Seines Glückes Designer*in werden

Das «Playbook» eines American-Football-Teams schreibt allen Spieler*innen ihre Bewegungen auf dem Feld genau vor, damit sich die Mannschaft an die optimale Taktik hält. Das «Design Your Future Playbook» – kurz «DYF Playbook» – hat daher seinen Namen und soll Taktiken vermitteln, wie man Lebensprobleme aus dem passenden Winkel tacklen kann. Darüber verliert es aber keine langatmigen Paragraphen, sondern bietet Illustrationen, kurze Texte und vor allem viele Übungen, die zur Reflexion anregen.

Eine Mischung aus Übungsheft, Ratgeberliteratur und Optimierungsgedanke? Ich setze mich in die gut gefüllten Stuhlreihen der Buchhandlung Nievergelt, um das herauszufinden. Hinter dem «DYF Playbook» stehen Jean-Paul Thommen, Coach für persönliche Entwicklung und Dozent für Betriebsökonomie, sowie Michael Lewrick, der verschiedene Firmen in Innovationsfragen berät und Schulungen zu «Design Thinking» anbietet. Das «Design» im Buchtitel leitet sich von diesem Konzept her und, so erklärt Michael Lewrick, steht für eine Denkhaltung, eine Herangehensweise an schwierige Situationen: Sich intensiv mit einer Frage auseinandersetzen. Das zugrunde liegende Problem identifizieren. Es mit der passenden Strategie lösen.

Wie das «DYF Playbook» seine Spieler*innen an diese Denkhaltung heranführt, darf das Publikum gleich selber ausprobieren. Wir bekommen eine Kostprobe und üben uns in Selbstreflexion und kreativer Problemlösung. Ich bin skeptisch. Kann, soll man sein Leben behandeln wie ein Designprodukt? Macht es immer glücklich, gezielt zu wachsen? Darf das Leben nicht auch einfach wuchern? Nutzenmaximierte Lebensläufe zu produzieren sei nicht das Ziel des Buches, sagt Jean-Paul Thommen. Es soll vielmehr jede*n Einzelne*n dazu anregen, die eigene Handlungsfähigkeit zu entdecken, sich intensiv mit sich auseinander zu setzen und positive Veränderungen anzustossen.

Das Umfeld mit in diesen Prozess einzubeziehen, sei besonders wichtig, betonen die Autoren weiter: Veränderung kann im Vakuum nicht gut gedeihen. Gerade darum sei das «DYF Playbook« auch als Teamsport angelegt. Am besten also gleich auch ein Buch für eine*n Mitspieler*in kaufen. Diese Taktik geht auf und die Autoren können zum Schluss viele «Playbook»-Exemplare signieren. Das «DYF Playbook» scheint eine Fangemeinde in Zürich gefunden zu haben.

Immer eine Suche

Der zweite Roman als das Schwierigste, was Autor*innen anpacken können – dieses verbreitete Bild beschwört die Moderatorin Arlette Graf gleich zu Beginn der Lesung im «Karl der Grosse» herauf. Mit ihr auf dem Podest sitzen Meral Kureyshi und Frédéric Zwicker, deren Zweitlinge diesen Herbst erschienen sind.

Das Lamento über die Schwierigkeiten des zweiten Romans bleibt aber gänzlich aus. Beide finden, dass es wahrscheinlich genau dieses Bild vom schwierigen zweiten Roman sei, das dazu führe, dass er für viele Autor*innen dann tatsächlich schwierig sei. Sie erzählen von langen Recherchen und frühen Schreibphasen, in denen sie, auch noch mit dem ersten Projekt beschäftigt, schon den zweiten Roman angefangen haben. Dem angsterfüllten Moment, das zweite Buch nach dem ersten anzufangen, gaben sie so gar nie Raum.

Die Furchtlosigkeit vor dem zweiten Roman – ein gutes Omen? Beim Erklingen der Texte «Fünf Jahreszeiten» und «Radost»  wird jedenfalls klar, dass es sich um ausgereifte Werke handelt und sich tatsächlich keine Spuren von Mühsamkeit zeigen. Die Geschichten – soweit sie in der Lesung zum Vorschein kommen – wirken rund.

Vielleicht, weil in beiden Romanen jeweils zwei Teile zueinander gefunden haben: In «Fünf Jahreszeiten» ist da einerseits die Aussensicht auf das Aufsichtspersonal von Museen und andererseits das innere Gefühl der Pause, das beim Erleben einer solchen Arbeit entstehen kann, sowie weitere, subjektive Lebenseindrücke einer jungen Frau. «Radost» setzt sich zusammen aus der Geschichte eines psychisch Kranken, der sich im Laufe der Geschichte mit dem Erzähler anfreundet, und den Reisen des Erzählers, mit und ohne Rad, unter anderem nach Zagreb und Sansibar. Einmal liest Frédéric Zwicker vor, einmal Meral Kureyshi. Dabei bleibt es leider. Die beiden Texte hätten noch eine grössere Bühne verdient, mehr Zeit, gelesen zu werden.

Dafür kommen die Autor*innen einfach und schnell ins Gespräch. Auf die Fragen der Moderatorin scheint aber vor allem Meral Kureyshi nicht ganz entspannt zu antworten. Was da stört, ist unklar, aber da ist von Anfang an etwas, das einrastet und zwischen den beiden nicht in Bewegung kommt.

Wann ein Buch fertig sei, möchte Arlette Graf wissen. Die «Kinderfrage», wie sie sie nennt, birgt durchaus Tiefen. Frédéric Zwicker sagt, was gesagt werden muss und meint pragmatisch: wenn das Buch gedruckt ist. Meral Kureyshi aber bricht eine Lanze für die unendliche Geschichte – es gäbe nie ein Ende, das, was da nun gedruckt sei, sei lediglich eine Möglichkeit, ein Versuch, aber das könnte genauso gut auch noch weiter gehen.

Die Autor*innen unterhalten sich lange über die Suche der Romanfiguren. Was ihre Figur sucht, will Kureyshi nicht verraten. Und Zwickers Figur wisse gar nicht, dass sie sucht, sie finde aber dafür ganz viel, zum Beispiel eine spezielle Freundschaft.

Auch die Lesung ist eine Suche, auf der nicht immer das Gesuchte gefunden wird. Aber gefunden wird auch hier einiges, und das ist ja eben auch was.

Entgrenzende Wortkunst mit Eva Maria Leuenberger

Das kann auch nur in dieser besonderen Zeit passieren: Ich gehe mit meiner Maske vorm Gesicht und einem Aperitif in der Hand zur Lesung im Erkerzimmer im Zentrum Karl, nehme Platz – als meine Sitznachbarin aufsteht und sich als Autorin des Lyrikbandes dekarnation entpuppt, aus dem heute Abend gelesen wird. Ohne ihre rote Mähne vom Buchcover und mit Maske hatte ich Eva Maria Leuenberger gar nicht erkannt.

Auch die ersten Worte des Abends gelten diesen besonderen Umständen, indem sich die Organisatorin des St. Galler Literaturfestivals «Wortlaut» herzlichst bei «Zürich liest» bedankt. Eva Maria Leuenbergers Lesung ist eine von zwei Veranstaltungen, die nach der abgesagten Frühlingssaison im Rahmen des Zürcher Literaturfestivals doch noch ihren Weg auf die Bühne finden.

Der Abend beginnt so zugänglich und entspannt, wie er begonnen hat. Ohne Mikrofon liest die junge Lyrikerin in intimem Rahmen abwechselnd zwei Teile aus ihrem Erstlingswerk vor und äussert sich im Gespräch mit Gallus Frei-Tomic zu ihrer Wortkunst. Ihre klare, ruhige Stimme entblösst eine stimmungsvolle Szenerie im Wald, zuerst im Tal, dann in der Schlucht, die so verletzlich wie erbarmungslos daherkommt. Trotz der zahlreichen Naturmotive grenzt sich Eva Maria von der klassischen Landschaftslyrik und der ihr inhärenten Distanz ab. Im Gegenteil: es geht ihr gerade um den direkten Kontakt von Körper und Umgebung.

Schicht um Schicht trägt ihre Lyrik vom Vorhandenen ab, gräbt immer tiefer, nach einem Sinn, einem Kern. Diese Suche trägt die Künstlerin immer weiter, sodass ihre Gedichte gleichzeitig auch als ein Gesamtkunstwerk zu lesen sind, welches im Grunde die Grenze der Lyrik zum Romanhaften sprengt. Immer wiederkehrende Motive verdichten sich und entgrenzen gleichzeitig ihren Sinn in unterschiedliche Richtungen. Das Ich im ersten Teil wird im dritten zu einem Du, welches sich in seiner Umgebung gespiegelt wiederfindet.

Ihr Gesprächspartner zeigt uns Zuhörenden, wie diese Ausdehnung der lyrischen Instanz auch graphisch abgebildet ist, indem sich die anfänglichen Blocksätze je länger je mehr in Wortfetzen über die Seite bewegen. Die Stille, die Störungen zwischen den Wörtern sind der Lyrikerin genauso wichtig wie das Wort selbst, meint sie. Gleichzeitig ist es ein multivokales Werk, in dem sich die englischsprachigen Stimmen unterschiedlichster Dichterinnen wie Beth Bachmann und Christina Davis mit ihrer Lyrik verbinden, sich gegenseitig umtänzeln, ergänzen und hinterfragen.

Als ich den Karl der Grosse verlasse, lächle ich mit Blick auf die Hausfassade, an der der Name gerade so passend mit «Karla die Grosse» überschrieben wurde. Heute war ein Abend der weiblichen Ausdruckskraft.

Mehr als 280 Zeichen Einsamkeit

Seit März diesen Jahres veröffentlichen Jugendliche und junge Erwachsene Kürzestgeschichten auf dem dafür eingerichteten Twitter-Account @JULLinderStadt. Die 280 Zeichen langen Texte, die dadurch bis September entstanden sind, kann man nun auch analog lesen. Vorgestellt wurde das Heft im Rahmen dieser Lesung, die aufgrund der aktuellen Lage nun notgedrungen als Instagram-Live auf dem JULL Instagram-Account stattgefunden hat.

Betreut werden die schreibenden Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren von der Autorin Gina Bucher. Sie ist der Schreibcoach in diesem Projekt und unterstützt die Jugendlichen in ihrem Schreibprozess.

Als JULL-Stadtbeobachter*innen haben die Jugendlichen in diesen Mini-Erzählungen die Zeit der Pandemie verarbeitet und literarisch begleitet. Vorgelesen werden die Kürzesttexte abwechselnd von drei Twitter-Poet*innen. Chronologisch, mit Datum, Ortsangabe und ohne Pause. Dadurch entsteht tatsächlich so etwas wie ein Twitter-Feeling auf Instagram, ausgelöst durch eine analoge Lesung. Tönt nach viel? Das ist es auch, denn die Texte sind mehr als ein paar flüchtige Zeilen auf Social Media. Es sind Zeitzeugen einer Zeit, die uns gerade wieder zu überrollen scheint.

Leider wurde die Lesung in den besten Zeiten nur von 11 Zuschauern verfolgt. Doch für alle, die nun doch noch reinhören möchten, ist der Live-Stream auf dem JULL Instagram-Account gespeichert und jederzeit abrufbar.

Literatur trifft Twitter

Wenn junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren Mini-Erzählungen für Twitter verfassen, so scheint es dem Medium angemessen, dass diese – coronabedingt – bei «Zürich liest 2020» im Instagram-Livestream vorgelesen werden. Die Rede ist von den Stadtbeobachter*innen des Jungen Literaturlabors (JULL), die von der Buchautorin Gina Bucher begleitet werden. Seit Anfang Jahr tweeten sie Kurzerzählungen über das Leben in und ihre Sichten auf Zürich – natürlich mit maximal 280 Zeichen (inkl. Leerzeichen).

Wie gestaltet sich das nun konkret? So zum Beispiel: Arzije, Dorijan und Malin, drei der zahlreichen Stadtbeobachter*innen, lesen im Livestream in abwechselnder Reihenfolge die Kurztexte vor. Darunter mischt sich immer wieder ein etwas längerer Text, der nicht für Twitter geschrieben wurde. Die Lesung klingt wie ein kollektives Corona-Tagebuch aus Zürich und thematisiert, was viele – und nicht nur junge Menschen – beschäftigt: vom stressvollen Rückweg aus dem Ausland, als Covid-19 aufkam, vom Umgang mit Masken und Desinfektionsmitteln, von der Freude, Freunde wiederzusehen, – und vom ersten Clubbesuch nach dem Lockdown. Die Texte sind eingängig und wohlformuliert – und als die Lesung nach etwa 30 Minuten zuende ist, glaubt man kaum, dass gerade ein halbes Jahr im Miniaturformat an einem vorübergezogen ist.