«Keine Literatur ohne Krise»

Der Samstagabend soll im «Karl der Grosse» ganz im Zeichen der Krise und der Frage stehen, was der Literatur in solchen Zeiten für eine Rolle zukommt. Im Podium diskutieren der Schriftsteller und Meinungsmacher Lukas Bärfuss, die Schriftstellerin und Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou und der Literaturwissenschaftler und Autor Thomas Strässle – moderiert von Traudl Bünger.

Gleich zu Beginn wird der Bezug zur Coronakrise hergestellt. Bärfuss erzählt von den vielen abgesagten Anlässen und darüber, wie der Kulturbetrieb unter der Pandemie leidet, gibt aber auch zu bedenken, dass es andere Länder schlimmer getroffen hat als die Schweiz. Gerade nun sei es wichtig, Zuversicht in die Gesellschaft zu tragen. Auf persönlicher Ebene sieht Lucadou die Krise als produktives Moment. Auch Bärfuss pflichtet ihr bei und führt aus, dass die Metamorphose am Anfang der Literatur stehe. Es wird folglich darüber diskutiert, inwiefern man Krisen durch literarisches Schreiben beschleunigt und dass Krisen, über die geschrieben und gesprochen wird, bereits in der Wirklichkeit angelegt sein müssen.

Thomas Strässle, Julia von Lucadou, Lukas Bärfuss (v.l.)

Immer mehr verschiebt sich der Diskurs in Richtung Verschwörungstheorien und die Diskutierenden sprechen über die Notwendigkeit, Selbstverständliches zu thematisieren und ob es ertragreich ist, sich in die Position der Opponierenden zu versetzen. Zeitweise gerät die eigentliche Frage des Abends – die nach der Rolle der Literatur – aus dem Blick, was nicht zuletzt an der Moderatorin liegt, die es nur teilweise vermag, die Literatur in der Krise ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Überrascht nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer es zur Kenntnis, als die Moderatorin das Podium zu einem Ende bringen will. Symptomatisch dafür steht denn auch die Meldung einer älteren Dame, dass sie die Frage des Abends zu wenig thematisiert finde und gerne noch die Frage nach der Systemrelevanz der Literatur besprechen würde. Darauf thematisiert Bärfuss die zu problematisierende Dichotomie zwischen wichtig und unwichtig und Strässle ergänzt, dass die Literatur – auch in Abgrenzung zu anderen Textformen wie bspw. der Reportage – eine ganz spezifische Funktion wahrnehme und deshalb systemrelevant sei.

«Den Menschen, die nicht resignieren»

Von Regula Weber

In der Paranoia City Buchhandlung feiern die Gastgeberinnen eine kleine Premiere: Gemeinsam mit der Lektorin Christiane Schmidt stellt Beatrice Schmid ihr neues Buch «Du weißt mich jetzt in Raum und Zeit zu finden« vor, das im August im Rotpunktverlag erschienen ist und dessen Widmung diesem Blogbeitrag den Titel geliehen hat. Wir sitzen zwischen den Regalen der gut sortierten Buchhandlung und erfahren, wie die Autorin die Geschichte ihrer Grosstante Paula und ihrer Grossmutter Marie erforscht und im Buch realisiert hat.

Die Ausgangslage ist durchaus bekannt: Ein Koffer, der über Jahre auf dem Dachboden der Eltern gelegen und Briefe, Fotos und andere Dokumente ihrer Vorfahrinnen enthalten hat, steht am Beginn einer faszinierenden Reise in die Vergangenheit. Auf dieser Reise hat die Geschichtslehrerin Beatrice Schmid akribisch genau die Spuren der Grosstante und Grossmutter verfolgt, Quellen studiert, Sekundärliteratur beizieht, Briefe übersetzen lässt, nach Russland reist, Gespräche mit ihren Verwandten in Russland und in der Schweiz führt. Immer ist auch die Stimme der Grossnichte und Enkelin Beatrice Schmid zu vernehmen, die empathisch und mit vielen drängenden Fragen, die sich nicht nur auf Basel, Moskau oder den Gulag im 20. Jahrhundert, sondern auch auf die politischen Verhältnisse und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts beziehen, die Verbindung zu ihren Vorfahrinnen aufnimmt. Und dies immer im Bewusstsein, dass «ich diese beiden Frauen in mir trage. Sie haben mich geformt, genauso wie ich sie kreiert habe […].»

Paula, die Schwester ihres Grossvaters, reist als junge Frau 1921 zusammen mit Waldemar Brubacher in die gerade entstehende Sowjetunion, um dort ihre politische Überzeugung für eine gerechtere Gesellschaft leben zu können. Doch die historischen Ereignisse führen dazu, dass sie 1938 verhaftet, nach Workuta verbannt und ihre zweijährige Tochter in ein Kinderheim gesteckt wird. Die Briefe, die sie aus dem Gulag ihrer Tochter Solveigh und einer Bekannten schreibt, die Kontakt zu Solveigh hat, gehören zu den berührendsten Zeugnissen des gesamten Texts. Auch nach 8 Jahren Haft bleibt Paula der Partei treu. Sie wird nach Stalins Tod rehabilitiert und lebt mit ihrer neuen Familie, zu der auch Solveigh gehört, bis zu ihrem Tod 1973 in Russland.

Marie, Beatrice Schmids Grossmutter, 1906 geboren, arbeitet bis zu ihrer Heirat mit Hans Schmid als Hilfsarbeiterin in einer grossen Bäckerei. Später engagiert sie sich schreibend für das Frauenstimmrecht. Im Gegensatz zu Paula verlässt sie aber 1956 die Partei. Die Dokumente, in denen sie ihren Austritt begründet, zeugen von ihrer Fähigkeit, eigenständig und selbstbewusst zu denken und ihren Werten entsprechend konsequent zu handeln.

Auf die Frage, wie sie auf die Idee gekommen sei, dieses Buch zu schreiben, antwortet die Autorin, sie habe einerseits ein historisches, aber andererseits auch ein persönliches Interesse geleitet. Zudem sei für die Entstehung des Texts auch der politische Kontext des Jahres 2015 von Bedeutung gewesen, als im Zuge des Wahlkampfs von Trump, Erdogan und Marine Le Pen Parolen laut wurden, die sie als Historikerin aus Geschichtsbüchern schon kannte, und sie sich fragte, wo und wie man in diesem politischen und gesellschaftlichen Umfeld Orientierung finden könnte. Auch war ihr bewusst, dass sie bald mit der Recherche beginnen musste, wollte sie den Kontakt zu ihren Verwandten in Russland nicht versiegen lassen.

Beatrice Schmid brachte die Dokumente in eine chronologische Reihenfolge und realisierte dabei, dass für die Schilderung der Kindheit und Jugend der beiden Frauen nicht viel Material vorhanden war. Deshalb wählte sie z.B. für die Darstellung des sozialistischen Weltkongresses 1912 die Form einer Erzählung, in der ihre Verwandten auftreten. Diesen Kunstgriff deklariert die Autorin im Text mit Verweisen auf das fiktionale Schreiben; in anderen Passagen wird einer Reportage gleich von ihren Recherchen berichtet. Den Text begleitet sie mit Fragen, die sich auf den Prozess des Erinnerns und Konstruierens beziehen, die zur Reflexion über die Bedeutung der geschilderten Vorgänge anregen und sie mit der Gegenwart verknüpfen.

Entstanden ist ein Buch, das berührt, weil die porträtierten Frauen uns in ihren Texten nahekommen und weil ihre Geschichten bis in die Gegenwart wirken – nicht nur für die Autorin.

Im Text wird auch die Frage gestellt, was ein gewöhnliches und was ein aussergewöhnliches Leben ausmache und wann ein gewöhnliches Leben aussergewöhnlich werde.

Paula Brubacher und Marie Schmid waren zwei Frauen, deren Leben sicher Parallelen zu anderen Frauenbiographien des 20. Jahrhunderts aufweisen. Doch aufgrund ihres politischen Engagements, ihrer Energie und ihres Muts, ihre Ideen zu verwirklichen, werden sie zu aussergewöhnlichen Persönlichkeiten. Zum Glück hat Beatrice Schmid den Koffer auf dem Dachboden geöffnet und die Reise angetreten.

Heimat als Tätigkeit

Von Sabine Cassani


Der Ort seines heutigen Gesprächs mit Isabelle Vonlanthen ist für Usama Al Shahmani durchaus bedeutend: War es doch genau hier in der Zentralbibliothek Zürich, wo der Autor des Romans «Im Fallen lernt die Feder fliegen» vor 17 Jahren Deutsch lernte und einige Texte des Theologen und Hermeneutikers Friedrich Schleiermacher ins Arabische übersetzte. Wegen eines Theaterstücks im Irak verfemt und in der Schweiz Asyl suchend, war er damals nicht einmal zum Eintritt in die ZB berechtigt. Wie er sich trotzdem Zutritt verschaffte, so verspricht er seinem Publikum, werde er in einem nächsten Text erzählen.
Die Anekdote passt sehr gut zu Usama Al Shahmanis neuen Roman «Im Fallen lernt die Feder fliegen». Dieser handelt von einer Flucht und den Schwierigkeiten der Integration: Die Familie der jungen Ich-Erzählerin Aida ist aus dem Irak über mehrere Stationen in die Schweiz geflüchtet. Die beiden Töchter lernen schnell Deutsch. Die Eltern aber begegnen in der neuen Umgebung vor allem Hindernissen. Gleich im ersten Auszug, den der Autor liest, wird die Wut des Vaters, eines Theologen, über seinen fluchtbedingten sozialen Abstieg spürbar. Für die Eltern wird so letztlich der Irak die Heimat bleiben, die Kinder jedoch leben in zwei parallelen Welten.
Dieser intergenerationelle Konflikt, der sich vor allem auch am Begriff der Heimat entzündet, wird für die Ich-Erzählerin dadurch verstärkt, dass sie in der Schweiz stets nach ihrer Herkunft gefragt wird. Immer muss sie deklarieren, woher sie kommt – und wird letztlich darauf reduziert.
Die Familie kehrt nach Saddam Husseins Hinrichtung in den Irak zurück, die Töchter aber finden dort keine Heimat und migrieren wieder in die Schweiz.
Danach gefragt, wieso er eine weibliche Ich-Erzählerin für diese Geschichte wählte, gibt der Autor zu bedenken, dass sehr viele Kriegsgeschichten aus der männlichen Perspektive erzählt worden seien. Vor allem aber betont Usama Al Shahmani, dass er selbst in der Sprache – und eben nicht in einem Ort – seine Heimat gefunden habe: im Arabischen, im Deutschen, im Schreiben und Übersetzen. Heimat sei für ihn deshalb eine Tätigkeit, nicht ein Ort.  

«Es gibt ein Drittes zwischen historischer Wahrheit und Lüge. Es trägt den Namen Evangelium»

Ein Titel, der garantiert dafür sorgt, dass kaum jemand weiterliest? Vielleicht – wäre aber schade.

Über Jesus und Gott reden: eine Zumutung, ja, salopp gesagt, ein Ablöscher? Denn wer glaubt heute noch an Gott und wer geht noch in die Kirche (der Schreibende zum Beispiel, aber aus beruflichen Gründen)? So gesehen war die Programmierung eines theologischen Zwiegesprächs zwischen dem Fraumünsterpfarrer Niklaus Peter und dem Nürnberger Theologieprofessor und Buchautor Ralf Frisch über Jesus unter dem Titel Nichts für schwache Nerven mutig. 

Um eine der Fragen zu beantworten: ja, man geht. Der weitläufige Kirchenraum war locker gefüllt, der Altersdurchschnitt merklich höher als an anderen von mir besuchten «Zürich liest»-Veranstaltungen. (Der Schreibende hat den Altersdurchschnitt nicht nach unten gezogen).

An Gott zu glauben – eine Zumutung? Man könnte es so sehen. Frisch hakt genau da ein und möchte uns mit seinem Buch das Gedankenexperiment Jesus, die Science Fiction Jesus zumuten. Im Laufe des Gesprächs stellten sich Zweifel darüber ein, was ein Nicht-Berufstheologe oder sonst an solchen Fragen Interessierter da zu suchen hatte. Im Grossen und Ganzen wartete der Austausch zwischen den Theoleogen mit keinen Überraschungen auf, das Verhältnis zwischen unstrittigen und provokativen Äusserungen war gut ausgewogen. Das heisst: Provokativ nur für solche, die sich über kritische Fragestellungen zu Gott noch aufregen. Für alle anderen haftet Sätzen wie «Wäre es nicht klüger gewesen, der Nachwelt den Kreuzestod zu ersparen? War die Auferstehung des Nazareners nur ein Hirngespinst?», längst nichts Himmelstürmendes mehr an.

Ralf Frisch – selber eine Art Science fiction

Und doch! Dank der aussergewöhnlichen Konstellation, die eine Überlagerung zwischen Live und Video schuf, gewann Ralf Frisch selber einen Fiktionscharakter, übergross auf Leinwand zu sehen und mit mächtigen Lautsprecherstimme durch den Raum dröhnend. Welch starkes Bild! Wahrscheinlich war diese Fiktion stärker als es ein physisch präsenter Referenten gewesen wäre. Dazu kam die wunderbar offene, fragend-provokative Musik von Querflöte, Horn und Saxophon, die im Zusammenspiel hervorragend klangen. Das musikalische Intermezzo brachte etwas Neues ins Spiel, das auch indifferente oder skeptische Menschen, so sie überhaupt anwesend waren, einnehmen oder wenigstens ansprechen konnte. 

Leider gab es immer wieder Gemeinplätze zu hören, es fiel irgendwann der Name Friedrich Bonhoeffer wie an jeder anständigen protestantischen Veranstaltung, und natürlich fehlte auch die heutige Themen-Trinität CoGreTru nicht. Die Rolle von Niklaus Peter hätte man sich durchaus etwas aktiver vorstellen können (wie diejenige seiner Frau an der Querflöte). Frisch war übermächtig, nicht nur bildlich, ein Dialog fand kaum statt.

Das Bild bleibt

Fazit: Starke Nerven brauchte es nicht unbedingt, es hätte genügt, die eigenen Gedanken ausserhalb des üblichen Rahmens schweifen zu lassen. Aber was bleibt, ist das Bild.

Poetry is dead, long live Poetry!

Wenn Tom Gabriel Fischer, Mitbegründer der einst global erfolgreichen Metal-Band «Celtic Frost», und Philipp Theisohn, Germanistikprofessor an der Universität Zürich, zum Gespräch laden, findet sich im Lesungssaal nicht unbedingt das bekannte Literaturhauspublikum ein. Und auch der Ton auf der Bühne entspricht nicht dem allzu Erwartbaren.

«Tja, was machen wir?», eröffnet Theisohn den Abend und stellt sogleich zu Beginn klar, dass hier kein verkopftes literarisches Quartett zu erwarten ist. Quartett schon gar nicht, denn aus dem Trio ist leider ein Duo geworden, der Dritte im Bunde, Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath konnte leider coronahalber nicht einreisen. The virus is a satan, an dieser Stelle.

Was machen sie also? In guter alter Oberseminar-Manier versucht Theisohn zunächst, einen gemeinsamen Horizont herzustellen und das Wesen des Heavy Metal zu befragen. Dazu Fischer, der durchaus Parallelen zum Punk sieht: «Es geht um die Sicht auf die Welt, eine Perspektive, die der Text einem gibt.» In diesem Kontext verweist Theisohn auf Fischers Buch mit dem eher weniger zweideutigen Titel «Only Death Is Real», das er für den Agglo-Diskurs der 1980er als kulturarchäologisch wesentlich erachtet. Fischer bestätigt diese Einschätzung und plaudert aus dem pubertären Nähkästchen auf dem Land und betont, dass es darum vor allem darum ging, aus ehrlichen Motiven zu handeln. Und immer darauf zu achten, dass aus der Gegenbewegung von gestern nicht der Mainstream von morgen werde.

Diese Kritik am Mainstream – auffällig auch in der Punkszene –, und das Gerede davon, nicht Sklave des Konsums und des Markts sein zu wollen, steht allerdings heute selbst in auffälliger Nähe zum Mainstream. Anhand eines äusserst amüsanten «Manowar»-Videos gibt Theisohn deshalb zu bedenken, dass jede behauptete Authentizität immer auch als Inszenierung verstanden werden könne und durchaus auch müsse. Das erste Mal fällt die These, dass auch Metal letztlich Bedürfnisse erfüllt, beispielsweise im Zelebrieren eines Heldenkults. Mit Held*innen kennt sich die Germanistik indessen aus, und so wagt sich Theisohn schliesslich an die ganz grosse Auslegung: «Wo steht hier das Ich?»

So viel Universität war im Entstehungsprozess aber offenbar nicht intendiert: «Wir waren damals Bubis», sagt Fischer und wünscht sich offenkundig ein anderes Thema. Hätte Dath hier geholfen?

Theisohn lässt aber nicht locker und versucht, über den Begriff des Tyrannen einen neuen Zugang zu bauen, verweist auf dessen Ambivalenz. Doch Fischer zieht es eher zu seinen Erinnerungserzählungen aus der Szene.

Metal ist nicht für den Schongang bekannt, und so versucht Theisohn nochmals mit dem Thema Drastik einen gemeinsam Zugang zu finden. Was also bedeutet Metal, der dermassen extrem und auf den ersten Blick destruktiv ist? Metal, der beim Schrecken bleibt und vom Schockmoment in ein Verharren übergeht? Als ein krasser Text von Slayer aufgelegt wird, gerät die Diskussion endgültig ins Stocken. Theisohn möchte sich in diesem grössten Horror auf poetologische Spurensuche begeben, doch Fischer tilgt jeden Analyseversuch: «Das ist alles schön und gut, aber wir haben eine Verantwortung und müssen uns der Wirkung eines Textes bewusst sein.»

Schade, dass Theisohn und Fischer auf dieser Ebene nicht zueinander fanden. Gerade die Frage, welchen Anteil kulturelle Artefakte an tatsächlichen Straftaten haben können, wäre einer vertieften Betrachtung würdig gewesen.

Text und Bild: Katharina Alder/Redaktion: Christoph Steier

Auf ein Glas – oder besser zwei

Das Konzept von «Auf ein Glas mit…» besteht darin, den zahlreichen Autor*innen mit Neuerscheinungen diesen Herbst eine Plattform zu bieten. Ebenso erhofft sich Moderatorin Traudl Bünger eine gegenseitige Bereicherung. Die heutigen Autorinnen Gertrud Leutenegger mit ihrem Roman Späte Gäste und Dorothee Elmiger mit Zuckerfabrik hätten sich ein Zusammentreffen explizit gewünscht.

Die grosse Vorfreude hinter den Gesichtsmasken ist im ganzen Saal zu spüren. Nur leider bietet die Moderatorin einen denkbar schlechten Einstieg in die Veranstaltung und verliert sich in Inhaltsangaben, privaten Gefühlszuschreibungen, Literaturpreisauflistungen und müssigen Coverdiskussionen. Es dauert geschlagene fünfzehn Minuten, bis die Autorinnen literarisch endlich zu Wort kommen. Gertrud Leutenegger nimmt das Zepter in die Hand und konstatiert, sie lese jetzt einfach mal drei Stellen aus ihrem Buch vor. Mit einem Lächeln und dem Prädikat «einfach ganz, ganz toll» wird ihr das im Anschluss gedankt. Durch ihr geschlossenes Fragesystem lässt die Moderatorin Leutenegger wenig Raum, vielmehr gesteht diese nach kurzer Stille Verlegenheit ob der Frage ein. Nach einem längeren Murks kann sich Leutenegger dann doch noch entfalten und einige Absichten und Haltungen zu ihrem Text transportieren. Tells Sprung auf die Felsplatte, sein Sprung in die Freiheit steht für sie für das Flüchtige in jedem von uns. Gerne hätte man mehr davon erfahren, ein Gespräch kommt aber nicht in Gang. Für die Hörerin im Saal bleibt daher alles Weitere im Dunkeln.

Nach Leutenegger wendet sich Bünger Dorothee Elmiger zu. Dieser gelingt es glücklicherweise sehr gut, den Lead an sich zu nehmen und Einblicke in ihren Schreibprozess zu geben. Es falle ihr schwer, die verworrene, komplexe Wirklichkeit in eine stringente Erzählung zu verpacken. Die Form ihres Textes – der nicht einem marktüblichen Roman gleicht – entspreche ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen und darüber Nachzudenken. Ruhig und besonnen liest Elmiger einen Textabschnitt, was ihren Ton wunderbar in Szene setzt und das soeben Erklärte untermalt. Assoziativ verbindet Elmiger Szenerie, kreiert unerwartete Bilder, zeichnet durchlässige Charaktere. Für sie sei es wichtig, die Sprache und das ihr zur Verfügung stehende Material genau zu untersuchen und zu befragen. Sie wolle nicht in einen Topf voller Lebensgeschichten greifen und sie für ihre Zwecke gebrauchen. Vielmehr sei es ihr wichtig, ihr Tun transparent zu halten und auch ihre Zweifel in den Text zu stellen. Auf der Ebene der Sprache stelle sich dann die Frage, wie sie beispielsweise eine Person beschreiben kann, ohne sie zu zementieren, sie in allen Möglichkeiten und Facetten zu offenbaren. Auch in ihrer persönlichen Rezeption von fremden Texten erinnert sie sich nicht an Plots, sondern an Haltungen, Bilder und Räume. Ob solchen Aussagen schmilzt das Literaturherz, die Hörer*innenschaft hängt ihr an den Lippen.

Hier wäre der Punkt gewesen, an dem ein literarischer Austausch zwischen den beiden Frauen hätte beginnen können. Leider lenkte die Moderatorin den Fokus von der metasprachlichen Ebene zurück zu der im Gegensatz dazu doch eher uninteressanten Frage nach dem Buchcover. Elmiger stellt mit Achselzucken fest, dass sie dazu überhaupt nichts beigetragen habe, dass das – wie üblich – Sache und Entscheidung des Verlags sei. Und somit reichlich wenig mit dem Literarischen einer solchen Veranstaltung zu tun hat.

Als Traudel Bünger das Gespräch schliesst und sich bedankt, ruft Leutenegger erstaunt aus. «Es ist schon fertig? Ich dachte, jetzt gehe das Gespräch erst los.» Damit fasst sie den Abend treffend zusammen und spricht dem Publikum aus dem Herzen. Wo genau liegt der Mehrwert des Konzepts von zwei Autorinnen? Offenbarte Möglichkeiten wurden nicht genutzt, der Austausch um sein Potential gebracht. Elmiger konnte durch ihre kluge Vorgehensweise doch einigen Inhalt transportieren, Gretrud Leuteneggers Schaffen fiel dem unglücklichen Agieren seitens der Moderatorin leider zum Opfer. Sehr schade.

Ein Land von Haarflüchtlingen

Jetzt wissen wir, was Isländer auszeichnet (wenigstens die Männer…): Als Nachkommen der Flüchtlinge vor dem Wikingerkönig Harald Schönhaar seien sie allesamt Haarflüchtlinge, meint der glatzköpfige Isländer Hallgrìmur Helgason. Damit ist auch gesagt, dass der «perfekte Isländer» (O-Ton Hallgrìmur Helgason) Joachim B. Schmid mit seinem Haarrest vielleicht halt doch nur ein halber Isländer ist. Das Publikum war aber nicht ins Zentrum Karl der Grosse gekommen, um etwas über die Haartracht der Isländer zu erfahren. Einen Einblick in den besonderen isländischen Humor hat man mit dieser launigen Episode aber schon mal gekriegt. Selbstverständlich ging es um Bücher, um die neuesten Publikationen der beiden Autoren: 60 Kilo Sonnenschein von Hallgrìmur Helgason und Kalmann von Joachim B. Schmid, vorgestellt und moderiert von der Islandistin Ursula Giger.

Hallgrìmur Helgason liest kurzerhand aus der isländischen Originalausgabe seines ausladenden Romans. Die Gefühle angesichts eines Textes in einer unverständlichen Fremdsprache sollte sich als nützlich erweisen, wenn es später darum geht, die Reaktionen von Jaochim B. Schmids als Neu-Isländer zu verstehen. Da das Buch eine Art «All-in-One-Geschichtsbuch» Islands ist, erzählt aus der Perspektive eines Fjordbewohners vor dem Heringsboom, war isländische Geschichte omnipräsent. Die Schneedecke als unbeschriebenes Blatt am Anfang des Buches, auf welches Geschichte geschrieben wird, ist ein wunderbares, genuin isländisches Bild, das viel über das Nationalbewusstsein aussagt. Die Isländer*innen, da waren sich alle einig, verstünden sich heute noch manchmal als Kurzzeit-Gäste in ihrem eigenen Land, als Bewohner*innen eines gigantischen Zeltplatzes. 

Bei Joachim Schmids Buch drängt sich für die Lesenden die Frage auf, ob Kalmann wirklich ein Krimi sei oder nicht, oder vielleicht sogar ein missratener Krimi? Wie erwartet, meint Schmid: eher ein Portrait als ein Krimi. Die lesende Person niste sich im Kopf von Kalmann ein. Man solle ihn zuerst ruhig unterschätzen, um dann zu merken, was wirklich in ihm stecke, auch wenn ihm oft die Worte fehlten und die Sprache bewusst unbeholfen sei.

Als Schmid gefragt wird, was er dazu sage, von einem Isländer als echter Landsmann bezeichnet zu werden, blitzt wieder (schweizerisch-)isländischer Humor hervor: Seine schönste Zeit sei diejenige am Anfang gewesen, als er noch kein Isländisch verstanden habe. Daraus sei dann nach und nach eine gewisse Hassliebe geworden – ganz isländisch, meint doch ein geflügeltes Wort, die Isländer seien nirgends so glücklich wie am Flughafen Keflavik: Verlassen sie doch gerade das Land, das sie hassen, oder aber kehren zurück in das Land, das sie lieben.

Brüchige Welt

Mit eineinhalb Meter Abstand positionieren sich am Donnerstagabend im «Karl der Grosse» der Schriftsteller Jens Steiner, die Schriftstellerin Seraina Kobler und die Moderatorin Traudl Bünger auf dem Podest. Ihnen gegenüber setzen sich so langsam Zuhörerinnen und Zuhörer – bestens ausgestattet mit Masken. Im Zentrum der Lesung stehen Jens Steiners Episodenroman Ameisen unterm Brennglas und Seraina Koblers Debütroman Regenschatten.

Nach einer kurzen Vorstellung liest Seraina Kobler einige Passagen aus ihrem Werk. Sie entwirft dabei das Szenario von einer aus den Fugen geratenen Welt, das für zeitgenössische Leser den dystopischen Charakter teilweise verloren hat: Zürich ist geprägt von einer Megadürre und mitten drin sind zwei Verliebte, die ein Kind erwarten und sich die Frage stellen, ob sie das Kind behalten oder abtreiben sollen. Eine Parallele zur momentanen Ausnahmesituation mit Covid-19 wird relativ schnell gezogen. Sie habe sich zu Beginn der Pandemie gefragt, ob sie nicht doch lieber eine Utopie inszeniert hätte, da gewisse Handlungen im Roman gar nicht mehr so realitätsfremd scheinen, so Kobler.

Auch Jens Steiners Roman inszeniert eine brüchige Welt, entwirft ein Gesellschaftsportrait und zeichnet dabei die Verhaltensmuster der Figuren in seiner Erzählung akribisch genau nach. Den Tieren schreibt Jens Steiner – gefragt nach einem für ihn faszinierenden Element in seinem Erzählen – die Funktion der Aussenstehenden, Beobachtenden zu, die das komische Verhalten der Menschen spiegeln.

Als ich das Gebäude verlassen habe, ziehe ich die Maske aus und denke nochmals über das Gesagte nach: Mir imponiert, wie genau Seraina Kobler und auch Jens Steiner gesellschaftliche Tendenzen und Probleme – gerade auch der Corona-Zeit – in ihren Romanen beschreiben.

Seines Glückes Designer*in werden

Das «Playbook» eines American-Football-Teams schreibt allen Spieler*innen ihre Bewegungen auf dem Feld genau vor, damit sich die Mannschaft an die optimale Taktik hält. Das «Design Your Future Playbook» – kurz «DYF Playbook» – hat daher seinen Namen und soll Taktiken vermitteln, wie man Lebensprobleme aus dem passenden Winkel tacklen kann. Darüber verliert es aber keine langatmigen Paragraphen, sondern bietet Illustrationen, kurze Texte und vor allem viele Übungen, die zur Reflexion anregen.

Eine Mischung aus Übungsheft, Ratgeberliteratur und Optimierungsgedanke? Ich setze mich in die gut gefüllten Stuhlreihen der Buchhandlung Nievergelt, um das herauszufinden. Hinter dem «DYF Playbook» stehen Jean-Paul Thommen, Coach für persönliche Entwicklung und Dozent für Betriebsökonomie, sowie Michael Lewrick, der verschiedene Firmen in Innovationsfragen berät und Schulungen zu «Design Thinking» anbietet. Das «Design» im Buchtitel leitet sich von diesem Konzept her und, so erklärt Michael Lewrick, steht für eine Denkhaltung, eine Herangehensweise an schwierige Situationen: Sich intensiv mit einer Frage auseinandersetzen. Das zugrunde liegende Problem identifizieren. Es mit der passenden Strategie lösen.

Wie das «DYF Playbook» seine Spieler*innen an diese Denkhaltung heranführt, darf das Publikum gleich selber ausprobieren. Wir bekommen eine Kostprobe und üben uns in Selbstreflexion und kreativer Problemlösung. Ich bin skeptisch. Kann, soll man sein Leben behandeln wie ein Designprodukt? Macht es immer glücklich, gezielt zu wachsen? Darf das Leben nicht auch einfach wuchern? Nutzenmaximierte Lebensläufe zu produzieren sei nicht das Ziel des Buches, sagt Jean-Paul Thommen. Es soll vielmehr jede*n Einzelne*n dazu anregen, die eigene Handlungsfähigkeit zu entdecken, sich intensiv mit sich auseinander zu setzen und positive Veränderungen anzustossen.

Das Umfeld mit in diesen Prozess einzubeziehen, sei besonders wichtig, betonen die Autoren weiter: Veränderung kann im Vakuum nicht gut gedeihen. Gerade darum sei das «DYF Playbook« auch als Teamsport angelegt. Am besten also gleich auch ein Buch für eine*n Mitspieler*in kaufen. Diese Taktik geht auf und die Autoren können zum Schluss viele «Playbook»-Exemplare signieren. Das «DYF Playbook» scheint eine Fangemeinde in Zürich gefunden zu haben.

Immer eine Suche

Der zweite Roman als das Schwierigste, was Autor*innen anpacken können – dieses verbreitete Bild beschwört die Moderatorin Arlette Graf gleich zu Beginn der Lesung im «Karl der Grosse» herauf. Mit ihr auf dem Podest sitzen Meral Kureyshi und Frédéric Zwicker, deren Zweitlinge diesen Herbst erschienen sind.

Das Lamento über die Schwierigkeiten des zweiten Romans bleibt aber gänzlich aus. Beide finden, dass es wahrscheinlich genau dieses Bild vom schwierigen zweiten Roman sei, das dazu führe, dass er für viele Autor*innen dann tatsächlich schwierig sei. Sie erzählen von langen Recherchen und frühen Schreibphasen, in denen sie, auch noch mit dem ersten Projekt beschäftigt, schon den zweiten Roman angefangen haben. Dem angsterfüllten Moment, das zweite Buch nach dem ersten anzufangen, gaben sie so gar nie Raum.

Die Furchtlosigkeit vor dem zweiten Roman – ein gutes Omen? Beim Erklingen der Texte «Fünf Jahreszeiten» und «Radost»  wird jedenfalls klar, dass es sich um ausgereifte Werke handelt und sich tatsächlich keine Spuren von Mühsamkeit zeigen. Die Geschichten – soweit sie in der Lesung zum Vorschein kommen – wirken rund.

Vielleicht, weil in beiden Romanen jeweils zwei Teile zueinander gefunden haben: In «Fünf Jahreszeiten» ist da einerseits die Aussensicht auf das Aufsichtspersonal von Museen und andererseits das innere Gefühl der Pause, das beim Erleben einer solchen Arbeit entstehen kann, sowie weitere, subjektive Lebenseindrücke einer jungen Frau. «Radost» setzt sich zusammen aus der Geschichte eines psychisch Kranken, der sich im Laufe der Geschichte mit dem Erzähler anfreundet, und den Reisen des Erzählers, mit und ohne Rad, unter anderem nach Zagreb und Sansibar. Einmal liest Frédéric Zwicker vor, einmal Meral Kureyshi. Dabei bleibt es leider. Die beiden Texte hätten noch eine grössere Bühne verdient, mehr Zeit, gelesen zu werden.

Dafür kommen die Autor*innen einfach und schnell ins Gespräch. Auf die Fragen der Moderatorin scheint aber vor allem Meral Kureyshi nicht ganz entspannt zu antworten. Was da stört, ist unklar, aber da ist von Anfang an etwas, das einrastet und zwischen den beiden nicht in Bewegung kommt.

Wann ein Buch fertig sei, möchte Arlette Graf wissen. Die «Kinderfrage», wie sie sie nennt, birgt durchaus Tiefen. Frédéric Zwicker sagt, was gesagt werden muss und meint pragmatisch: wenn das Buch gedruckt ist. Meral Kureyshi aber bricht eine Lanze für die unendliche Geschichte – es gäbe nie ein Ende, das, was da nun gedruckt sei, sei lediglich eine Möglichkeit, ein Versuch, aber das könnte genauso gut auch noch weiter gehen.

Die Autor*innen unterhalten sich lange über die Suche der Romanfiguren. Was ihre Figur sucht, will Kureyshi nicht verraten. Und Zwickers Figur wisse gar nicht, dass sie sucht, sie finde aber dafür ganz viel, zum Beispiel eine spezielle Freundschaft.

Auch die Lesung ist eine Suche, auf der nicht immer das Gesuchte gefunden wird. Aber gefunden wird auch hier einiges, und das ist ja eben auch was.