Der Besuch des alten Herrn

Selina Widmer

Mein Regenspaziergang führt mich mit ein paar Umwegen durch die Altstadt zum Strauhof, wo im Moment Dürrenmatt zu Besuch ist. Nicht viele andere haben damals mein Abi-Jahr so geprägt wie dieser gute Herr. Deshalb bin ich doppelt gespannt. Werde ich hier den Dürrenmatt treffen, den ich damals stundenlang gelesen und diskutiert habe? Ich trete ein, meine Jacke tropft ein bisschen den Eingangsbereich voll – dann schicke ich mich in den «Kosmos Dürrenmatt».

Im ersten Raum kommt mir eine Lautsprecherstimme entgegen. Die Stimme erzählt vom Möglichen und vom Wirklichen. «Der Schreibtisch ist immer zu klein, sei er nun wirklich oder möglich». Hier erklingt der Text «Das Hirn», von dem der Ausstellungsrundgang ausgeht. Er spielt darin die Weltentstehung als Gedankengang eines Hirns durch. Auf weiten Strecken denkt sich das Hirn seine Welt zusammen, bis es sich selbst entdeckt. Was dann folgt, ist das Gegenteil der Idee, sich die Welt so machen zu können, wie sie einem gefällt. Aus dem Lautsprecher klingt die Beschreibung eines Besuchs der ehemaligen Vernichtungslager in Auschwitz und Birkenau. Die Fantasie kann alles, und die Fantasie kann nichts. Aufgewühlt verlasse ich die Toninstallation.

In den weiteren Zimmern eröffnen sich weitere Räume seines Wirkens und Lebens. Dabei spielen Dürrenmatts Theaterschaffen und Spätwerk eine grosse Rolle. Ich entdecke Skizzen, Palakate – viel Durchgestrichenes, viel Neugeschriebenes. Der Ausstellung gelingt es, eine Innensicht zu suggerieren. Ich bewege mich als Besucherin durch seine Welten.

Leise flechten sich auch Spuren des privaten Dürrenmatt ein. Etwa in einem Brief an die «liebe schöne Frau Dürrenmatt», in dem er unter anderem schreibt: «Ich habe dich fest fest lieb und schäme mich über meine Verzagtheit.»

Ich habe im Strauhof nicht genau den Dürrenmatt wiedergefunden, den ich von früher kannte. Hier hat er mir mehr Gesichter und Gedanken gezeigt als jene, die ich in «Der Besuch der alten Dame» gelesen hatte. Vielleicht solche mit noch mehr Hirn. Aber vielleicht auch einfach mit mehr Herz.

Katharina Alder | „Es gibt Gelände, da hat die Kunst nichts zu suchen.“

Drei Stunde später – geregnet hat es da immer noch – bin auch ich mit gymnasialen Erinnerungen ins Museum getreten und habe eine neue Perspektive auf Dürrenmatt mit hinausgenommen. Im geistigen Gepäck die Kriminalromane, Justiz und Die Physiker. Insgesamt fand ich die Texte damals alle nice to read, hab aber den Wirbel um die Autorschaft nie auf dem üblichen Level mitfühlen können. Vielmehr hatte ich einen Heidenspass, als vor sieben Jahren Herbert Fritsch den Physikern völlig neues Leben einhauchte, das Moralisieren seinliess und stattdessen einen modernen Zugang zum Text fand. Dürrenmatts Reflexionen über unser Land und seine Leute erschienen mir immer sehr gelungen, mit der Zeit aber auch etwas fade und immer im selben Fahrwasser schwimmend. Heute im Strauhof hingegen habe ich Dürrenmatt aktuell, berührend und erschütternd erlebt. Der Grossteil der ausgestellten Bücher, Briefe, Fragmente und Notizen waren zwar ganz nett anzuschauen, in der Masse aber doch eher eintönig. Erquickend hingegen die grosse Collage, die mich mehrfach schallend lachen liess. Überschneidend mit seinem kautzigen, rotkäppchenhaften Rotweinsammeln im Film realisierte sich ein wunderbares Bild, ein tolle Stimmung in dem Raum.

Mit Abstand die stärkste Installation ist aber die Blackbox. Auf dem Bänkchen sitzend, ins grelle Scheinwerferlicht blickend und Robert Hunger-Bühler lauschend hätte ich den ganzen Tag im Strauhof verbringen und mir die Textschlaufe anhören können. Schon Castorf hat mit Hunger-Bühlers toller Stimme Dürrenmatt perfekt in Szene gesetzt. Diesesmal wurde jedoch das Schweizerische aussen vor gelassen, keine Eidgenossen mit Tellerrand-Gedöns. Vielmehr eine dringliche Auseinandersetzung mit unserem Denken, dem Erdenken, Fiktion und Exiszenz. Das Setting und vermochte mich in Trance zu versetzen und liess den Text auf ganz andere Weise in mein Gehirn einfliessen denn üblich. So universal das in seiner existenzphilosophischen Abhandlung mein Geist durchblies, so brutal und schockierend erwiesen sich die Schilderungen aus den Konzentrationslagern. „Wer hat wen erfunden?“ Diese Einstiegsfrage bekam spätestens jetzt eine schreckliche Note und angesichts des nur schwer zu fassenden Gräuels bleibt der beklemmende Wunsch Dürrenmatts: „Es ist, als ob der Ort sich selbst erdacht hätte.“ Die Vorstellung des Holocaust als Menschenidee kaum zu ertragen.

So gehe ich berührt und entrückt aus dem Museum, sehne mich beim Schreiben in die Erfahrung dieser literarischen Trance zurück. Es braucht nicht mehr als einen schwarzen Bühnenraum, grelles Licht und gut gesprochenen Text.

Poetry is dead, long live Poetry!

Wenn Tom Gabriel Fischer, Mitbegründer der einst global erfolgreichen Metal-Band «Celtic Frost», und Philipp Theisohn, Germanistikprofessor an der Universität Zürich, zum Gespräch laden, findet sich im Lesungssaal nicht unbedingt das bekannte Literaturhauspublikum ein. Und auch der Ton auf der Bühne entspricht nicht dem allzu Erwartbaren.

«Tja, was machen wir?», eröffnet Theisohn den Abend und stellt sogleich zu Beginn klar, dass hier kein verkopftes literarisches Quartett zu erwarten ist. Quartett schon gar nicht, denn aus dem Trio ist leider ein Duo geworden, der Dritte im Bunde, Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath konnte leider coronahalber nicht einreisen. The virus is a satan, an dieser Stelle.

Was machen sie also? In guter alter Oberseminar-Manier versucht Theisohn zunächst, einen gemeinsamen Horizont herzustellen und das Wesen des Heavy Metal zu befragen. Dazu Fischer, der durchaus Parallelen zum Punk sieht: «Es geht um die Sicht auf die Welt, eine Perspektive, die der Text einem gibt.» In diesem Kontext verweist Theisohn auf Fischers Buch mit dem eher weniger zweideutigen Titel «Only Death Is Real», das er für den Agglo-Diskurs der 1980er als kulturarchäologisch wesentlich erachtet. Fischer bestätigt diese Einschätzung und plaudert aus dem pubertären Nähkästchen auf dem Land und betont, dass es darum vor allem darum ging, aus ehrlichen Motiven zu handeln. Und immer darauf zu achten, dass aus der Gegenbewegung von gestern nicht der Mainstream von morgen werde.

Diese Kritik am Mainstream – auffällig auch in der Punkszene –, und das Gerede davon, nicht Sklave des Konsums und des Markts sein zu wollen, steht allerdings heute selbst in auffälliger Nähe zum Mainstream. Anhand eines äusserst amüsanten «Manowar»-Videos gibt Theisohn deshalb zu bedenken, dass jede behauptete Authentizität immer auch als Inszenierung verstanden werden könne und durchaus auch müsse. Das erste Mal fällt die These, dass auch Metal letztlich Bedürfnisse erfüllt, beispielsweise im Zelebrieren eines Heldenkults. Mit Held*innen kennt sich die Germanistik indessen aus, und so wagt sich Theisohn schliesslich an die ganz grosse Auslegung: «Wo steht hier das Ich?»

So viel Universität war im Entstehungsprozess aber offenbar nicht intendiert: «Wir waren damals Bubis», sagt Fischer und wünscht sich offenkundig ein anderes Thema. Hätte Dath hier geholfen?

Theisohn lässt aber nicht locker und versucht, über den Begriff des Tyrannen einen neuen Zugang zu bauen, verweist auf dessen Ambivalenz. Doch Fischer zieht es eher zu seinen Erinnerungserzählungen aus der Szene.

Metal ist nicht für den Schongang bekannt, und so versucht Theisohn nochmals mit dem Thema Drastik einen gemeinsam Zugang zu finden. Was also bedeutet Metal, der dermassen extrem und auf den ersten Blick destruktiv ist? Metal, der beim Schrecken bleibt und vom Schockmoment in ein Verharren übergeht? Als ein krasser Text von Slayer aufgelegt wird, gerät die Diskussion endgültig ins Stocken. Theisohn möchte sich in diesem grössten Horror auf poetologische Spurensuche begeben, doch Fischer tilgt jeden Analyseversuch: «Das ist alles schön und gut, aber wir haben eine Verantwortung und müssen uns der Wirkung eines Textes bewusst sein.»

Schade, dass Theisohn und Fischer auf dieser Ebene nicht zueinander fanden. Gerade die Frage, welchen Anteil kulturelle Artefakte an tatsächlichen Straftaten haben können, wäre einer vertieften Betrachtung würdig gewesen.

Text und Bild: Katharina Alder/Redaktion: Christoph Steier

Auf ein Glas – oder besser zwei

Das Konzept von «Auf ein Glas mit…» besteht darin, den zahlreichen Autor*innen mit Neuerscheinungen diesen Herbst eine Plattform zu bieten. Ebenso erhofft sich Moderatorin Traudl Bünger eine gegenseitige Bereicherung. Die heutigen Autorinnen Gertrud Leutenegger mit ihrem Roman Späte Gäste und Dorothee Elmiger mit Zuckerfabrik hätten sich ein Zusammentreffen explizit gewünscht.

Die grosse Vorfreude hinter den Gesichtsmasken ist im ganzen Saal zu spüren. Nur leider bietet die Moderatorin einen denkbar schlechten Einstieg in die Veranstaltung und verliert sich in Inhaltsangaben, privaten Gefühlszuschreibungen, Literaturpreisauflistungen und müssigen Coverdiskussionen. Es dauert geschlagene fünfzehn Minuten, bis die Autorinnen literarisch endlich zu Wort kommen. Gertrud Leutenegger nimmt das Zepter in die Hand und konstatiert, sie lese jetzt einfach mal drei Stellen aus ihrem Buch vor. Mit einem Lächeln und dem Prädikat «einfach ganz, ganz toll» wird ihr das im Anschluss gedankt. Durch ihr geschlossenes Fragesystem lässt die Moderatorin Leutenegger wenig Raum, vielmehr gesteht diese nach kurzer Stille Verlegenheit ob der Frage ein. Nach einem längeren Murks kann sich Leutenegger dann doch noch entfalten und einige Absichten und Haltungen zu ihrem Text transportieren. Tells Sprung auf die Felsplatte, sein Sprung in die Freiheit steht für sie für das Flüchtige in jedem von uns. Gerne hätte man mehr davon erfahren, ein Gespräch kommt aber nicht in Gang. Für die Hörerin im Saal bleibt daher alles Weitere im Dunkeln.

Nach Leutenegger wendet sich Bünger Dorothee Elmiger zu. Dieser gelingt es glücklicherweise sehr gut, den Lead an sich zu nehmen und Einblicke in ihren Schreibprozess zu geben. Es falle ihr schwer, die verworrene, komplexe Wirklichkeit in eine stringente Erzählung zu verpacken. Die Form ihres Textes – der nicht einem marktüblichen Roman gleicht – entspreche ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen und darüber Nachzudenken. Ruhig und besonnen liest Elmiger einen Textabschnitt, was ihren Ton wunderbar in Szene setzt und das soeben Erklärte untermalt. Assoziativ verbindet Elmiger Szenerie, kreiert unerwartete Bilder, zeichnet durchlässige Charaktere. Für sie sei es wichtig, die Sprache und das ihr zur Verfügung stehende Material genau zu untersuchen und zu befragen. Sie wolle nicht in einen Topf voller Lebensgeschichten greifen und sie für ihre Zwecke gebrauchen. Vielmehr sei es ihr wichtig, ihr Tun transparent zu halten und auch ihre Zweifel in den Text zu stellen. Auf der Ebene der Sprache stelle sich dann die Frage, wie sie beispielsweise eine Person beschreiben kann, ohne sie zu zementieren, sie in allen Möglichkeiten und Facetten zu offenbaren. Auch in ihrer persönlichen Rezeption von fremden Texten erinnert sie sich nicht an Plots, sondern an Haltungen, Bilder und Räume. Ob solchen Aussagen schmilzt das Literaturherz, die Hörer*innenschaft hängt ihr an den Lippen.

Hier wäre der Punkt gewesen, an dem ein literarischer Austausch zwischen den beiden Frauen hätte beginnen können. Leider lenkte die Moderatorin den Fokus von der metasprachlichen Ebene zurück zu der im Gegensatz dazu doch eher uninteressanten Frage nach dem Buchcover. Elmiger stellt mit Achselzucken fest, dass sie dazu überhaupt nichts beigetragen habe, dass das – wie üblich – Sache und Entscheidung des Verlags sei. Und somit reichlich wenig mit dem Literarischen einer solchen Veranstaltung zu tun hat.

Als Traudel Bünger das Gespräch schliesst und sich bedankt, ruft Leutenegger erstaunt aus. «Es ist schon fertig? Ich dachte, jetzt gehe das Gespräch erst los.» Damit fasst sie den Abend treffend zusammen und spricht dem Publikum aus dem Herzen. Wo genau liegt der Mehrwert des Konzepts von zwei Autorinnen? Offenbarte Möglichkeiten wurden nicht genutzt, der Austausch um sein Potential gebracht. Elmiger konnte durch ihre kluge Vorgehensweise doch einigen Inhalt transportieren, Gretrud Leuteneggers Schaffen fiel dem unglücklichen Agieren seitens der Moderatorin leider zum Opfer. Sehr schade.

«Einfach schreiben» – ein Selbstversuch

oder: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe.

Kreatives Schreiben ist in, also nichts wie hin! Da von der GeschichtenBäckerei des Ehepaars Kasperski schon einmal in unserem Blog berichtet wurde, komme ich ohne Umschweife gleich zur Sache: Zwei Blogger*innen sitzen (zufälligerweise) am selben Tisch mit drei anderen Schreibwilligen und versuchen sich in kreativem Schreiben nach dem Motto «Wir schreiben eine Geschichte als Geschenk». (Der andere Bericht war ebenfalls hier zu lesen.)

Eine originelle, motivierende Aufgabenstellung; da ja kann nichts schiefgehen. Ich schreibe schliesslich die ganze Zeit, also kann ich schreiben, wenn es sein muss auch kreativ. Nun, ganz so einfach ist es nicht. Vor einem leeren Blatt zu sitzen mit nichts als guten Vorsätzen, ohne etwas, wovon man berichten oder was man besprechen soll. Schrecklich! Oder doch nicht? Schliesslich ist da der Profi-Schreiber mit seinen guten Tipps und Strategien, um deretwillen wir doch gekommen sind. Und wir werden tatsächlich nicht enttäuscht. 

Nach grundlegenden, aber noch nicht so weltbewegenden Überlegungen zu Aspekten wie Adressat, Genre, Erzählperspektive und, schon interessanter, «Betriebstemperatur» des Textes dann die erste Knacknuss, bei der Kasperski seine ganze Erfahrung ausspielen kann: die Wahl des Themas. Hier helfen ein kleines Spiel mit Buchstaben und Assoziationen sowie die wahrlich glorreiche Idee, auch das total Unerwartete oder Schräge in Erwägung zu ziehen. Und es funktioniert. Damit ist es natürlich nicht getan, und bei aller Ermutigung macht Kasperski klar, dass eine fertige Geschichte in 90 Minuten ein (zu) ambitioniertes Vorhaben ist. Aber immerhin, ist der sprichwörtlich schwierige Anfang gesetzt, beginnen die Idee zu sprudeln. Ich habe es versucht, die Geschichte geht weiter, und glauben Sie mir: Schreiben: einfach.

Geschenkidee mal anders

Was schweisst Menschen eigentlich mehr zusammen als gemeinsame Erlebnisse und Geschichten? Bei dieser Grundfrage setzte Kulturjournalist, Unternehmensberater und Storyteller Franz Kasperski mit seiner GeschichtenBäckerei an. Im Kurs «Wir schreiben eine Geschichte als Geschenk» arbeitete man auf ein Produkt hin, das jemand anderem eine Freude bereitet, und konnte dabei auch gleich die eigene kreative Ader ausleben.

Ziel des Workshops war es, ein passendes Thema herauszukristallisieren, aus dem sich ein persönliches Geschenk entwickeln kann. Dafür zeigte uns der Geschichtenbäcker verschiedene Strategien. Besonders inspiriert hat mich seine Vorgehensweise, denn zuerst suchten wir einen Erzählansatz, um ihn nachher wieder zu verwerfen. Der Kursleiter forderte uns nämlich heraus, uns zu fragen: «Was gäbe es denn noch, was überhaupt nichts mit dem zu tun hat?». Aus dem offensichtlichen Denkraster auszubrechen und «out of the box» zu denken kann viele neue Ideen freisetzen.   

Wie Geschichten Gemeinschaft stiften, konnte man auch im Kurs beobachten. Die Teilnehmer*innen gaben sich bald gegenseitig Tipps und entwickelten originelle Szenarien im Team. Dazu kam individuelle Unterstützung vom Profi. Alle Zutaten sind somit nach dem Kurs vorhanden: das gute Vorhaben, die Instruktion und das Thema. Nun liegt es an uns, diesen Teig zu kneten und aufgehen zu lassen – denn Schreiben ist schliesslich ein Prozess. Währenddessen freue ich mich aber schon auf den Geruch, welcher der Kuchen später aus dem Backofen verströmen wird.