Der allerletzte letzte Schnee

Arno Camenisch spricht hier im deutlich heruntergekühlten Solothurn am letzten Tag vom letzten Schnee  – wie passend. Die Stadt scheint noch etwas in Katerstimmung zu sein, es ist ruhiger als in den vergangenen zwei Tagen vor dem Landhaus. Der Landhaussaal hingegen ist gut gefüllt. Arno Camenisch ist ein Name, der die Leute anzieht.

Valeria Heintges, die Moderatorin der heutigen Lesung, bedankt sich erst bei Camenischs Bruder, der ihn davon abhielt seinem eigentlichen Berufswunsch, Koch, nachzugehen. Sie erzählt von seinen bisherigen Werken, von seinem Weg, um schliesslich seine Lesung (oder wie sie es nennt: Performance) anzukündigen. Wie sich sein Buch nur schwer in eine Gattung pressen lässt, lässt sich auch sein Auftritt scheinbar nicht unter dem Begriff Lesung einordnen.

Und Camenisch beginnt. In seinem kratzigen Bündnerdialekt führt er uns in die Szenerie von Der letzte Schnee ein. Paul und Georg, die beiden Protagonisten, stehen vor dem Skilift in den Bergen und unterhalten sich. Sie unterhalten sich über dies und das. Über die Skifahrenden, die doch jetzt bald einmal kommen sollten, über Stimmenzähler mit Diskalkulie, die „höhere Mathematica“ betreiben, über Sinalco-Sonnenschirme und Lehrer, die vom Pult aus auf Vögel schiessen oder den Schülern die besten Noten gaben, deren Schulhefte von der Treppe aus am weitesten flogen.

Camenisch liest meist frei mit grossen Gesten. Zu Beginn etwas hektisch, läuft er sich langsam warm, lässt sich mehr Zeit und beginnt mit dem Text zu spielen. Seine Lockerheit tut dem Text gut. Die banalen Alltagsszenen gewinnen an Witz, Paul und Georg werden zu charmanten Bergkäuzen. Das Publikum dankt es dem Autor mit Gelächter an den richtigen Stellen und kräftigem Applaus. Die Sympathien im Saal hat er auf seiner Seite.

Camenischs Buch erzählt nicht viel oder wie es ein Besucher nach der Lesung auf den Punkt bringt: „Da kannst du das ganze Buch lesen, aber viel passiert da nicht.“ Aber es erzählt Wichtiges. Die Probleme des Bündnerlands, so einzigartig es auch sein mag, seien eben die Probleme der ganzen Welt. Der letzte Sch**** war das definitiv nicht.

 

 

Literarisches Flanieren: Kurzlesung von Arno Camenisch

Ein kurzer Schreckmoment erfasst das Publikum als Arno Camenisch schon nach der Hälfte der Zeit verschmitzt und in schönstem Bündnerdeutsch verkündet, wer wissen wolle, wie es nun mit den beiden „Philosophen im Schnee“, Georg und Paul, weitergeht, müsse sich eben sein Buch kaufen. Es sei ja schliesslich bald wieder Weihnachten. Und ich komme nicht umhin, ihm beipflichten: Es ist auch wirklich lesenswert, hörenswert aber noch vielmehr, was die beiden Liftwarte einander vom Pfarrerssohn, gesegneten Skiern und ausbleibendem Schnee zu erzählen haben. Gesegnete Skier? „Miar machend das so.“

Dann macht Camenisch zur Freude der Zuschauer_innen das, was er am besten kann und trägt einen seiner Spoken-Word-Texte auf Deutsch und Rumantsch vor, in dem er Ilanz – oder Glion – kurzerhand zum Zentrum der Welt macht. Auf der Bühne kommt der dichte Sog der rhythmischen Sprache zu seiner vollen Entfaltung. Das erklärt vielleicht auch, warum die Meinungen über sein Buch unter uns Studierenden weit auseinandergingen. Mit seiner Stimme im Ohr liest sich Der letzte Schnee ganz anders.

Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

Ein ruhiges Fliessen

Während draussen die Aare gelassen vor sich hinfliesst, machen sich drinnen im Landhaussaal sowohl Publikum wie auch der Mann der Stunde, Christian Haller, in schweizerischer Ordentlichkeit für die Lesung bereit. Fein säuberlich legt eine Frau ihr „Öpfelpütschgi“ in ein Papiertaschentuch, eine andere zupft die über den Stuhl gehängte Jacke des Vordermanns zurecht und Christian Haller öffnet seine schwarze Umhängetasche, aus der er sorgsam seinen neuen Roman Das unaufhaltsame Fliessen hervorzieht.

Nach Die verborgenen Ufer ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie, in der Haller seinen Weg zum Schriftsteller nachzeichnet. Der Roman wirkt fast noch ordentlicher als die Vorbereitungen zur Lesung. Jeder vorgelesene Ausschnitt ist darauf ausgelegt, sein Stück zum Werdegang des Autors beizutragen. Das Fliessen hin zu seinem Ziel war trotz verschiedener Rückschläge dann eben doch unaufhaltsam.

Zunächst wäre da die Begegnung mit der Witwe des bisher zu wenig beachteten Schriftstellers Adrien Turel. Fasziniert vom anarchischen Denken, das er in den Manuskripten des Verstorbenen antrifft, beschliesst Haller, sich um dessen Nachlass zu kümmern. Durch die Beschäftigung mit den Texten kommt es bei Haller zu einer ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Später wird er Zoologie studieren. Wie Haller im Gespräch mit Karin Schneuwly bekanntgibt, hatte die Naturwissenschaft und insbesondere das wissenschaftliche Schreiben einen grossen Einfluss auf seine Arbeit als Schriftsteller. Dadurch habe er gelernt, sich einfach und klar auszudrücken. Ein Schreiben, das ohne Redundanzen zum Kern der Sache vordringen soll.

Literarischen Input erhält Haller im Anschluss an ein Abendessen mit Georg Kreisler. Der bereits gestandene Künstler erklärt sich dazu bereit, Hallers Texte zu lesen und ihm ein schonungsloses Feedback zu geben. Brieflich teilt Kreisler ihm mit, dass er ihn „leider ermutigen muss“ weiterzumachen. Das Publikum lacht. Der Altmeister schafft es auch noch über seinen Tod hinaus, für Unterhaltung zu sorgen.

Schliesslich kommt Haller auf die Globuskrawalle zu sprechen. Eine Schlacht, wie Haller beschreibt, zwischen Demonstranten und Polizisten, bei der sich der angehende Autor in die Rolle des Beobachters gedrängt sieht. Anstatt nach einem Pflasterstein zu greifen, um diesen gegen die Polizisten zu schleudern, entschliesst er sich dagegen. Und das obwohl er ein guter Werfer sei. Er war sogar so gut, dass es er eine Spezialausbildung im Militär als Handgranatenwerfer machen durfte. Erneutes Lachen macht sich im Publikum breit. Doch – wen wundert’s – Haller will lieber mit Worten und Sprache um sich werfen und nicht mit Pflastersteinen.

Im anschliessenden Gespräch nimmt Karin Schneuwly eine Frage auf, die auch dem ersten Kapitel vorangestellt ist: „Wo stehe ich heute auf meinem Weg, vier Jahre nach dem Entschluss, Schriftsteller zu werden?“ Sie fragt ihn, wie er diese Frage heute beantworten würde. Er sei angekommen, ansonsten hätte er sich auch gar nicht dazu in der Lage gefühlt, eine Autobiographie zu schreiben, in der er seinen Weg zum eigenen Schaffen Revue passieren lässt. Das merkt man. Es ist die Biographie eines arrivierten Schriftstellers, der am Ende seiner Suche angelangt ist. Das Fliessen in die Schriftstellerei zeigt sich in jeder der beschriebenen Stationen. Mitgerissen wird man dabei als Leser jedoch nicht. Zu harmonisch und verklärt wirkt Hallers Blick auf seinen Werdegang. Das Lesen gleicht mehr einem sanften Treibenlassen. Das ist in Ordnung, mehr aber auch nicht.

Der Geschichtenerzähler

Auf dem Zeitplan vor der Aussenbühne beim Landhausquai ist Robert Prosser mit seinem Roman Phantome angekündigt. Das Rednerpult jedoch ist leer. Das Publikum wird langsam nervös, hektisch spricht eine Mitarbeiterin der Literaturtage ins Telefon: „Robert, du hättest jetzt eine Lesung.“ Kein guter Start für den österreichischen Autor? Keineswegs, das Warten lohnt sich! Denn das Buch, das auf dem Tisch des Aussenpodiums liegt, bleibt zu: Der Autor rezitiert zwanzig Minuten lang aus seinem Roman. Auswendig. Robert Prosser spricht rhythmisch mit hartem, rollenden R. Seine Hände kreisen vor dem Gesicht, sie betonen jedes Wort.

In seinem Buch schildert Prosser den Jugoslawienkrieg und dessen Folgen in der heutigen Zeit. Sein Blick ist erhoben, er schaut direkt ins Publikum und erzählt vom verbotenen serbischen Dreifingergruss, vom Begräbnis eines dreifarbigen Pferdes, das vergiftet worden ist und der rechten Hand eines Cousins. Diese wurde in einem Massengrab in der Nähe von Srebrenica gefunden und sei ein Platzhalter geworden für die ganze Person.

Der Roman ist dreigeteilt: den ersten und letzten Teil bilden Monologe von einem Graffitikünstler und einem Kriegszeitzeugen. Unterbrochen werden sie von einem Bericht von Krieg, von Flucht und dem Aufbruch in ein neues Leben in Wien.

Nach zwanzig Minuten ohne einmal zu stottern oder aus dem Takt zu fallen, klatscht das Publikum den verdienten Beifall, der lange anhält. In den abflachenden Applaus hinein merkt Prosser noch an: „Ich habe zwei Namen verwechselt. Doch da ich zu Beginn den falschen nannte, wollte ich nicht mehr wechseln, um sie nicht zu verwirren. Nur dass Sie beim Lesen des Romans nicht überrascht sind.“ Den Roman lesen – das kann man nur jedem empfehlen.

Olivia Meier, Maya Olah

Von Siegertypen und Wortrückseiten

Schnell lockert sich die Stimmung im Solothurner Stadttheater, als der Kulturjournalist Pablo Haller mit einem wohlkalkulierten Versprecher über Gion Mathias Caveltys Genese der Menge ein kollektives, schockiert-belustigtes Glucksen abschmeicheln kann: «…isch 1974 gebore, hät in Fribourg studiert – italienischi und rätoromanischi Gschicht, äh, Sproch. Rätoromanischi Gschicht, wohrschinli gäbs nideso vill.»

Der im weissgestreiften, schwarzen Anzug sitzende Metalfan Gion Mathias Cavelty reagiert daraufhin mit vorgeblicher Entrüstung, indem er, das Mikrofon in der Hand, eine ausholende Geste gen Haller andeutet.

Gewiss, dies ist eine Vorstellung sondergleichen, einzig die beiden Scheinwerfer und vielleicht die kleine Bühne bewahren die belustigten Zuschauer vor dem Eindruck, sie wohnten einem gemütlichen Plauderstündchen bei. Gewidmet ist die Lesung jedoch Gion Mathias Caveltys neustem Schelmenstück, äh, Buch – Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Mit väterlich-jovialer Erzählstimme trägt Cavelty Kapitel für Kapitel aus seinem «höchst fiktiven Roman» vor und blickt dann und wann mit einem verschwörerischen Blick ins Publikum, das betört an seinen Lippen hängt. Es ist vornehmlich Cavelty selbst, der nebst all den wunderlichen Abenteuern Franz Klammers – dem Zufallsmord an Jesus Christus, Ausführungen über Templer, Nationalsozialisten und die endgültige Absurdität der Welt – massgeblich das Kolorit der Veranstaltung bestimmt. Kunstgerecht trifft Cavelty all die Höhen und Intonationen des österreichischen Dialekts seiner Figuren, eine humoristische Kulmination überholt die andere, bis – und da huscht nahezu unmerklich ein schelmisches Grienen über Caveltys Gesicht – er bedächtig das letzte Wort seiner Lesung vorliest.

Da zaubert Haller schon seinen nächsten Gag aus dem Hut, oder besser gesagt ein Replikat von Franz Klammers Goldmedaille und überreicht sie dem Autor. Man lacht, Cavelty beisst ins Gold.

(Cavelty im Genuss eines Goldstücks.)

Wie einnehmend Cavelty auch sein kann, dergestalt ernst spricht er auch darüber, was ihn literarisch bewegt. Nonsens sei für Cavelty die höchste Kunst der Literatur: ein «hermetisches Prinzip, das eigentlich besagt, das Obere ist das Untere», führt Cavelty aus. Und auch spezifisch auf seinen Roman bezogen offenbart er dem Publikum, er habe sich seit Langem schon intensiv mit dem «Geist» der Gnosis auseinandergesetzt. Einem festgefahrenen, doktrinistischen System das Gegenteil aufzuzeigen, das sei immerzu Caveltys Drang gewesen.

Franz Klammer sei wahrhaftig ein Idol für Cavelty und sein Buch verlangte nach einem absoluten Siegertyp, es endet ja schliesslich auch im «Totaltriumph von Franz Klammer», verrät uns der Autor. Eine Figur, sagt Cavelty, die ihm zwar am weitesten entfernt ist (er selbst behauptet ja, er sei das Gegenteil eines Sportlers), ist auch die Leitfigur, die ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Franz habe nämlich etwas Unfassbares geschafft – er reduzierte sein Leben auf einen einzigen Satz: «Schifoan und sunst nix».

Das Wort beinhalte, so fabuliert Cavelty achtungsvoll und allmählich raunend, eine Magie, nach der man nicht einfach so greifen kann; das Wort werde lebendig. Und da zeigt sich vielleicht doch eine Parallele zu Franz Klammer, denn wie seinen Skirennfahrer, so interessierte Cavelty auch im Grunde eines. Für ihn ist es die Frage:

«Was befindet sich auf der Rückseite des Wortes?»

Blumen wachsen aus dem Kopf

Der Platz vor der Aussenbühne Landhausquai füllt sich, Menschen reihen sich in die Sitzreihen ein und bilden stehend weitere Reihen um die bereits bestehenden herum. Gespannt schauen alle in Richtung Rednerpult, noch ist niemand da. Dann kommt sie und liest. Melinda Nadj Abonji trägt aus ihrem neuen Buch Schildkrötensoldat vor.

Sie entführt uns in eine andere Welt – in vielerlei Hinsicht. Einerseits ist es die Welt von Serbien im Jahr 1991. Andererseits ist es die Welt des wunderbar phantasievollen jungen Mannes Zoli, der so gar nicht zum Militärdienst passt, den er absolvieren sollte. Er spricht von seinem Unfall, als er vom Motorrad seines Vaters gefallen ist. In Worten, die nur so sprudeln vor Poesie. Er spricht von Blumen, die aus seiner Wunde im Kopf herauswachsen und die dann plötzlich doch keine Blumen mehr sind, sondern Vögel. Er sieht die Welt auf seine ganz eigene Art. Blumen, Vögel, Farben, alles scheint er stärker wahrzunehmen als seine Mitmenschen, vor allem als seine Eltern.

Die grobe Sprache des Vaters steht im krassen Kontrast zu Zolis feiner Wahrnehmung. Zoli erzählt sehr assoziativ und unruhig. Als ob alles raus müsste, mit einem Schwall. Nadj Abonji betont den Rhythmus dieser drängenden Sprache mit unterstreichenden Handbewegungen auf dem Tisch. Das Publikum ist gebannt. Für zwanzig Minuten sind wir dank Melinda Nadj Abonjis farbenstarken Worten in einer anderen Welt.

Das Lachen bleibt im Hals stecken

Judith Keller schreibt kurze und sehr kurze Geschichten. An der Kurzlesung auf der Solothurner Aussenbühne Landhausquai trägt sie einige dieser Geschichten aus ihrem Buch Die Fragwürdigen vor. Mit einem schelmischen Leuchten in den Augen und wohlklingender Stimme.

Wir lernen dabei verschiedene Personen kennen. Zum Beispiel einen Einbrecher, der in der Wohnung, in die er eingebrochen ist, auf dem Sofa einschläft. Nicht, weil er dumm wäre, sondern weil er müde war. Dann ist da noch Kasimir, den nichts aufhält. Oder Géraldine, der alles bekannt vorkommt und die deshalb ihr Auto nicht mehr findet.

Mit Augenzwinkern belehrt Judith Keller ihr Publikum: „Geschenke beleben eine Beziehung, merken Sie sich das!“. Auch wissen wir nun, was das Problem ist, wenn jemand arbeitsscheu ist: Die Arbeit kommt nur zögerlich und geht dann gleich wieder.

Von lachenden, unsicher lächelnden bis hin zu tiefst nachdenklichen Gesichtern ist im Publikum alles zu beobachten. Das zu Recht, denn die Texte sind lustig und dann doch traurig, melancholisch und dann muss man plötzlich trotzdem schmunzeln. Der Herr hinten links hatte schon dazu angesetzt, laut loszulachen, doch das Lachen blieb ihm im Hals stecken. So geht es uns allen bei der Lesung. Wir lachen, und dann doch nicht. Von Texten berührt, die ankratzen, zum Glucksen anstiften und offensichtlich geliebt werden. Es gibt Texte, die dafür in Frage kommen: Die Fragwürdigen.

Selina Widmer

Literatur-Unterhaltung auf zwei Beinen

Beim Schlendern durch die Solothurner Gassen bleiben wir an einem Autor hängen. Wobei Autor untertrieben ist – dieser Marko Miladinovic ist ein wahrer Performer.

Trotz zweisemestrigem Italienischkurs verstehe ich abgesehen von einzelnen Wörtern zwar nur wenig. Das ist aber scheinbar überhaupt nicht nötig. Von Miladinovics Stimme, seiner ganzen One-Man-Show wird man automatisch in den Bann gezogen. Sein sonorer Klang, dazu das musikalisch anmutende Italienisch – das hat eine hypnotisierende Wirkung und verleitet viele Schaulustige zum Verweilen, obwohl sich wohl mancher fragt, was uns dieser Auftritt denn genau sagen soll.

Miladinovic selbst verstummt zum Schluss. Eine computererzeugte Frauenstimme ertönt aus einem unterm Tisch versteckten Radio und lässt uns wissen, dass der Autor nicht mehr sprechen könne, der Fuss eines Pfarrers verstopfe seinen Mund. Tatsächlich: Der Künstler dreht sich zum Publikum, zwischen seinen Zähnen blitzen nur noch die Zehen eines Plastikfusses hervor. In diesem Sinne: Buon appetito!

Zwischen Lastwagen und Heiligen

Die Restbestände des gestrigen Apéros könnten immer noch Adam Schwarz‘ Stimme beeinflussen. So entschuldigte sich der Autor vor der Kurzlesung seines Debütromans Das Fleisch der Welt. Davon war aber nichts zu hören. Einzig vorbeifahrende Lastwagen unterbrachen die gespannte Stille im Publikum vor der Aussenbühne beim Landhausquai. Adam Schwarz leitete die heutige Serie von Kurzlesungen auf der Solothurner Aussenbühne ein, zu der sich trotz des begrenzten Platzes bereits zahlreiche Zuhörende versammelt hatten.

So wenig wie das Geschehen abseits der Bühne zu kontrollieren war, so fremdbestimmt scheinen auch die Figuren des Romans zu sein. Niklaus von Flüe, der heiliggesprochene Schutzpatron der Schweiz, zog sich von Gott berufen in die Einsiedelei zurück. Sein ältester Sohn Hans, der sich während der Abwesenheit des Vaters ans erdengebundene Bauernleben gewöhnt hatte, wird im Roman von der plötzlichen Rückkehr des Vaters überrascht. Dieser fordert seinen Sprössling dazu auf, ihn auf einer erneuten Pilgerreise zu begleiten. Widerwillig nimmt der Sohn den Vorschlag des Vaters an. Erzählt wird aus der Perspektive des Sohns, der sich in seinen Handlungen stark von seinem Vater beeinflusst zeigt. Genau so abhängig von einer übermächtigen Figur ist auch von Flüe selbst.

Das gegensätzliche Vater-Sohn-Gespann begibt sich auf eine Reise gegen Westen, bei der die unterschiedlichen Welten von transzendenter Hingebung und immanenter Erdgebundenheit aufeinanderprallen. So auch in dem Ausschnitt, den Adam Schwarz am Landhausquai liest: Hier werden Menschen mit Kohlköpfen und nicht etwa mit geistigen Entitäten verglichen. Ebenso wird das Wunder der Geburt durch die blutverschmierte Realität entmystifiziert. Und so werden auch wir als Zuhörende gleich zu Beginn der Literaturtage von womöglichen geistigen Höhenflügen direkt auf den Boden der dreckigen Realität zurückgeholt. Ein gelungen witziger und kurzer Einstieg für unsere literarische Pilgerfahrt nach Solothurn.

Simon Härtner, Fabienne Suter