Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

Die Verflechtung der Welt

Das Bewusstsein des Menschen als Spiegel der Natur: eine traditionsreiche Metapher in der Philosophie, die über vier Jahrhunderte Erkenntnistheorie bewirtschaftet und Ende der Achtzigerjahre von Richard Rorty minutiös zerpflückt wurde. Bis heute haben unzählige turns – sprachliche, historische, kulturelle – eine Wand nach der anderen zwischen uns und der Welt aufgezogen. Zumindest eine Einsicht teilen sie: Repräsentation ist keine einfache Sache. Natürlich weiss das nicht nur die Philosophie, sondern auch die Literaturwissenschaft – und nicht zuletzt die Autorinnen und Autoren selbst. Barbara Schibli ist eine von ihnen. Im prächtigen Theatersaal des Stadttheaters Solothurn, dessen mit rotem Samt bezogene Sitze vollzählig belegt waren, las Schibli aus ihrem viel beachteten Debütroman „Flechten“, moderiert von Valeria Heintges.

In „Flechten“ kehrt Barbara Schibli das erkenntnistheoretische Paradigma des 17. Jahrhunderts um. Nicht der Mensch fungiert als Spiegel der Natur, vielmehr wird die Natur zum Spiegel des Menschen:

„Man meint, ein Stück unbekannte Natur zu beobachten, dabei ist es ein Teil von einem selbst.“

Die Hauptfigur Anna ist Flechtenforscherin und absolut besessen vom akribischen Zerlegen, Sammeln, Ordnen und Beschriften der Welt. Durch Annas Augen sehen wir nicht nur die im Roman erzählte Welt, sondern nehmen auch die Perspektive einer Botanikerin auf die Natur ein. Leta wiederum, Annas Zwillingsschwester, kann nicht aufhören, die Welt durch ihre Kameralinse einzufangen und auf Fotopapier zu bannen. Motiv ist ausschliesslich ihre Schwester, eine idée fixe. In präziser poetischer Sprache, die den fein säuberlich zerlegenden Gestus der Erzählfigur nachzeichnet, spinnt „Flechten“ die Geschichte einer zerstörerischen Symbiose zweier Frauen, die in einer festen Umarmung um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Beide versuchen sie, im zielgerichteten, analytischen Blick auf die Welt ihrer hilflosen und unbeholfenen Verstrickungen Herrin zu werden – und scheitern.

Über zehn Jahre habe sie an dem Text geschrieben, sagt Barbara Schibli. Schreiben, das sei für sie ein spielerischer, wenn auch keineswegs ein harmloser Prozess. Es sei ein dauerndes Tasten und Suchen, auch nach sich selbst. So beschreibt der Text in Kreisbewegungen die Suche nach Identität, die sich im Oszillieren zwischen Annähern und Abgrenzen formt und deren Gestalt dadurch in stetiger Veränderung begriffen ist. Die Beziehung des Zwillingpaares Anna/Leta zeigt in drastischer Weise, wie fragil Identitäten beschaffen sind. Anna versucht sich vehement gegen Letas Übergriffigkeit zu wehren, scheitert jedoch auch an ihrem eigenen Begehren, gesehen und anerkannt zu werden. Leta hingegen schafft es nicht, sich von ihrer Fixierung auf ihre Schwester zu lösen, wodurch es ihr verunmöglicht wird, sich persönlich wie auch beruflich weiterzuentwickeln.

Geschickt flicht Schibli in die Erzählung dieser vielmehr parasitären Zwillingsbeziehung Reflexionen über aktuelle ökologische, politische und soziale Problemstellungen, die sich aus der ausbeuterischen Gestaltung der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ergeben: Luftverschmutzung, Bienensterben, Digitalisierungsprozesse, das narzisstische Kreisen um das Selbst der Selfiekultur, kunstvolle Spiegelungen des Identitätstopos, die im Motiv der Zwillinge und der Flechten zusammengeführt werden. Ausserdem lässt Schibli sichtbar die Techniken eines weiteren Mediums einfliessen: Sie sei eine grosse Filmliebhaberin. Dies zeigt sich an den vielen Überblendungen, Raffungen und Dehnungen der Zeit, die sie gekonnt in die Komposition eingearbeitet hat. Spannung wird gerade nicht mittels der Handlung, sondern durch ebendiese komplexe und kunstreiche Erzähltechnik erreicht.

Gespannt darf auch das Publikum sein, nämlich auf Barbara Schiblis nächsten Roman. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie dieses Mal nicht mehr ganz so lange zum Schreiben braucht – ich kann es nämlich kaum erwarten, weitere Bücher von dieser bestechend klugen und sympathischen Schriftstellerin in die Finger zu bekommen.

Kein Streit

„Joute de traduction“ heisst die Veranstaltung, an der eine Übersetzerin und ein Übersetzer in den Ring treten und ihre jeweilige Wortwahl verteidigen sollen. Die übersetzten Textpassagen stammen aus Levin Westermanns Gedichtsammlung 3511 Zwetajewa. Valentin Decoppet und Raphaëlle Lacord treffen sich zum Duell und werden sich um Worte streiten, so die Erwartung.

Doch der Moderator Yves Raeber warnt vor: Der Ausdruck „rompre une lance“, „eine Lanze brechen“, könne man ja auch auf zwei Arten verstehen. Einen Gegner töten, könne es heissen, auch aber eine Lanze brechen für jemanden, als Zeichen des Respekts und der Freundschaft. Freundschaftlich geht es zwischen den beiden die ganze Stunde über zu. Was als „joute“, als Turnier oder Wettstreit angelegt ist, wird eher zum freundlich-vorsichtigen Abtasten.

Die beiden Parteien geraten sich einfach nicht so richtig in die Haare. Im zweiminütigen Verteidigungstakt bringen sie Argumente an, weshalb sie einen gewissen Textauszug so übersetzt haben, wie sie ihn übersetzt haben. Wie haben die beiden zum Beispiel „Urzustand“ übersetzt? Die Spannung steigt, die Blicke sind auf die Leinwand gerichtet. Dann erscheint der Text, Decoppet und Lacord lesen ihre Vorschläge vor. Lacord hat sich für „l’état premier“ entschieden, während Decoppet „l’état originel“ bevorzugte. Doch dies bleiben Vorschläge, und oft können sie die Übersetzung des anderen auch ganz gut nachvollziehen.

Raeber versucht immer mal wieder, das Feuer zu entfachen und sie zum Streit anzustiften: „Maintenant il faut tout donner!“, „Jetzt müsst ihr alles geben!“, betont er gegen Ende nochmals. Immer noch kein Streit. Vielleicht heisst alles zu geben in der Übersetzung auch einfach nicht, das Beste zu finden und auf Gedeih und Verderben zu verteidigen, sondern das Gute immer wieder umzudrehen, von allen Seiten her anzuschauen und zu befragen.

Von Siegertypen und Wortrückseiten

Schnell lockert sich die Stimmung im Solothurner Stadttheater, als der Kulturjournalist Pablo Haller mit einem wohlkalkulierten Versprecher über Gion Mathias Caveltys Genese der Menge ein kollektives, schockiert-belustigtes Glucksen abschmeicheln kann: «…isch 1974 gebore, hät in Fribourg studiert – italienischi und rätoromanischi Gschicht, äh, Sproch. Rätoromanischi Gschicht, wohrschinli gäbs nideso vill.»

Der im weissgestreiften, schwarzen Anzug sitzende Metalfan Gion Mathias Cavelty reagiert daraufhin mit vorgeblicher Entrüstung, indem er, das Mikrofon in der Hand, eine ausholende Geste gen Haller andeutet.

Gewiss, dies ist eine Vorstellung sondergleichen, einzig die beiden Scheinwerfer und vielleicht die kleine Bühne bewahren die belustigten Zuschauer vor dem Eindruck, sie wohnten einem gemütlichen Plauderstündchen bei. Gewidmet ist die Lesung jedoch Gion Mathias Caveltys neustem Schelmenstück, äh, Buch – Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Mit väterlich-jovialer Erzählstimme trägt Cavelty Kapitel für Kapitel aus seinem «höchst fiktiven Roman» vor und blickt dann und wann mit einem verschwörerischen Blick ins Publikum, das betört an seinen Lippen hängt. Es ist vornehmlich Cavelty selbst, der nebst all den wunderlichen Abenteuern Franz Klammers – dem Zufallsmord an Jesus Christus, Ausführungen über Templer, Nationalsozialisten und die endgültige Absurdität der Welt – massgeblich das Kolorit der Veranstaltung bestimmt. Kunstgerecht trifft Cavelty all die Höhen und Intonationen des österreichischen Dialekts seiner Figuren, eine humoristische Kulmination überholt die andere, bis – und da huscht nahezu unmerklich ein schelmisches Grienen über Caveltys Gesicht – er bedächtig das letzte Wort seiner Lesung vorliest.

Da zaubert Haller schon seinen nächsten Gag aus dem Hut, oder besser gesagt ein Replikat von Franz Klammers Goldmedaille und überreicht sie dem Autor. Man lacht, Cavelty beisst ins Gold.

(Cavelty im Genuss eines Goldstücks.)

Wie einnehmend Cavelty auch sein kann, dergestalt ernst spricht er auch darüber, was ihn literarisch bewegt. Nonsens sei für Cavelty die höchste Kunst der Literatur: ein «hermetisches Prinzip, das eigentlich besagt, das Obere ist das Untere», führt Cavelty aus. Und auch spezifisch auf seinen Roman bezogen offenbart er dem Publikum, er habe sich seit Langem schon intensiv mit dem «Geist» der Gnosis auseinandergesetzt. Einem festgefahrenen, doktrinistischen System das Gegenteil aufzuzeigen, das sei immerzu Caveltys Drang gewesen.

Franz Klammer sei wahrhaftig ein Idol für Cavelty und sein Buch verlangte nach einem absoluten Siegertyp, es endet ja schliesslich auch im «Totaltriumph von Franz Klammer», verrät uns der Autor. Eine Figur, sagt Cavelty, die ihm zwar am weitesten entfernt ist (er selbst behauptet ja, er sei das Gegenteil eines Sportlers), ist auch die Leitfigur, die ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Franz habe nämlich etwas Unfassbares geschafft – er reduzierte sein Leben auf einen einzigen Satz: «Schifoan und sunst nix».

Das Wort beinhalte, so fabuliert Cavelty achtungsvoll und allmählich raunend, eine Magie, nach der man nicht einfach so greifen kann; das Wort werde lebendig. Und da zeigt sich vielleicht doch eine Parallele zu Franz Klammer, denn wie seinen Skirennfahrer, so interessierte Cavelty auch im Grunde eines. Für ihn ist es die Frage:

«Was befindet sich auf der Rückseite des Wortes?»

Sackgassen oder existenzielle Schleudertraumata

18 Uhr. Das Foyer des Stadttheaters ist zum Bersten gefüllt. Ungeduldig warten die Besucher auf den Einlass. Mit einigen Minuten Verspätung beginnt schliesslich die Lesung von David Signer aus seinem neusten Werk Dead End – so glauben wir zumindest. Was dann aber folgt, ist eine euphorische Lobrede des Moderators Florian Vetsch auf den Autor, die kein Ende zu nehmen scheint. Dabei stellen wir uns die Frage, ob Signer diesen Vorschusslorbeeren gerecht werden kann.

Mit ruhiger Stimme liest Signer Ausschnitte aus drei seiner acht Erzählungen von Dead End vor. Sie alle weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Alle Protagonisten sind männlich, weiss und um die 40 Jahre alt. Durch seltsame Zufälle geraten sie in vertrackte Situationen, aus denen sie nicht wieder herauskommen – Sackgassen, oder auf Englisch Dead Ends. Wer dabei die grosse Tragik erwartet, irrt gewaltig: Die Geschichten triefen vor Humor, der genauso düster ist, wie die Milieus, in denen die Handlungen spielen.

Ein ominöses Erbe wartet darauf, in Empfang genommen zu werden und der Einzige, der dafür in Frage kommt, ist Christian Hartmann, Mathematiker und chronisch misstrauisch. Trotzdem rutscht er Schritt für Schritt in sein Verderben. Dies passiert auch Fred, der ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt unter dem Motto „to have a walk on the wild side“. Die Sinne von Drogen vernebelt, trifft er auf die viel jüngere Juliane und verliebt sich auf Anhieb. In absurden Zufällen glaubt er einen tieferen Sinn zu erkennen. Ihre blauen Augen erinnern ihn an den Bodensee – was für eine glückliche Fügung des Schicksals für den Schweizer! Am nächsten Tag versucht er sie anhand von Erinnerungsfetzen wieder aufzuspüren, wobei er ebenso in sein Verderben rennt, wie Christian Hartmann zuvor.

Der schwarze Humor kommt beim Publikum ebenso gut an wie beim Moderator, der die Augen während der Lesung nicht vom Text lassen und sich vor Lachen kaum halten kann. Zu Recht, denn die beschriebenen Situationen sind in ihrer witzigen Absurdität kaum zu überbieten.

Im anschliessenden Gespräch gesteht Signer seine Vorliebe für amerikanische Literatur. Die deutschsprachige Literatur weise für Signer einen zu grossen Fokus auf die Innerlichkeit auf, während in der amerikanischen Literatur die Figuren in die Handlung herausgeschleudert würden. Letzteres will auch Signer in seinen Texten erreichen. Dies ist ihm gelungen. In Dead End werden die Figuren der Handlung hilflos ausgesetzt, trotz vergeblicher Versuche, diese selbst zu bestimmen. Glaubt man Signers eigenen Worten im Gespräch, erleben die Figuren in Dead End ein „existenzielles Schleudertrauma“.

18:50 Uhr. Die Zeit drängt. Bis um 22 Uhr hätte die Lesung weitergehen können, findet der Moderator. Das finden wir auch.

Simon Härtner und Fabienne Suter

Nicht nur ein Nicaragua-Buch

Der Saal des Stadttheaters ist voll – hektisch werden noch die letzten Plätze gesucht und Menschen drängeln sich entschuldigend in die Reihen. Der Erstling der Solothurnerin Regula Portillo mit dem poetischen Namen Schwirrflug interessiert. Sei es, weil sie gerade ein Heimspiel hat oder aber auch, weil ihr Roman Nicaragua behandelt. Nicaragua – eines dieser mittelamerikanischen Länder, das weit entfernt ist, wovon man wenig weiss und wo seit Wochen News generiert werden: Die Rentenreform des neuen alten Präsidenten Daniel Ortega wird nicht goutiert.

Daniel Ortega sei ein Bindeglied in ihrem Roman, meint Portillo, die selber einige Zeit in Nicaragua gelebt hat. Schwirrflug braucht ein solches Bindeglied, denn er spielt zu zwei verschiedenen Zeiten. Im Imperfekt werden die Erlebnisse von Ruth und Markus in den 80er Jahren in Nicaragua geschildert. Im Präsens das Wandeln der Töchter Alma und Judith auf den Spuren ihrer Eltern damals. Die Bindeglieder finden die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern in Dokumentationen vom Dachboden und durch die Befragung von Bewohner_innen eines nicaraguanischen Dorfes.

Ohne grosse Effekthascherei liest Portillo aus ihrem Buch. Ihre Sprache und Wortwahl sind klar, die Dialoge bestechen durch ihre Alltäglichkeit und die Figurenzeichnung offenbart eine respektvolle Annäherung an die Thematiken des Romans. Die Falle der pathetischen Revolutionsdarstellung oder deren Bashing umgeht sie geschickt.

„Dies ist ja nicht nur ein Nicaragua-Buch“, sagt sie, womit sie den Nagel auf den Kopf trifft. Während ihrer Lesung wird klar, dass sie es schafft, in einem Band unaufgeregt Themen wie Gleichberechtigung, gut gemeinten Kolonialismus und den Verlust der Eltern respektvoll zu thematisieren.

Nach der schnellen Lesungsstunde ist klar: Die Lust zum Weiterlesen wurde bei vielen von uns aus dem Publikum geweckt.

Mia Jenni