Ein ruhiges Fliessen

Während draussen die Aare gelassen vor sich hinfliesst, machen sich drinnen im Landhaussaal sowohl Publikum wie auch der Mann der Stunde, Christian Haller, in schweizerischer Ordentlichkeit für die Lesung bereit. Fein säuberlich legt eine Frau ihr „Öpfelpütschgi“ in ein Papiertaschentuch, eine andere zupft die über den Stuhl gehängte Jacke des Vordermanns zurecht und Christian Haller öffnet seine schwarze Umhängetasche, aus der er sorgsam seinen neuen Roman Das unaufhaltsame Fliessen hervorzieht.

Nach Die verborgenen Ufer ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie, in der Haller seinen Weg zum Schriftsteller nachzeichnet. Der Roman wirkt fast noch ordentlicher als die Vorbereitungen zur Lesung. Jeder vorgelesene Ausschnitt ist darauf ausgelegt, sein Stück zum Werdegang des Autors beizutragen. Das Fliessen hin zu seinem Ziel war trotz verschiedener Rückschläge dann eben doch unaufhaltsam.

Zunächst wäre da die Begegnung mit der Witwe des bisher zu wenig beachteten Schriftstellers Adrien Turel. Fasziniert vom anarchischen Denken, das er in den Manuskripten des Verstorbenen antrifft, beschliesst Haller, sich um dessen Nachlass zu kümmern. Durch die Beschäftigung mit den Texten kommt es bei Haller zu einer ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Später wird er Zoologie studieren. Wie Haller im Gespräch mit Karin Schneuwly bekanntgibt, hatte die Naturwissenschaft und insbesondere das wissenschaftliche Schreiben einen grossen Einfluss auf seine Arbeit als Schriftsteller. Dadurch habe er gelernt, sich einfach und klar auszudrücken. Ein Schreiben, das ohne Redundanzen zum Kern der Sache vordringen soll.

Literarischen Input erhält Haller im Anschluss an ein Abendessen mit Georg Kreisler. Der bereits gestandene Künstler erklärt sich dazu bereit, Hallers Texte zu lesen und ihm ein schonungsloses Feedback zu geben. Brieflich teilt Kreisler ihm mit, dass er ihn „leider ermutigen muss“ weiterzumachen. Das Publikum lacht. Der Altmeister schafft es auch noch über seinen Tod hinaus, für Unterhaltung zu sorgen.

Schliesslich kommt Haller auf die Globuskrawalle zu sprechen. Eine Schlacht, wie Haller beschreibt, zwischen Demonstranten und Polizisten, bei der sich der angehende Autor in die Rolle des Beobachters gedrängt sieht. Anstatt nach einem Pflasterstein zu greifen, um diesen gegen die Polizisten zu schleudern, entschliesst er sich dagegen. Und das obwohl er ein guter Werfer sei. Er war sogar so gut, dass es er eine Spezialausbildung im Militär als Handgranatenwerfer machen durfte. Erneutes Lachen macht sich im Publikum breit. Doch – wen wundert’s – Haller will lieber mit Worten und Sprache um sich werfen und nicht mit Pflastersteinen.

Im anschliessenden Gespräch nimmt Karin Schneuwly eine Frage auf, die auch dem ersten Kapitel vorangestellt ist: „Wo stehe ich heute auf meinem Weg, vier Jahre nach dem Entschluss, Schriftsteller zu werden?“ Sie fragt ihn, wie er diese Frage heute beantworten würde. Er sei angekommen, ansonsten hätte er sich auch gar nicht dazu in der Lage gefühlt, eine Autobiographie zu schreiben, in der er seinen Weg zum eigenen Schaffen Revue passieren lässt. Das merkt man. Es ist die Biographie eines arrivierten Schriftstellers, der am Ende seiner Suche angelangt ist. Das Fliessen in die Schriftstellerei zeigt sich in jeder der beschriebenen Stationen. Mitgerissen wird man dabei als Leser jedoch nicht. Zu harmonisch und verklärt wirkt Hallers Blick auf seinen Werdegang. Das Lesen gleicht mehr einem sanften Treibenlassen. Das ist in Ordnung, mehr aber auch nicht.

Die Blätterteigzeitung und weitere Gemälde

Die sommerlichen Temperaturen sind bereits spürbar und die Aussenbühne beim Solothurner Landhausquai wird kräftig bestrahlt. Trotzdem sind die Sitzplätze restlos besetzt und Menschentrauben bilden sich um das kleine Leser_innenpodest. Denn, es lohnt sich. Vor allem wenn der Vorleser Christian Haller heisst. Mit unaufgeregter, warmer Stimme liest er zwei Kurzgeschichten aus dem 2010 erscheinen Werk Die Stecknadeln des Herr Nabokov vor.

Haller schafft es, aus Alltäglichem das gewisse Etwas heraus zu kitzeln. Immer wieder muss das Publikum schmunzeln und nicken, wenn es sich an eigene ähnliche Erlebnisse erinnert.

Die morgendliche Zeitung wird zum Blätterteig, der das Übel der Welt bereit hält. Sie wird auch zu einem Ort der Versicherung, dass sich über Nacht nichts grundlegend verändert hat. Ein Ort, wo man seine „heimlichen Laster“ finden kann. Für die Einen mag es der Wetterbericht sein, für andere die Kontaktanzeigen, für Dritte die Rätselseite. Für den Erzähler sind es die Stellenangebote, die Fenster zur unbekannten, möglichen Zukunft öffnen. Oder zumindest waren es die Stellenangebote. Mit fortschreitendem Alter jedoch werden die Todesanzeigen und die näher rückenden Jahreszahlen immer interessanter. Gespannt folgt man den morgendlichen Kämpfen gegen das Altfühlen des Erzählers und fühlt sich ertappt, ähnliche Gedankengänge ebenfalls schon ausgeführt zu haben.

Mit der zweiten Kurzgeschichte entführt Haller uns ins Baltikum. Wir fahren mit einem Übersetzer von Tallinn nach Vilnius. Gestoppt wird auf einem alten Adelshof mit verwildertem Garten und am Meer, um spontan baden zu gehen. Die Halte vergleicht Haller liebevoll detailliert mit bekannten Gemälden und Fotografien. Es gelingt ihm, die grundverschiedenen Atmosphären und Farben der beiden Orte einzufangen.

Kurz vor Schluss flechtet Haller geschickt eine historische Rückblende ein. Achtvoll lässt er die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges an ebendieser Küste aufleben. Die weisse Stille des Strandes wirkt plötzlich nicht mehr ganz so friedlich und wird zum Ort des Vergessenen. Die Erzählungen Hallers berührt unerwartet.

Unaufgeregt endet die Lesung. Schade eigentlich, trotz der Hitze.