Klein aber fein

Unter diesem Titel kann man die Lesung von Christian Dieterle über Uli der Knecht zusammenfassen. Die Veranstaltung fand in den Räumlichkeiten des Ateliers «Kunst und Philosophie» in Albisrieden statt. Corona machte sich auch hier bemerkbar, indem nur eine handvoll Leute den Weg in das Quartier gefunden hatten und etliche reservierte Stühle leer blieben.

Eröffnet wurde der Abend passenderweise mit «Vreneli ab em Guggisberg», gesungen von der Schwester des Vorlesenden. Die ausgebildete Sängerin wurde dabei vom Inhaber des Ateliers, Martin Kunz, auf dem Klavier begleitet. Danach legte Christian Dieterle, der Schauspieler und Sprachkünstler, los. Auf dem Leseständer lag der Klassiker von Jeremias Gotthelf, Uli der Knecht. Didaktisch geschickt wurde der Anfang des Entwicklungsromans, der die Geschichte des «zu seinem besseren Selbst und seiner guten Frau Vreneli» findenden Ulis erzählt, in einem Zug vorgetragen. Erst nach der kurzen Pause übersprang Dieterle einige Kapitel, um die Hochzeit des glücklichen Paares Uli und Vreneli noch einfangen zu können.

Bei der Lesung kam ihm zugute, dass er nicht nur immer wieder Rollen in verschiedenen Filmproduktionen inne hatte, sondern auch viel auf deutschen Bühnen gestanden ist. Klar und deutlich trug er vor und untermalte dabei seine Deklamation durch Gestik, Mimik und Modulation. Gerade bei beim Vorlesen der Geschichte fällt dem Schreiberling auf, wie stark dialektal doch die Sprache von Gotthelf war. Dieterle meisterte sie aber gekonnt und stolpert nicht einmal über die vielen berndeutschen und oft altertümlich anmutenden Ausdrücke.

Beim abschliessenden Apéro kamen die Vorteile eines kleinen Publikums zum Tragen. In beinahe familiärer Atmosphäre wurden verschiedene Themen angeschnitten: Ausgehend von Gotthelfs Berndeutsch waren die verschiedenen Dialekte der Schweiz und die kantonale Befangenheit ihrer Bewohner*innen eines davon. So erzählte etwa Martin Kunz die Anekdote, wie er in den 70er-Jahren an einer Tankstelle im Bündnerland kein Benzin für seinen VW-Käfer bekam, weil dieser ein Zürcher Kennzeichen hatte.

Christian Dieterle zeigte währenddessen, dass er nicht nur das Berndeutsch von Gotthelf gut nachahmen kann, sondern auch verschiedene deutsche Dialekte. Weiter erstaunen durfte das nicht, wohnt der Schauspieler aus dem Zürcher Oberland doch schon seit über 40 Jahren in Deutschland und zwar mit Stationen im Ruhrgebiet, in Bremen, in Hamburg und seit gut 10 Jahren in Berlin-Kreuzberg.

Zeigen statt schreiben

Tierisch – vegetarisch, unglaublich – religiös, tragbar – erdrückend.
Das ist ein Auszug aus der Übung, mit welcher der Workshop «Kreatives Schreiben» in der GeschichtenBäckerei startete. Geleitet wurde die Schreibwerkstatt von Gabriela Kasperski. Die ehemalige Schauspielerin, Anglistin und Autorin gab gezielte Inputs, anschauliche Beispiele und brachte damit unser kreatives Denken in die Gänge.

Konflikte standen im Zentrum des Interesses an diesem Abend. Wir entwickelten ein Gefühl dafür, Disharmonien zu erzeugen, indem wir Wörter nebeneinanderstellten. Nach einigen Übungen verfassten wir unsere eigene Szene. Die Vorgaben waren simpel: ein Konflikt, drei Figuren und das Motto «Show, don’t tell» – zeigen statt schreiben. Wenn man vor dem leeren Blatt sass, entpuppte sich das aber als gar nicht so einfach. Und erst recht nicht auf Knopfdruck. Zu persönlich. Nicht relevant genug. Zu abgelutscht. Die berühmt-berüchtigte Blockade in Anbetracht der leeren Seite hat es in sich. Beim dritten Anlauf fügte sich dann aber auch aus meinem Gekripsel eine Szene, die sich in eine Kurzgeschichte entfalten liesse. Allerdings vergass ich in der Hitze des Gefechts den dritten Charakter in meinem Text.

Gabriela Kasperski verriet zwischendurch immer wieder, wie die Figurenkonstellationen interessanter gestaltet werden könnten oder wie sie vorgeht, wenn sie selbst nicht mehr weiter weiss. Hilfreich war auch, dass man am Ende Feedback von den anderen Teilnehmer*innen und der Kursorganisatorin erhielt. So hatte man die Möglichkeit auszutesten, wie die eigene Erzählung ankommt.

Ein Land von Haarflüchtlingen

Jetzt wissen wir, was Isländer auszeichnet (wenigstens die Männer…): Als Nachkommen der Flüchtlinge vor dem Wikingerkönig Harald Schönhaar seien sie allesamt Haarflüchtlinge, meint der glatzköpfige Isländer Hallgrìmur Helgason. Damit ist auch gesagt, dass der «perfekte Isländer» (O-Ton Hallgrìmur Helgason) Joachim B. Schmid mit seinem Haarrest vielleicht halt doch nur ein halber Isländer ist. Das Publikum war aber nicht ins Zentrum Karl der Grosse gekommen, um etwas über die Haartracht der Isländer zu erfahren. Einen Einblick in den besonderen isländischen Humor hat man mit dieser launigen Episode aber schon mal gekriegt. Selbstverständlich ging es um Bücher, um die neuesten Publikationen der beiden Autoren: 60 Kilo Sonnenschein von Hallgrìmur Helgason und Kalmann von Joachim B. Schmid, vorgestellt und moderiert von der Islandistin Ursula Giger.

Hallgrìmur Helgason liest kurzerhand aus der isländischen Originalausgabe seines ausladenden Romans. Die Gefühle angesichts eines Textes in einer unverständlichen Fremdsprache sollte sich als nützlich erweisen, wenn es später darum geht, die Reaktionen von Jaochim B. Schmids als Neu-Isländer zu verstehen. Da das Buch eine Art «All-in-One-Geschichtsbuch» Islands ist, erzählt aus der Perspektive eines Fjordbewohners vor dem Heringsboom, war isländische Geschichte omnipräsent. Die Schneedecke als unbeschriebenes Blatt am Anfang des Buches, auf welches Geschichte geschrieben wird, ist ein wunderbares, genuin isländisches Bild, das viel über das Nationalbewusstsein aussagt. Die Isländer*innen, da waren sich alle einig, verstünden sich heute noch manchmal als Kurzzeit-Gäste in ihrem eigenen Land, als Bewohner*innen eines gigantischen Zeltplatzes. 

Bei Joachim Schmids Buch drängt sich für die Lesenden die Frage auf, ob Kalmann wirklich ein Krimi sei oder nicht, oder vielleicht sogar ein missratener Krimi? Wie erwartet, meint Schmid: eher ein Portrait als ein Krimi. Die lesende Person niste sich im Kopf von Kalmann ein. Man solle ihn zuerst ruhig unterschätzen, um dann zu merken, was wirklich in ihm stecke, auch wenn ihm oft die Worte fehlten und die Sprache bewusst unbeholfen sei.

Als Schmid gefragt wird, was er dazu sage, von einem Isländer als echter Landsmann bezeichnet zu werden, blitzt wieder (schweizerisch-)isländischer Humor hervor: Seine schönste Zeit sei diejenige am Anfang gewesen, als er noch kein Isländisch verstanden habe. Daraus sei dann nach und nach eine gewisse Hassliebe geworden – ganz isländisch, meint doch ein geflügeltes Wort, die Isländer seien nirgends so glücklich wie am Flughafen Keflavik: Verlassen sie doch gerade das Land, das sie hassen, oder aber kehren zurück in das Land, das sie lieben.

Brüchige Welt

Mit eineinhalb Meter Abstand positionieren sich am Donnerstagabend im «Karl der Grosse» der Schriftsteller Jens Steiner, die Schriftstellerin Seraina Kobler und die Moderatorin Traudl Bünger auf dem Podest. Ihnen gegenüber setzen sich so langsam Zuhörerinnen und Zuhörer – bestens ausgestattet mit Masken. Im Zentrum der Lesung stehen Jens Steiners Episodenroman Ameisen unterm Brennglas und Seraina Koblers Debütroman Regenschatten.

Nach einer kurzen Vorstellung liest Seraina Kobler einige Passagen aus ihrem Werk. Sie entwirft dabei das Szenario von einer aus den Fugen geratenen Welt, das für zeitgenössische Leser den dystopischen Charakter teilweise verloren hat: Zürich ist geprägt von einer Megadürre und mitten drin sind zwei Verliebte, die ein Kind erwarten und sich die Frage stellen, ob sie das Kind behalten oder abtreiben sollen. Eine Parallele zur momentanen Ausnahmesituation mit Covid-19 wird relativ schnell gezogen. Sie habe sich zu Beginn der Pandemie gefragt, ob sie nicht doch lieber eine Utopie inszeniert hätte, da gewisse Handlungen im Roman gar nicht mehr so realitätsfremd scheinen, so Kobler.

Auch Jens Steiners Roman inszeniert eine brüchige Welt, entwirft ein Gesellschaftsportrait und zeichnet dabei die Verhaltensmuster der Figuren in seiner Erzählung akribisch genau nach. Den Tieren schreibt Jens Steiner – gefragt nach einem für ihn faszinierenden Element in seinem Erzählen – die Funktion der Aussenstehenden, Beobachtenden zu, die das komische Verhalten der Menschen spiegeln.

Als ich das Gebäude verlassen habe, ziehe ich die Maske aus und denke nochmals über das Gesagte nach: Mir imponiert, wie genau Seraina Kobler und auch Jens Steiner gesellschaftliche Tendenzen und Probleme – gerade auch der Corona-Zeit – in ihren Romanen beschreiben.

Eine Geschichte zwischen Narration und bildender Kunst

Etwas verwirrt stehe ich im Eingangsbereich des Collab, einem hippen Modeladen beim Kulturpark Zürich. «Entschuldigung, wo befindet sich denn die Ausstellung Ada + Eva?», frage ich eine Verkäuferin. Hinter ansprechend präsentierten Kleidungsstücken, Schmuck und Handyhüllen stossen ich und meine Begleitung auf einzeln präsentierte Bilder aus der textlosen Publikation der Berner Künstlerin Laura D`Arcangelo. Mitten im farbig ausgestalteten Laden fügen sie sich als erwerbbare Plakate perfekt ein – vielleicht ein bisschen zu gut?

Die liebevoll gestalteten Bilder erzählen die Geschichte zweier Frauen, die sich im Paradies kennenlernen und verlieben – kommen aber zwischen den Kleidern und diversen anderen ausgelegten Kurzgeschichten auf dem Büchertisch kaum zur Geltung. Auch die übergrossen Adaptionen aus Pappe, die in den Schaufenstern von der Strasse aus gut sichtbar sind, werden nur von aufmerksamen Passant*innen mit dem kleinen Büchlein in Verbindung gebracht. Und was haben die farbigen Zältli in dieser Szenerie zu suchen?

Auffällig ist auch, dass die kleineren Bilder nicht chronologisch aufgehängt sind und die Narration somit fast gänzlich verloren geht. Wäre nicht genau das der Kern ihres Schaffens? Eine Erzählung ganz ohne Text, welche nur aus der Abfolge ihrer Bilder lesbar wird? Die Ausstellung lädt jedoch mehr dazu ein, die einzelnen Bilder als alleinstehende Kunstwerke oder als Einrichtungsgegenstände zu betrachten. Ein durchaus legitimer Ansatz, auch wenn es die kurze Handlung durchaus wert wäre, in Form einer Ausstellung erzählt zu werden. Schliesslich handelt es sich um eine originelle Überschreibung der Anfangsgeschichte der Menschheit, kein Mann ist der erste Mensch, aus dessen Rippe die Frau geschaffen wird. Es sind zwei Frauen, die sich im exotisch anmutenden Wald erblicken, verlieben und ein gemeinsames Leben beginnen.

Was wäre, wenn der Beginn der Menschheit weiblich wäre? Eine Frau, die eine andere Frau liebt, ist in diesem Szenario das Natürlichste auf der Welt, sie gehört zur Menschheitsgeschichte dazu. Auch gibt es hier keinen Sündenfall, nur tragische Wendungen wie der Tod, welcher die Natur bereithält.

Wer diese leise Geschichte über ein homosexuelles Empowerment in Ruhe anschauen möchte, kann das Büchlein auch vor Ort durchblättern oder kaufen. Und einzelne Auszüge auf den Plakaten oder im Schaufenster auf sich wirken lassen. Aussergewöhnlich ist die Ausstellungsweise im Ladenfenster auf jeden Fall.