Blumen wachsen aus dem Kopf

Der Platz vor der Aussenbühne Landhausquai füllt sich, Menschen reihen sich in die Sitzreihen ein und bilden stehend weitere Reihen um die bereits bestehenden herum. Gespannt schauen alle in Richtung Rednerpult, noch ist niemand da. Dann kommt sie und liest. Melinda Nadj Abonji trägt aus ihrem neuen Buch Schildkrötensoldat vor.

Sie entführt uns in eine andere Welt – in vielerlei Hinsicht. Einerseits ist es die Welt von Serbien im Jahr 1991. Andererseits ist es die Welt des wunderbar phantasievollen jungen Mannes Zoli, der so gar nicht zum Militärdienst passt, den er absolvieren sollte. Er spricht von seinem Unfall, als er vom Motorrad seines Vaters gefallen ist. In Worten, die nur so sprudeln vor Poesie. Er spricht von Blumen, die aus seiner Wunde im Kopf herauswachsen und die dann plötzlich doch keine Blumen mehr sind, sondern Vögel. Er sieht die Welt auf seine ganz eigene Art. Blumen, Vögel, Farben, alles scheint er stärker wahrzunehmen als seine Mitmenschen, vor allem als seine Eltern.

Die grobe Sprache des Vaters steht im krassen Kontrast zu Zolis feiner Wahrnehmung. Zoli erzählt sehr assoziativ und unruhig. Als ob alles raus müsste, mit einem Schwall. Nadj Abonji betont den Rhythmus dieser drängenden Sprache mit unterstreichenden Handbewegungen auf dem Tisch. Das Publikum ist gebannt. Für zwanzig Minuten sind wir dank Melinda Nadj Abonjis farbenstarken Worten in einer anderen Welt.

„Every sentence can be a sentence.“

„Jeder Satz kann ein Urteil sein“, gibt Melinda Nadj Abonji am Diskussionspodium im Solothurner Landhaussaal zu bedenken. Thema der Diskussion: „Die Balkan-Kriege – Wie geht die Literatur damit um?“ Einigkeit besteht unter den Podiumsteilnehmenden schnell darin, dass ein dokumentarischer Zugang zum Scheitern verurteilt ist, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen:

Robert Possner, der aus dem Tirol stammt, hatte zu Beginn gar keinen persönlichen Bezug zu den Jugoslawien-Kriegen. Diesen musste er für sein Buchprojekt Phantome zunächst durch Reisen, ausführliche Interviews und Recherchen erarbeiten. Seine Anekdoten lassen durchblicken, dass es selbst als Unbeteiligter kaum möglich ist, im Angesicht dieser Ereignisse eine emotionale Distanz zu wahren.

Ganz anders liegen die Dinge bei Jeton Neziraj, dessen schriftstellerische Tätigkeit durch das Schreiben von propagandistischen Texten im Dienste der kosovarischen Armee ihren Anfang nahm. Als unmittelbar Betroffener besteht die Herausforderung für ihn darin, die Distanz zum Geschehen zu gewinnen, die für klischeefreies, multiperspektivisches Schreiben notwendig ist. Das ermöglicht ihm eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema, obwohl er heute noch mit Morddrohungen von Nationalisten zu kämpfen hat.

Melinda Nadj Abonji nimmt in gewisser Hinsicht eine Zwischenposition in dieser Konstellation ein. Als in der Schweiz lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in der Vojvodina nahm sie durch Berichte von Verwandten und Medien Anteil am Kriegsgeschehen. Damalige deutschsprachige Pressestimmen haben ihrer Meinung nach aber gerade wegen distanzloser Übernahme unreflektierter Schlagwörter vor dem Kriegsgeschehen versagt. Entsprechend warf sie die Frage ein, wie man überhaupt über den Krieg berichten könne ohne die Anmassung, über das Geschehen verfügen zu können. Die Sätze sollen eben keine Urteile sein.

Was kann die Literatur also leisten? Ihr Potential als Erziehung wird zwar bezweifelt – „We never learn“, sagt Jeton Neziraj. Dennoch geht Melinda Nadj Abonji davon aus, dass die Literatur Utopien aufzeigen kann.

Angesichts dieser sehr verschiedenen literarischen und biografischen Perspektiven ist es schade, dass es im Verlauf der Diskussion zu erstaunlich wenig Interaktion kam. Auch die Texte wurden gegenseitig kaum kommentiert. Die Zugänge schienen eher nebeneinander zu existieren, nur gelegentlich fanden Wortwechsel zwischen den Autor_innen selbst statt. Fazit: Obwohl die Frage im Veranstaltungstitel erwartungsgemäss nicht abschliessend beantwortet wurde, erhielt das Publikum Einblick die Rolle der Literatur im Kontext von Brutalität, Gewalt und der „Militarisierung der Köpfe“.

Mia Jenni, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg, Fabienne Suter