«Wie immer in solchen Fällen lösche ich die Markierung.»

Nachdem ich feierlich ein paar Hemdknöpfe mehr als gewohnt zugemacht habe, begebe ich mich ins Stadtheater, um Peter Stamm dabei zuzuschauen, wie er den diesjährigen Solothurner Literaturpreis entgegennimmt. 

Bevor irgendwer auf der Bühne das Wort ergreift, leitet der Virtuose Jaap van Bemmelen die Preisverleihung mit seinem Gitarrenspiel ein. Sehr viele geschwinde Noten tupft er impressionistisch über langsame Grundrhythmen. Das klingt nach stiller Melancholie nach einem betriebsamen Tag. Da möchte man grad im weissen Anzug oder Kleid in der abendlichen Strandbar nachdenklich an einem Cocktail nippen, es ist aber erst halb elf.

Nach mehreren Tagen dynamischer Vorträge kommt einem Walter Pretellis darauffolgende Rede wohl steifer vor, als sie ist. Dabei erzählt er durchaus Anregendes über das Verhältnis von, ja, Buchhaltung und Literatur. In beiden Sphären werde eine Differenz von «Soll und Haben», von «Soll» und «Ist», sprich: von Fiktion und Realität gedacht. In solchen Differenz- und Grenzgebiete von Realität und Fiktion bewege sich auch der Schriftsteller Peter Stamm. Ja, doch, warum auch nicht; das hat was.

In seinem Ehrenwort verdankt Kurt Fluri ganz ordnungsgemäss Sponsoren, Gönnern, Gemeinden, Amtsträgern, lässt dann aber auch politische Noten antönen und verweist auf Debatten über Bibliothekstantiemen und Urheberrechte. Nachdem er ganz generell eine Lanze für die Kulturförderung gebrochen hat, verweist er auf die gute Sache, nämlich den Verein der Freunde der Zentralbibliothek Solothurn, der sich gewiss über Unterstützung für die zweitgrösste nichtuniversitäre Bibliothek der Schweiz freue:

Peter Stamm polarisiere ja durchaus, sagt Nicola Steiner in ihrer Laudatio, um Vorwürfen zuvorzukommen, die Jury habe es sich ja arg leicht gemacht mit so einem etablierten Autor. «An dem scheiden sich die Geister». Aber sein Werk steche konsequent heraus: Lakonisch und rhythmisiert erzähle es immer wieder vom Leiden an der Langeweile und vom Traum von anderen, nicht gelebten Leben; es verwische so gleichsam die Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Von Fiktionen und Realitäten handelt auch eine «Facebookanekdote», die sie nacherzählt. Nachdem sie Peter Stamm in einem Beitrag markiert hatte, erhielt sie als Antwort: «Liebe Nicola, wie immer in solchen Fällen lösche ich diese Markierung und ergänze: Ich bin nicht dieser Peter Stamm. Die Welt ist klein und so teilen wir uns einige Bekannte, auch im richtigen Leben. Ich mag Ihre Arbeit ganz gerne, würde aber verstehen (mit Bedauern), wenn dieser Vorfall unsere FB-Freundschaft beenden würde. Liebe Grüsse, Peter Stamm». Das ist ein wenig rätselhaft, trifft aber in dieser gerade nicht beherzten Entzugsbewegung wie zufällig etwas für die Arbeit von Peter Stamm ganz Grundsätzliches.

Existenzielle Situationen, so Steiner weiter, würden bei Stamm ganz ohne Pathos, gleichsam mit Achselzucken aufgelöst. Kein Frage- und Antwortspiel dürfe man von ihm erwarten, sondern ein Frage- und Fragespiel. Als Autor male er nur genauso viele Pinselstriche, wie nötig damit man Schemen erkennen könne.

Dann kommt er endlich selber auf die Bühne, die Hände in den Hosentaschen, den Blick im 45 Gradwinkel vor sich auf den Boden gerichtet, lässt er sich gratulieren und verschwindet auch sobald er kann wieder von der Bühne, als sei er tatsächlich direkt aus einem der eigenen Romane nur zufällig hierher geraten. Nachdem Jaap van Bemmelen noch einmal ein paar, diesmal beschwingtere, Takte vorspielt, tritt Peter Stamm wieder auf die Bühne. Eine Dankesrede hat er statt einer Lesung vorbereitet. Auch eine solche liest er aber gewohnt ruhig. Das Gegenteil von Atemlosigkeit, könnte man sagen, obwohl Peter Stamm ja, wie ich gehört habe, gerne raucht.

Er rekapituliert Figuren aus seinen Büchern, die sich von der Literatur und vom Lesen abwenden. «Sogar Musik kam ihm nur noch vor wie eine Ablenkung vom Wesentlichen». Er zweifelt an der Macht und Unsterblichkeit der Literatur: «Schreiben ist Nebensache, Lesen ist Nebensache.»

So könnte er anfangen oder auch abschliessen, führt er aus: Wie wäre es, wenn er jetzt endigen würde mit seiner Rede. Wenn einige langsam den Saal verliessen, andere noch warteten: «Vielleicht kommt ja noch was». «Eine Geschichte ganz ohne Personen». Nach diesem konjunktivischen Exkurs stellt er aber klar: Er wollte sich immer der Wirklichkeit stellen, ihr nicht entfliehen. Literatur könne die Wirklichkeit nicht ersetzen. Ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen, sei sie vielmehr. «Das sehen kann sie uns aber nicht abnehmen.»

Er träumt vom von einer Geschichte ganz ohne Personen und Verstummen und denkt an ein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat. Kein gravitätisches Schweigen schwebe ihm dabei vor, sondern ein heiteres; eines im Sinne von Wittgenstein: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen».

Dann entlässt uns ein weiteres Stück von Jaap van Bemmelen. Er endet mit einem offenen, fast fragend klingenden Akkord. Auch mit diesem könnte man, meine ich, grad so gut anfangen wie aufhören. Ganz am Schuss, als die Leute schon rausspazieren, kommt Peter Stamm noch mal auf die Bühne und lässt sich comme il faut mit Blumenstrauss und Jury fotografieren. Er sieht immer noch ein wenig unbehaglich, fast verzagt aus. Diesmal lächelt er aber.

 

«Kontaktreliquien». Christian Kiening liest aus seiner Geschichte «Letzte Züge».

Wer ihn kurz zuvor im angenehm reflektierten Literaturgespräch mit Alice Grünfelder erlebt hat, wundert sich vielleicht zunächst ein wenig: Christian Kiening liest mit überraschender Dringlichkeit, gelegentlich fast atemlos. Damit erreicht er ein Tempo, mit dem er den einen oder andern vom tagelangen Zuhören hier in Solothurn ein wenig müden Schädel gelegentlich abhängt. Das ist schade, denn es lohnt sich, Kienings genau gearbeiteter und perspektivenreich zwischen Zeit- und Erinnerungsebenen sich bewegenden Prosa grösstmögliche Aufmerksamkeit zu schenken. Aber der Vortrag erschliesst seinen Text auch neu: Als so rhythmischen hatte ich ihn zunächst nicht gelesen.

Christian Kienings Buch handelt von Krieg, Tod und Flucht, von Alltäglichkeit und von Büchern, aber auch vom Erinnern, und vom Erinnern auch ans Erinnern. Zu diesem Zweck recherchiert er und arbeitet mit authentischen Dokumenten, verdichtet, überlagert, kontrastiert. Von seinen Dokumenten spricht als Kontaktreliquien; es geht ein paar Minuten, bis man verdaut hat, wie präzise dieses Bild trifft.

Er fühle sich nicht berufen zum Richter über die Vergangenheit. Seinem Sprechen und seinem Schreiben merkt man eine kluge Vorsicht an, ein reflektiertes Bestreben, die Vielschichtigkeit von Geschichte und Erinnerung nicht durch groben oder übereilten Zugriff zu reduzieren. An die Geschichte als Lehrmeisterin will Kiening nicht ohne Weiteres glauben, aber «ob es uns hilft oder nicht, es macht uns sicherlich zu reichhaltigeren Menschen.»

Die Kritik der kritischen Literaturkritik. So halb in eigener Sache.

Diese Veranstaltung zielt gleichsam close to home. Philipp Theisohn und Thomas Hunkeler führen, von Beat Mazenauer launig moderiert, in der Säulenhalle des Landhauses ein angenehm differenziertes Gespräch über die Lage der Literaturkritik.

Dabei geht es auch ganz explizit um die Rahmenbedingungen dieses Blogs. Einige von uns reden nämlich mit, erfahren wir vor Ort, als wir in die vorderste Reihe bugsiert werden. So be it! Wir bemühen uns, die eigene Schreiberfahrung auf halbwegs aussagekräftige Beobachtungen über das Verhältnis von Kritik und Wissenschaft hin zu schröpfen. Die Eindrücke kontrastieren die beiden Pole: Es ist ein schnelleres Schreiben; es muss angesichts viel engerer Zeithorizonte auch mal einfach mit einem Text zufrieden sein. Auch das spontane Reagieren jenseits des sicheren Hafens schon längst kanonisierter Literatur fordert heraus. Das sind ganz andere Druckverhältnisse. Genug Nabelschau aber, denn es geht um Literaturkritik auch im viel weiteren Kontext.

Nachdem eine störende Vase aus dem Sichtfeld genommen wird, darf es auch ein wenig unverblümt hergehen. Die Zeiten der strahlkräftigen Literaturbeilagen scheinen passé. Ein Grossteil der Neuerscheinungen verteilt sich auf «kleine, sehr kleine und winzige Verlage». Die Aufmerksamkeit für Literatur schwindet.  Nostalgische Loblieder auf die gute alte Zeit kommen zum Glück trotzdem nicht auf, sind auch ohnehin nicht erwünscht, «Ich werd’ sonst so pathetisch», so Philipp Theisohn. Erfreulich klischeefern werden dementsprechend Problemfelder durchquert, von grossen Markteinbrüchen bis zu den Details regionalspezifischer Literaturszenen. Affektlagen und Selbstbilder einer zeitgenössischen Kritik sind da ebenso relevant wie Tücken und Möglichkeiten sozialer Medien. Dabei kommt mehr Abwägen als Programmatisches raus. Ganz düster schaut es ja auch nicht aus. Literaturkritisches Schreiben, so hofft man hier, kann auch eine neue Perspektive auf’s literaturwissenschaftliche Schreiben generieren, und umgekehrt. Potentiale habe die Literaturkritik allemal; ihr kommt es unter anderem zu, neue Bücher zu selektionieren und  einen gut informierten breiteren Diskurs herzustellen.

Gut informiert sind aber nicht nur die beiden Männer auf dem Podium, auch das Publikum bringt kenntnisreiche und kluge Wortmeldungen mit ein – es setzt sich aus gut informierten Laien, aber auch vielen Medienschaffenden zusammen. Podium und Publikum scheinen sich einig in ihrer Liebe zu zeitgenössischer Literatur. Das stimmt milde optimistisch.

Gepflegter Trash

Zwei Verlage präsentieren am Solothurner Freitagabend Schund- und Groschenromane fiktionaler Autor_innen. Wir haben uns amüsiert.

Den Anfang macht der Verlag die brotsuppe. Zu zehnt werden in einer ersten szenischen Lesung Perlen des Trashs wie Eine wie keine – oder wie Winnie Grok zum Wunder wurd [sic!] von Raul Rabbassi vorgetragen. Unser Favorit war aber Blut im Mississippi – Vol 1. Die Köter des Todes von Dan D. Dutch. Darin geht es haarsträubend zu – eine lüsterne Witwe «drückt die Zigarette neben dem Sarg ihres Mannes aus» und versucht noch an Ort und Stelle einen unerfahrenen und sehr (!) jungen Buben zu verführen. So viele Tabus auf so wenig Text!

Nach einer Pause empfängt uns das Literaturmagazin Narr mit seiner Auswahl von Groschenromanen zurück. Die Nacht der Todeshandys und Ein Sonnenstrahl kommt selten allein – Verliebt in raue Hände überbieten sich. Dabei tut den Texten die zusätzlich karikierend wirkende szenische Lesung nicht nur gut – es wäre mutiger gewesen, die Texte für sich sprechen zu lassen. Zwischen den Texten werden urkomische Zusammenschnitte fast identischer Kinoszenen (wie durch Dritte gestörte Kussszenen) abgespielt. Diese streichen heraus, dass hier einerseits die relative Einfallslosigkeit der seriellen Groschenromane auf die Schippe genommen werden soll. Andererseits stellt sich dabei auch die Freude am Wiedererkennen von Stereotypen ein, die wohl auch zum Reiz eines einigermassen reflektierten und durchironisierten Trashkonsums gehört.

In diesem zweiten Teil wirkt die Formelhaftigkeit der Groschenroman-Vorlagen besser getroffen, ihre Auswahl parodiert mit grösserer Präzision, aber etwas weniger wilder Fabulierlust. Das lässt die Narr-Texte intelligenter wirken, fast auf groteske Weise analytischer, aber auch ein wenig kühler. Schade, blieben bei diesem Fest des gepflegten Trashs so viele Stühle leer, denn wir waren uns einig: Die pulp fiction bescherte uns kurzweilige drei Stunden mit liebevoll nerdigem Schund.

Marco Neuhaus, Julia Sjöberg 

„Gottvater kennt kein Pardon“. Adam Schwarz liest aus „Das Fleisch der Welt oder Die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe“.

Adam Schwarz lächelt verschmitzt, während Gabrielle Alioth aus der Programmkommission ihn dem Publikum einführt. Einen Roman hat er geschrieben über, man höre und staune, Bruder Klaus. Um einen historischen Roman im geläufigen Sinn handelt es sich dabei aber freilich nicht, denn Adam Schwarz lässt seinen Niklaus von Flüe, in einer Vision dazu aufgefordert, in Richtung Amerika aufbrechen. Das ist als Ausgangsidee schon so wunderbar hanebüchen, dass es dem Text gut tut, dass Schwarz weder im geschriebenen noch im gesprochenen Wort mit seinem Irrwitz hausieren geht. Er liest ruhig, erzählt detailliert, er lässt sich eben auf das scheinbar abwegige Sujet ein, und man geht mit.

Eine neuerliche Vision ruft Niklaus aus der Einsiedelei zu einer Reise nach Westen, und Niklaus will gehorchen: „Der HERRGOTT habe es ihm befohlen, so, wie er ihm schon ’67 befohlen habe, seine Familie zu verlassen, um Einsiedler zu werden.“ Bei dieser Unternehmung will er seinen Sohn an seiner Seite haben, seinen Sohn, den er Jahre zuvor hinter sich gelassen hatte. Es sei eben auch eine Vater-Sohn-Geschichte, so Adam Schwarz.

Die Zwiespältigkeit dieses Heiligen habe ihn interessiert, sein Leben jenseits der normalen Welt. Die Freude nicht nur am Erfinden und Fabulieren, sondern auch die Lust am Recherchieren, Neugier und pfiffiges Wissenwollen merkt man Adam Schwarz an. Man dürfe dann aber auch nicht seinen Romanprotagonisten mit dem historischen Bruder Klaus verwechseln. Für was denn sein Niklaus von Flüe stehe? „Für Menschen, die alles einer Idee unterordnen“. Der alte Mann vom Flüeliranft nimmt bei Adam Schwarz auch unheimliche, nachgerade dämonische Züge an. „So eine Art Vampir“, setzt er hinzu.

„Every sentence can be a sentence.“

„Jeder Satz kann ein Urteil sein“, gibt Melinda Nadj Abonji am Diskussionspodium im Solothurner Landhaussaal zu bedenken. Thema der Diskussion: „Die Balkan-Kriege – Wie geht die Literatur damit um?“ Einigkeit besteht unter den Podiumsteilnehmenden schnell darin, dass ein dokumentarischer Zugang zum Scheitern verurteilt ist, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen:

Robert Possner, der aus dem Tirol stammt, hatte zu Beginn gar keinen persönlichen Bezug zu den Jugoslawien-Kriegen. Diesen musste er für sein Buchprojekt Phantome zunächst durch Reisen, ausführliche Interviews und Recherchen erarbeiten. Seine Anekdoten lassen durchblicken, dass es selbst als Unbeteiligter kaum möglich ist, im Angesicht dieser Ereignisse eine emotionale Distanz zu wahren.

Ganz anders liegen die Dinge bei Jeton Neziraj, dessen schriftstellerische Tätigkeit durch das Schreiben von propagandistischen Texten im Dienste der kosovarischen Armee ihren Anfang nahm. Als unmittelbar Betroffener besteht die Herausforderung für ihn darin, die Distanz zum Geschehen zu gewinnen, die für klischeefreies, multiperspektivisches Schreiben notwendig ist. Das ermöglicht ihm eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema, obwohl er heute noch mit Morddrohungen von Nationalisten zu kämpfen hat.

Melinda Nadj Abonji nimmt in gewisser Hinsicht eine Zwischenposition in dieser Konstellation ein. Als in der Schweiz lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in der Vojvodina nahm sie durch Berichte von Verwandten und Medien Anteil am Kriegsgeschehen. Damalige deutschsprachige Pressestimmen haben ihrer Meinung nach aber gerade wegen distanzloser Übernahme unreflektierter Schlagwörter vor dem Kriegsgeschehen versagt. Entsprechend warf sie die Frage ein, wie man überhaupt über den Krieg berichten könne ohne die Anmassung, über das Geschehen verfügen zu können. Die Sätze sollen eben keine Urteile sein.

Was kann die Literatur also leisten? Ihr Potential als Erziehung wird zwar bezweifelt – „We never learn“, sagt Jeton Neziraj. Dennoch geht Melinda Nadj Abonji davon aus, dass die Literatur Utopien aufzeigen kann.

Angesichts dieser sehr verschiedenen literarischen und biografischen Perspektiven ist es schade, dass es im Verlauf der Diskussion zu erstaunlich wenig Interaktion kam. Auch die Texte wurden gegenseitig kaum kommentiert. Die Zugänge schienen eher nebeneinander zu existieren, nur gelegentlich fanden Wortwechsel zwischen den Autor_innen selbst statt. Fazit: Obwohl die Frage im Veranstaltungstitel erwartungsgemäss nicht abschliessend beantwortet wurde, erhielt das Publikum Einblick die Rolle der Literatur im Kontext von Brutalität, Gewalt und der „Militarisierung der Köpfe“.

Mia Jenni, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg, Fabienne Suter

«Kommt ihr Abwesenden alle». Das Furore von Christian Uetz

Bewundernswert ist die Vielstimmigkeit, die Christian Uetz in der Performance seiner Texte mit der einen Stimme zu generieren vermag. Andere tendieren da ja gelegentlich dazu, Intensität mit blosser Lautstärke zu verwechseln. In Uetz’ Organ aber finden sich Instrumente wie für ein Symphonieorchester: Vom matten Seufzer übers irritierte Fragen, bis fast ans Schreien hin führt er seine Texte. Er durchlebt diese Gedichte, statt sie bloss vorzutragen. Er ruft, springt, krümmt sich.

Die Texte von Christian Uetz zeichnen sich aus durch die eingehende Beschäftigung mit Erotik und Glauben, so deutet Beat Mazenauer in seiner Anmoderation. Das trifft die fast mystische Leidenschaft für die Sinnlichkeit der Sprache, die für jedes Wort ausschlaggebend ist, das ich von Uetz gelesen habe. Bedeutungen verdichtet er zu Erfahrungen, in Texten, von denen man nicht weiss, ob sie sehr schwer oder sehr leicht sind. Glossolalie, also Zungenrede, ist eine Gnadengabe, so oder ähnlich steht es ja auch schon in der Bibel.

Dabei ist die eindrückliche Darbietung nirgends etwas dem Textmaterial Äusserliches, sondern scheint konsequent aus der Sprache der Dichtung von Christian Uetz entwickelt. Das hat so viel Selbstverständlichkeit, dass man sich fragt, warum man sich überhaupt darüber wundert. Nach Auszügen aus seinem neuen Gedichtband Engel der Illusion durchquert Uetz als furioses Finale noch einmal ältere Texte, die verbunden sind durch die Bezugnahme auf Engel. Dass die Engel ihn schon so lange beschäftigen, habe er selbst erst spät erkannt, sagt er. Obwohl er all die Texte auswendig weiss.

Dass Denken und Dichten eine Affinität haben, dass man Sprache auch sinnlich erfahren kann, dass eine Performance auch etwas mit einem Publikum macht: Das sind zunächst einmal Gemeinplätze. Umso mehr freut man sich, dass Christian Uetz den Nachweis erbringt, dass mit ihnen auch etwas Wahres gemeint ist. «Spoken Word» sagt das Programmheft dazu. Erstaunlich.

Marco Neuhaus

Unser Team in Solothurn: Marco Neuhaus

Auf den Vortrag von Christian Uetz freut sich Marco Neuhaus besonders, ebenso auf den von Verena Stössinger, deren neues Buch «Die Gespenstersammlerin» er gerade liest. Sonst studiert er Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und Philosophie in Zürich. Er mag handlungsarme Erzählprosa und war noch nie in Solothurn.