Sackgassen oder existenzielle Schleudertraumata

18 Uhr. Das Foyer des Stadttheaters ist zum Bersten gefüllt. Ungeduldig warten die Besucher auf den Einlass. Mit einigen Minuten Verspätung beginnt schliesslich die Lesung von David Signer aus seinem neusten Werk Dead End – so glauben wir zumindest. Was dann aber folgt, ist eine euphorische Lobrede des Moderators Florian Vetsch auf den Autor, die kein Ende zu nehmen scheint. Dabei stellen wir uns die Frage, ob Signer diesen Vorschusslorbeeren gerecht werden kann.

Mit ruhiger Stimme liest Signer Ausschnitte aus drei seiner acht Erzählungen von Dead End vor. Sie alle weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Alle Protagonisten sind männlich, weiss und um die 40 Jahre alt. Durch seltsame Zufälle geraten sie in vertrackte Situationen, aus denen sie nicht wieder herauskommen – Sackgassen, oder auf Englisch Dead Ends. Wer dabei die grosse Tragik erwartet, irrt gewaltig: Die Geschichten triefen vor Humor, der genauso düster ist, wie die Milieus, in denen die Handlungen spielen.

Ein ominöses Erbe wartet darauf, in Empfang genommen zu werden und der Einzige, der dafür in Frage kommt, ist Christian Hartmann, Mathematiker und chronisch misstrauisch. Trotzdem rutscht er Schritt für Schritt in sein Verderben. Dies passiert auch Fred, der ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt unter dem Motto „to have a walk on the wild side“. Die Sinne von Drogen vernebelt, trifft er auf die viel jüngere Juliane und verliebt sich auf Anhieb. In absurden Zufällen glaubt er einen tieferen Sinn zu erkennen. Ihre blauen Augen erinnern ihn an den Bodensee – was für eine glückliche Fügung des Schicksals für den Schweizer! Am nächsten Tag versucht er sie anhand von Erinnerungsfetzen wieder aufzuspüren, wobei er ebenso in sein Verderben rennt, wie Christian Hartmann zuvor.

Der schwarze Humor kommt beim Publikum ebenso gut an wie beim Moderator, der die Augen während der Lesung nicht vom Text lassen und sich vor Lachen kaum halten kann. Zu Recht, denn die beschriebenen Situationen sind in ihrer witzigen Absurdität kaum zu überbieten.

Im anschliessenden Gespräch gesteht Signer seine Vorliebe für amerikanische Literatur. Die deutschsprachige Literatur weise für Signer einen zu grossen Fokus auf die Innerlichkeit auf, während in der amerikanischen Literatur die Figuren in die Handlung herausgeschleudert würden. Letzteres will auch Signer in seinen Texten erreichen. Dies ist ihm gelungen. In Dead End werden die Figuren der Handlung hilflos ausgesetzt, trotz vergeblicher Versuche, diese selbst zu bestimmen. Glaubt man Signers eigenen Worten im Gespräch, erleben die Figuren in Dead End ein „existenzielles Schleudertrauma“.

18:50 Uhr. Die Zeit drängt. Bis um 22 Uhr hätte die Lesung weitergehen können, findet der Moderator. Das finden wir auch.

Simon Härtner und Fabienne Suter

„Every sentence can be a sentence.“

„Jeder Satz kann ein Urteil sein“, gibt Melinda Nadj Abonji am Diskussionspodium im Solothurner Landhaussaal zu bedenken. Thema der Diskussion: „Die Balkan-Kriege – Wie geht die Literatur damit um?“ Einigkeit besteht unter den Podiumsteilnehmenden schnell darin, dass ein dokumentarischer Zugang zum Scheitern verurteilt ist, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen:

Robert Possner, der aus dem Tirol stammt, hatte zu Beginn gar keinen persönlichen Bezug zu den Jugoslawien-Kriegen. Diesen musste er für sein Buchprojekt Phantome zunächst durch Reisen, ausführliche Interviews und Recherchen erarbeiten. Seine Anekdoten lassen durchblicken, dass es selbst als Unbeteiligter kaum möglich ist, im Angesicht dieser Ereignisse eine emotionale Distanz zu wahren.

Ganz anders liegen die Dinge bei Jeton Neziraj, dessen schriftstellerische Tätigkeit durch das Schreiben von propagandistischen Texten im Dienste der kosovarischen Armee ihren Anfang nahm. Als unmittelbar Betroffener besteht die Herausforderung für ihn darin, die Distanz zum Geschehen zu gewinnen, die für klischeefreies, multiperspektivisches Schreiben notwendig ist. Das ermöglicht ihm eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema, obwohl er heute noch mit Morddrohungen von Nationalisten zu kämpfen hat.

Melinda Nadj Abonji nimmt in gewisser Hinsicht eine Zwischenposition in dieser Konstellation ein. Als in der Schweiz lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in der Vojvodina nahm sie durch Berichte von Verwandten und Medien Anteil am Kriegsgeschehen. Damalige deutschsprachige Pressestimmen haben ihrer Meinung nach aber gerade wegen distanzloser Übernahme unreflektierter Schlagwörter vor dem Kriegsgeschehen versagt. Entsprechend warf sie die Frage ein, wie man überhaupt über den Krieg berichten könne ohne die Anmassung, über das Geschehen verfügen zu können. Die Sätze sollen eben keine Urteile sein.

Was kann die Literatur also leisten? Ihr Potential als Erziehung wird zwar bezweifelt – „We never learn“, sagt Jeton Neziraj. Dennoch geht Melinda Nadj Abonji davon aus, dass die Literatur Utopien aufzeigen kann.

Angesichts dieser sehr verschiedenen literarischen und biografischen Perspektiven ist es schade, dass es im Verlauf der Diskussion zu erstaunlich wenig Interaktion kam. Auch die Texte wurden gegenseitig kaum kommentiert. Die Zugänge schienen eher nebeneinander zu existieren, nur gelegentlich fanden Wortwechsel zwischen den Autor_innen selbst statt. Fazit: Obwohl die Frage im Veranstaltungstitel erwartungsgemäss nicht abschliessend beantwortet wurde, erhielt das Publikum Einblick die Rolle der Literatur im Kontext von Brutalität, Gewalt und der „Militarisierung der Köpfe“.

Mia Jenni, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg, Fabienne Suter