Brüchige Welt

Mit eineinhalb Meter Abstand positionieren sich am Donnerstagabend im «Karl der Grosse» der Schriftsteller Jens Steiner, die Schriftstellerin Seraina Kobler und die Moderatorin Traudl Bünger auf dem Podest. Ihnen gegenüber setzen sich so langsam Zuhörerinnen und Zuhörer – bestens ausgestattet mit Masken. Im Zentrum der Lesung stehen Jens Steiners Episodenroman Ameisen unterm Brennglas und Seraina Koblers Debütroman Regenschatten.

Nach einer kurzen Vorstellung liest Seraina Kobler einige Passagen aus ihrem Werk. Sie entwirft dabei das Szenario von einer aus den Fugen geratenen Welt, das für zeitgenössische Leser den dystopischen Charakter teilweise verloren hat: Zürich ist geprägt von einer Megadürre und mitten drin sind zwei Verliebte, die ein Kind erwarten und sich die Frage stellen, ob sie das Kind behalten oder abtreiben sollen. Eine Parallele zur momentanen Ausnahmesituation mit Covid-19 wird relativ schnell gezogen. Sie habe sich zu Beginn der Pandemie gefragt, ob sie nicht doch lieber eine Utopie inszeniert hätte, da gewisse Handlungen im Roman gar nicht mehr so realitätsfremd scheinen, so Kobler.

Auch Jens Steiners Roman inszeniert eine brüchige Welt, entwirft ein Gesellschaftsportrait und zeichnet dabei die Verhaltensmuster der Figuren in seiner Erzählung akribisch genau nach. Den Tieren schreibt Jens Steiner – gefragt nach einem für ihn faszinierenden Element in seinem Erzählen – die Funktion der Aussenstehenden, Beobachtenden zu, die das komische Verhalten der Menschen spiegeln.

Als ich das Gebäude verlassen habe, ziehe ich die Maske aus und denke nochmals über das Gesagte nach: Mir imponiert, wie genau Seraina Kobler und auch Jens Steiner gesellschaftliche Tendenzen und Probleme – gerade auch der Corona-Zeit – in ihren Romanen beschreiben.

Literatur trifft Twitter

Wenn junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren Mini-Erzählungen für Twitter verfassen, so scheint es dem Medium angemessen, dass diese – coronabedingt – bei «Zürich liest 2020» im Instagram-Livestream vorgelesen werden. Die Rede ist von den Stadtbeobachter*innen des Jungen Literaturlabors (JULL), die von der Buchautorin Gina Bucher begleitet werden. Seit Anfang Jahr tweeten sie Kurzerzählungen über das Leben in und ihre Sichten auf Zürich – natürlich mit maximal 280 Zeichen (inkl. Leerzeichen).

Wie gestaltet sich das nun konkret? So zum Beispiel: Arzije, Dorijan und Malin, drei der zahlreichen Stadtbeobachter*innen, lesen im Livestream in abwechselnder Reihenfolge die Kurztexte vor. Darunter mischt sich immer wieder ein etwas längerer Text, der nicht für Twitter geschrieben wurde. Die Lesung klingt wie ein kollektives Corona-Tagebuch aus Zürich und thematisiert, was viele – und nicht nur junge Menschen – beschäftigt: vom stressvollen Rückweg aus dem Ausland, als Covid-19 aufkam, vom Umgang mit Masken und Desinfektionsmitteln, von der Freude, Freunde wiederzusehen, – und vom ersten Clubbesuch nach dem Lockdown. Die Texte sind eingängig und wohlformuliert – und als die Lesung nach etwa 30 Minuten zuende ist, glaubt man kaum, dass gerade ein halbes Jahr im Miniaturformat an einem vorübergezogen ist.