1:0 für den Tod – von Fussballspielen und ungewöhnlichen Anhaltern

„Kennsch s’Totemügerli ned?“ – „Jo hani mol einisch gläse, cha mi aber nüm erinnere“ – „Dasch da mit dene erfundene Wörter dinne, aaschnäggle und so“. So hört es sich an, wenn sich gefühlte hundert Leute auf engem Raum versammeln und auf Franz Hohler warten. „Dä het sich aber guet ghalte“, findet die Frau neben mir, als der Autor die Bühne betritt. Entgegen den Erwartungen liest er nicht aus seinem neusten Roman Das Päckchen. Er beginnt mit einem Gedicht über das Älterwerden, über Medikamente auf dem Frühstückstisch, das Einnicken über Büchner, Brecht und Shakespeare, aber auch über die Zuversicht, die der Blick seiner neugeborenen Enkelin mit sich bringt. Gegensätze bringt er auch in seinen Kurzgeschichten zum Ausdruck. Diese handeln zum Beispiel vom Fussballspiel zwischen Leben und Tod, das sowohl 0:1 endet als auch im Fazit, dass wir Lebenden wohl alle etwas mehr zusammenhalten müssen. Das Ende seiner Erzählung vom Teufel als Autostopper – tatsächlich ist es Jesus, der den ungewöhnlichen Anhalter mit nach Rom nimmt, da der Papst ja an keinen von ihnen beiden mehr glauben würde – überrascht das Publikum und erntet einige Lacher.

Franz Hohler verbindet aber nicht nur scheinbare Widersprüche mit überraschenden Pointen. Er verweist auch auf Autoren, die ebenfalls in diesem Jahr in Solothurn gastieren. Die Spannweite der Gegenwartsliteratur, wie sie hier präsentiert würde, sei enorm. Sie reiche von Robert Prossers Debütroman über „alles Elend der Welt“ bis hin zu Gion Mathias Caveltys „irrem non-sense-Text“. Diese Seitenblicke münden in die Frage, die heute alle zu beschäftigen scheint: Was ist Literatur? Und vor allem: Was kann Literatur? Hohler beantwortet diese Frage mit seiner nächsten Erzählung: In einem Halbkreis sitzen einige Kinder um eine Dichterin, welche ihnen die Geschichte eines Kindes erzählt, das glaubt, ein Feuer im Garten zu sehen. Ein 3-jähriger Junge rennt daraufhin zum Fenster, um dieses Feuer zu sehen und verpasst dabei den ganzen Rest der Geschichte. Diese Fortsetzung brauchte er aber gar nicht, konnte er sich doch bereits alles vorstellen, die Geschichte füllte seinen Kopf und erwärmte sein Herz. Ob das auf die Literatur im Allgemeinen appliziert werden kann, sei dahingestellt. Dem langen Applaus nach zu urteilen, hat zumindest Hohlers Geschichte beim anwesenden Publikum genau diese Wirkung erzielt.

Z-W-E-T-S-C-H-G-E-N-K-N-Ö-D-E-L-T-A-G

Für ihren Roman Tauben fliegen auf erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Vor einigen Tagen gewann sie nun für ihren dritten Roman Schildkrötensoldat den ZKB-Schillerpreis. Doch Melinda Nadj Abonji ist nicht nur erfolgreiche Buchautorin, sondern auch Performancekünstlerin. Zunächst scheinen die einleitenden Klänge ihres langjährigen Bühnenpartners Jurczok 1001 ungewohnt, fast unpassend. Doch sobald Melinda Nadj Abonji zu lesen beginnt, ist man mittendrin. Die beiden Stimmen überlagern sich und schaffen einen fliessenden Übergang von der Klangkunst zur rhythmisch-lyrischen Sprache, derer sich Nadj Abonji bedient. Ihre Lesung beginnt gleich am Anfang von Schildkrötensoldat, bei Zoltán Kertész, einem jungen Mann aus einem Dorf im heutigen Serbien. Es ist die Region, aus der die Autorin selbst stammt.  Der Roman wird nicht nur mehrstimmig vorgetragen, er ist es auch selbst. Die Perspektiven von Zoltán und seiner Cousine Anna, die in der Schweiz lebt, wechseln sich ab. Erzählt Ersterer auf eine sinnlich-poetische Weise, wirkt Letztere eher analytisch.

Zoltán erzählt vom Zwetschgenknödeltag, dem Tag, an dem er in voller Fahrt vom Motorrad seines Vaters fiel. Der Tag, an dem er zum ersten Mal das sogenannte „Schläfenflattern“ hatte. „Der Anfang vom Ende“, so sein Vater, der ihn seine Enttäuschung  deutlich spüren lässt.
Dann steht Anna in Jugoslawien an Zoltáns Grab. Sie möchte nicht bemitleiden, sie möchte verstehen. Und sie möchte wissen, wann sein Sterben begonnen habe.
War es, als Zoltáns Eltern ihn während des Jugoslawienkriegs zur Armee schickten, um „zu einem richtigen Mann“ zu werden? War es in der Kasernenküche, wo Zoltán dem Spott der Kameraden ausgeliefert ist? War es die Vorstellung des Kriegs selbst? Oder die ihn umgebende „Militarisierung der Köpfe“, auf die Melinda Nadj Abonji vergangenen Freitag am Podium Balkan-Kriege – wie geht die Literatur damit um? bereits angesprochen hatte?
„Das Schlachten und Zerstören und Töten wird uns in die Wiege gelegt, in unser Hirn gesät, bevor wir überhaupt denken können.“, so Jenő, Zoltáns einziger Freund.

Jurczoks Klänge vermischen sich mit Melinda Nadj Abonjis Stimme, die beiden Medien überlagern sich, was eine gewisse Sogwirkung erzeugt, eine Atmosphäre, die nicht erlaubt, wegzuhören. Die Mehrstimmigkeit steht in eindrücklichem Kontrast zum Verstummen des Protagonisten in der Handlung und unterstützt zugleich die lyrische Ausdrucksweise seiner Gedanken.

Was man hier gesehen hat, war nicht nur eine Lesung, sondern eine Performance zweier Künstler, welche dem Roman nicht nur gerecht wird, sondern ihn um entscheidende Facetten bereichert. Zoltáns Konservierung der Sprache in lyrisch-rhythmischen Ausdrücken wird auf eine neue Ebene geführt. Wo die Ausdrücke begrenzt sind, beginnt die Musik. Und wo die Sprache verstummt, bleibt der Klang zurück.

Sackgassen oder existenzielle Schleudertraumata

18 Uhr. Das Foyer des Stadttheaters ist zum Bersten gefüllt. Ungeduldig warten die Besucher auf den Einlass. Mit einigen Minuten Verspätung beginnt schliesslich die Lesung von David Signer aus seinem neusten Werk Dead End – so glauben wir zumindest. Was dann aber folgt, ist eine euphorische Lobrede des Moderators Florian Vetsch auf den Autor, die kein Ende zu nehmen scheint. Dabei stellen wir uns die Frage, ob Signer diesen Vorschusslorbeeren gerecht werden kann.

Mit ruhiger Stimme liest Signer Ausschnitte aus drei seiner acht Erzählungen von Dead End vor. Sie alle weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Alle Protagonisten sind männlich, weiss und um die 40 Jahre alt. Durch seltsame Zufälle geraten sie in vertrackte Situationen, aus denen sie nicht wieder herauskommen – Sackgassen, oder auf Englisch Dead Ends. Wer dabei die grosse Tragik erwartet, irrt gewaltig: Die Geschichten triefen vor Humor, der genauso düster ist, wie die Milieus, in denen die Handlungen spielen.

Ein ominöses Erbe wartet darauf, in Empfang genommen zu werden und der Einzige, der dafür in Frage kommt, ist Christian Hartmann, Mathematiker und chronisch misstrauisch. Trotzdem rutscht er Schritt für Schritt in sein Verderben. Dies passiert auch Fred, der ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt unter dem Motto „to have a walk on the wild side“. Die Sinne von Drogen vernebelt, trifft er auf die viel jüngere Juliane und verliebt sich auf Anhieb. In absurden Zufällen glaubt er einen tieferen Sinn zu erkennen. Ihre blauen Augen erinnern ihn an den Bodensee – was für eine glückliche Fügung des Schicksals für den Schweizer! Am nächsten Tag versucht er sie anhand von Erinnerungsfetzen wieder aufzuspüren, wobei er ebenso in sein Verderben rennt, wie Christian Hartmann zuvor.

Der schwarze Humor kommt beim Publikum ebenso gut an wie beim Moderator, der die Augen während der Lesung nicht vom Text lassen und sich vor Lachen kaum halten kann. Zu Recht, denn die beschriebenen Situationen sind in ihrer witzigen Absurdität kaum zu überbieten.

Im anschliessenden Gespräch gesteht Signer seine Vorliebe für amerikanische Literatur. Die deutschsprachige Literatur weise für Signer einen zu grossen Fokus auf die Innerlichkeit auf, während in der amerikanischen Literatur die Figuren in die Handlung herausgeschleudert würden. Letzteres will auch Signer in seinen Texten erreichen. Dies ist ihm gelungen. In Dead End werden die Figuren der Handlung hilflos ausgesetzt, trotz vergeblicher Versuche, diese selbst zu bestimmen. Glaubt man Signers eigenen Worten im Gespräch, erleben die Figuren in Dead End ein „existenzielles Schleudertrauma“.

18:50 Uhr. Die Zeit drängt. Bis um 22 Uhr hätte die Lesung weitergehen können, findet der Moderator. Das finden wir auch.

Simon Härtner und Fabienne Suter

„Litter à tour“ – Einwegtexte über die Menopause der Madame Montagne

Nachmittag in Solothurn. Es ist heiss, eine gewisse Mittagsmüdigkeit stellt sich ein. Und dann kommt Patti Basler. Scheinbar in einem Atemzug gibt sie eine Ode an die Komposita im Kontext der zeitgenössischen nominalen Bindungsängste von Jugendlichen, liefert ein Requiem an eine berühmte Legehenne – die (oder das?) Eier-leg-ende – und eine Antwort auf Kreneks Liederzyklus über die österreichischen Alpen. „Madame Montagne: Das Ende des Zyklus‘ in den Sprachen der sieben Alpenländern.“ Und die Alpen als Frau in den Wechseljahren, gebeutelt von Wanderzecken und iPhone-Trägern, wo doch ihr eigener iSprung schon lange vorbei sei. Die Tage des jungfräulich von Wolken verdeckten Hauptes werden von Zeiten der Enthüllungspflicht abgelöst, wie auch die Sprachen und Dialekte der Alpenländer in der Performance der Vize-Schweizermeisterin im Poetry Slam 2018 fliessend ineinander übergehen.

Littering, das sei ja das grösste Problem bei diesem Wetter. Und davon habe Patti Basler in Form von Einwegtexten auch gleich etwas mitgebracht. An Müll erinnern die temporeichen Texte jedoch keineswegs – eher an einen Sturm an Andeutungen und Wortspielen: Überraschend, erfrischend und vor allem direkt.

Unser Team in Solothurn: Fabienne Suter

Fabienne Suter studiert Germanistik, Geschichte und Philosophie in Zürich. Mit Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat hat sie sich in den letzten Wochen ausführlich beschäftigt – nun freut sie sich darauf, die Autorin in Solothurn live erleben zu dürfen. Besonders gespannt ist sie auch auf die Erlebnisse neben der Bühne, auf spontane Neuentdeckungen und neue Lieblingsbücher.