche Witze vorbringen, vielmehr müsse sie konstant in der User-Interaktion sein und angenehm: «Es ist eine vertrauensbildende Massnahme», so Sardone.

So weit, so gut. Doch nun schreiten wir durch die Pforten der Paradoxie und erfahren, dass Cortana noch einen Schritt weitergeht. In ihrem Design wurden echte Menschen zum Vorbild genommen. Ihr Charakter besteht aus vier Kerneigenschaften, nennen wir sie die vier Tugenden: Hilfsbereitschaft, Neutralität, positive Einstellung und Transparenz. Auf gar keinen Fall jedoch dürfe sie einen Menschen simulieren. Letztendlich sei Cortana eine helfende künstliche Intelligenz (AI) mit einem differenzierten kulturellen Verhalten. Eine japanische Cortana unterscheide sich somit von einer brasilianischen, unterstreicht Sardone.

Nicht menschlich, jedoch mit Persönlichkeit – so lautet also kurz die Devise. Und um ja keine «Sympathiepunkte» zu verlieren, darf Cortana auch auf die Frage «Soll ich duschen?» hin keine Antwort verweigern. Wahrlich, menschlich ist Cortana nicht.

Genderless is the new black

Gegen menschliche Chatbots entschied sich auch die junge New-Yorkerin Jacqueline Feldman, die unter anderem als Autorin, Journalistin, Übersetzerin und Chatbotdesignerin tätig ist. In ihrer jüngsten Arbeit entwickelte und skriptete sie (d.h. erstellte Dialoge) innerhalb von vier Monaten KAI, einen Bot für «consumer banking tasks». Während der Botentwicklung untersuchte Feldman die Sprachassistentin Amazon Alexa in ihrem Interaktionsverhalten und kam zum Schluss, Alexa sei «sublime, latent christian and feminine». Für Feldman schlicht nicht vertretbar. Ihre Lösung war ein «genderless» bot, der sich als «it» bezeichnet. In englischer Sprache überzeugend, in der deutschen könnte man «es» überdenken.

Der literarische Hintergrund Feldmans ermöglichte es ihr schliesslich, eine «botlike» Persönlichkeit des Bots zu entwerfen, der sich seiner Roboternatur bewusst ist und stets auf diese verweist. Er ist textbasiert und ein Sammelsurium menschlicher Idiome. Stellt der User themenabweichende Fragen, so entstehen Dialoge, die man als «Eastereggs» bezeichnen kann:

Human: «Do you ever sleep?»

KAI: «This does not compute, as the humans say.»

….

KAI: «My knowledge is specific, not general. What’s the best banking question?»

(KAI ist zu finden unter: https://kasisto.com/kai/)

Ist Skynet schon Realität? Nicht wirklich.

Als Letztes wird Steve Worswick vorgestellt, der Schöper des Chatbots Mitsuku. Worswick ist ehemaliger Technomusik-Produzent und wurde im Jahr 2005 von Mousebraker angestellt, den Chatbot Mitsuku zu programmieren. Ihm allein gelang es im Ein-Mann-Job, sich von Bots wie Alexa oder Cortana abzusetzen. Mit seinem Chatbot gewann Worswik drei Mal den Loebnerpreis, denn Mitsuku war in der Lage, den Turingtest zu bestehen.

(Entwicklung von Mitsuku seit 2005. Mitsuku ist zu finden unter: www.pandorabots.com)

Gleichwohl sind Worswicks Worte ernüchternd und zerstören das Spiegelkabinett der Technologie-Idealisierung – der Mensch erwarte, mit C3P0 zu sprechen, doch die Technologie sei schlicht noch nicht da. Ein Chatbot sei nichts anderes als: «When you say X, the bot says Y», klärt Worswick auf. Bis heute, also 13 Jahre später, erweitert Worswick lediglich den Sprachkorpus des Chatbots, die Software sei nämlich immer noch dieselbe. Trotz allem unterstelle ihm seine Frau heute noch im Jux, er verbringe mehr Zeit mit Mitsuku als mit ihr.

Fazit

Die Chatbotdesigner Feldman und Worswick sind sich einig, Chatbots sind mehr Literatur als ein einfaches Programm. Mit der Zeit wohnt ihnen eine Persönlichkeit inne, die sich durch «Glitches» und abweichende Antworten bemerkbar macht. Und um nochmals alle Verschwörungstheoretiker zu beruhigen: Eine «super intelligence» hat man heute noch nicht zu befürchten. Diese Zukunft liegt noch fern.

Finde die Zukunft II

„Wir suchen die Ausstellung vom Zukunftsatelier zu Chatbots, die sollte hier im Foyer sein.“ – „Eine Sekunde. – Mammi, säg mol, weisch du wo die Uusstellig isch?“

Noch lassen Exposition und Zukunft auf sich warten. In der Zwischenzeit plaudern wir mit unseren analogen Gesprächspartnerinnen, die hilfsbereit und engagiert an den Solothurner Literaturtagen mitwirken: Nicole Jenni und ihre Tochter Lea.

Nicole, wie lange arbeitest du schon bei den Solothurner Literaturtagen?

Seit 4 Jahren.

Auf welche Veranstaltung freust du dich besonders?

Ich bekomme gar nicht so viel mit, weil ich immer mit der Kasse am rumspringen bin. Ich bin hier Ansprechperson und mein Telefon ist auf laut, darum ist das nicht so gut, wenn ich hier drinnen sitze. Aber die Eröffnung gestern war total cool und ich finde die vielen Leute, die sich für die Literaturtage interessieren, einfach sehr spannend. Auch wenn ich kaum Zeit habe, um an eine Lesung zu gehen, bleibt es interessant

Was für Begegnungen machst du bei deiner Arbeit?

So spontane Begegnungen wie jetzt mit euch. Das ist jetzt gerade ein gutes Beispiel dafür, wie wir behilflich sein, etwas abklären können und Fragen beantworten können, die auftauchen. Manchmal sind es auch Geschichten, die entstehen, wenn man mit jemandem ins Gespräch kommt. Das ist wirklich sehr schön.

Gibt es irgendetwas, das dir besonders gefällt an der Arbeitsatmosphäre der Solothurner Literaturtage?

Wir sind ein mega cooles Team. Die meisten sind jung – ich bin zwar die Älteste – und wir sind ein aufgestelltes, motiviertes Team. Das ist wirklich super.

Lea, wie lange bist du schon bei den Solothurner Literaturtagen dabei?

Seit 3 Jahren. Im ersten Jahr sind wir mit der Klasse hierhergekommen. Auch jetzt arbeitet eine ganze Gymnasiumklasse an den Literaturtagen, um Geld für die Maturareise zu verdienen. Später habe ich dann über meine Mutter wieder an den Literaturtagen arbeiten können.

Hast du denn Zeit, um Lesungen zu besuchen?

Wenn ich nicht im Lernstress bin, ja. Die letzten paar Jahre habe ich nicht so viel nebenbei gesehen, weil ich noch viel für die Schule zu tun hatte. Aber eigentlich finde ich es schön, wenn man neben der Arbeit Zeit findet, um Veranstaltungen zu besuchen und ich habe mir für dieses Jahr vorgenommen, dies zu machen.

Was für Veranstaltungen hast du dir denn vorgenommen?

Es gibt eine Veranstaltung über den Balkankrieg, dort möchte ich reinsitzen. In der Schule haben wir Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji gelesen, die an dem Podium dabei sein wird. Das Buch hat mir sehr gefallen und dadurch, dass wir es in der Schule analysiert haben, bekommt man einen anderen Einblick in ein Buch.

Herzlichen Dank an Nicole und Lea für die Bereitschaft, spontan Rede und Antwort zu stehen.

Interview: Shantala Hummler, Foto: Artiom Christen

Finde die Zukunft I

Entschuldigung, wo ist hier schon wieder die Zukunft?

Der Brücken viele, zu wenige der Wege, schlendern wir der Zukunft entgegen. Unser erstes Ziel: die Ausstellung des Zukunftsateliers zu Chatbots.

So denken wir zumindest.

Irrwege, wo immer wir hingehen. Just im letzten Moment erblicken wir aus den Augenwinkeln die imposanten Gemäuer des Landhauses. Ermuntert betreten wir die grossräumige Eingangshalle, von Hinweisschildern keine Spur. Wir suchen weiter, die Treppen hoch, da umschmeichelt aromatischer Kaffeeduft unsere Nasen, während sich unser Blick an dem verlorenen Lichtkegel im schattigen Foyer festmacht.

Chatbot says: error 404 – future not found.

Die Zukunft glänzt durch Abwesenheit. Oder alles Programm? Die totale Digitalisierung.

Dann der Lichtblick: zwei goldene Engel.

Fortsetzung folgt…

Artiom Christen und Shantala Hummler 

Unser Team in Solothurn: Artiom Christen

Artiom Christen studiert Germanistik und Russistik in Zürich. Als Verfechter der Digitalisierung und notorischer Bücherleser auf dem Smartphone ist für ihn das Zukunftsatelier in Solothurn die erste Destination. Soll es Siri, Bixby, Alexa oder doch der gute alte analoge Nachbar von nebenan sein? Ob die Menschen als Gesprächspartner ersetzt wurden, das gilt für ihn herauszufinden.

In der Textwerkstatt des Literaturfestes beabsichtig er, vorsichtig über den literarischen Zaun Edens zu linsen, um einen Blick in die Köpfe der Autorinnen und Autoren zu erhaschen. Die Frage aller Fragen soll endlich beantwortet werden: Welcher Schriftstellertypus ist nun besser — Gärtner oder Architekt?