«Keine Literatur ohne Krise»

Der Samstagabend soll im «Karl der Grosse» ganz im Zeichen der Krise und der Frage stehen, was der Literatur in solchen Zeiten für eine Rolle zukommt. Im Podium diskutieren der Schriftsteller und Meinungsmacher Lukas Bärfuss, die Schriftstellerin und Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou und der Literaturwissenschaftler und Autor Thomas Strässle – moderiert von Traudl Bünger.

Gleich zu Beginn wird der Bezug zur Coronakrise hergestellt. Bärfuss erzählt von den vielen abgesagten Anlässen und darüber, wie der Kulturbetrieb unter der Pandemie leidet, gibt aber auch zu bedenken, dass es andere Länder schlimmer getroffen hat als die Schweiz. Gerade nun sei es wichtig, Zuversicht in die Gesellschaft zu tragen. Auf persönlicher Ebene sieht Lucadou die Krise als produktives Moment. Auch Bärfuss pflichtet ihr bei und führt aus, dass die Metamorphose am Anfang der Literatur stehe. Es wird folglich darüber diskutiert, inwiefern man Krisen durch literarisches Schreiben beschleunigt und dass Krisen, über die geschrieben und gesprochen wird, bereits in der Wirklichkeit angelegt sein müssen.

Thomas Strässle, Julia von Lucadou, Lukas Bärfuss (v.l.)

Immer mehr verschiebt sich der Diskurs in Richtung Verschwörungstheorien und die Diskutierenden sprechen über die Notwendigkeit, Selbstverständliches zu thematisieren und ob es ertragreich ist, sich in die Position der Opponierenden zu versetzen. Zeitweise gerät die eigentliche Frage des Abends – die nach der Rolle der Literatur – aus dem Blick, was nicht zuletzt an der Moderatorin liegt, die es nur teilweise vermag, die Literatur in der Krise ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Überrascht nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer es zur Kenntnis, als die Moderatorin das Podium zu einem Ende bringen will. Symptomatisch dafür steht denn auch die Meldung einer älteren Dame, dass sie die Frage des Abends zu wenig thematisiert finde und gerne noch die Frage nach der Systemrelevanz der Literatur besprechen würde. Darauf thematisiert Bärfuss die zu problematisierende Dichotomie zwischen wichtig und unwichtig und Strässle ergänzt, dass die Literatur – auch in Abgrenzung zu anderen Textformen wie bspw. der Reportage – eine ganz spezifische Funktion wahrnehme und deshalb systemrelevant sei.

Brüchige Welt

Mit eineinhalb Meter Abstand positionieren sich am Donnerstagabend im «Karl der Grosse» der Schriftsteller Jens Steiner, die Schriftstellerin Seraina Kobler und die Moderatorin Traudl Bünger auf dem Podest. Ihnen gegenüber setzen sich so langsam Zuhörerinnen und Zuhörer – bestens ausgestattet mit Masken. Im Zentrum der Lesung stehen Jens Steiners Episodenroman Ameisen unterm Brennglas und Seraina Koblers Debütroman Regenschatten.

Nach einer kurzen Vorstellung liest Seraina Kobler einige Passagen aus ihrem Werk. Sie entwirft dabei das Szenario von einer aus den Fugen geratenen Welt, das für zeitgenössische Leser den dystopischen Charakter teilweise verloren hat: Zürich ist geprägt von einer Megadürre und mitten drin sind zwei Verliebte, die ein Kind erwarten und sich die Frage stellen, ob sie das Kind behalten oder abtreiben sollen. Eine Parallele zur momentanen Ausnahmesituation mit Covid-19 wird relativ schnell gezogen. Sie habe sich zu Beginn der Pandemie gefragt, ob sie nicht doch lieber eine Utopie inszeniert hätte, da gewisse Handlungen im Roman gar nicht mehr so realitätsfremd scheinen, so Kobler.

Auch Jens Steiners Roman inszeniert eine brüchige Welt, entwirft ein Gesellschaftsportrait und zeichnet dabei die Verhaltensmuster der Figuren in seiner Erzählung akribisch genau nach. Den Tieren schreibt Jens Steiner – gefragt nach einem für ihn faszinierenden Element in seinem Erzählen – die Funktion der Aussenstehenden, Beobachtenden zu, die das komische Verhalten der Menschen spiegeln.

Als ich das Gebäude verlassen habe, ziehe ich die Maske aus und denke nochmals über das Gesagte nach: Mir imponiert, wie genau Seraina Kobler und auch Jens Steiner gesellschaftliche Tendenzen und Probleme – gerade auch der Corona-Zeit – in ihren Romanen beschreiben.

Literatur trifft Twitter

Wenn junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren Mini-Erzählungen für Twitter verfassen, so scheint es dem Medium angemessen, dass diese – coronabedingt – bei «Zürich liest 2020» im Instagram-Livestream vorgelesen werden. Die Rede ist von den Stadtbeobachter*innen des Jungen Literaturlabors (JULL), die von der Buchautorin Gina Bucher begleitet werden. Seit Anfang Jahr tweeten sie Kurzerzählungen über das Leben in und ihre Sichten auf Zürich – natürlich mit maximal 280 Zeichen (inkl. Leerzeichen).

Wie gestaltet sich das nun konkret? So zum Beispiel: Arzije, Dorijan und Malin, drei der zahlreichen Stadtbeobachter*innen, lesen im Livestream in abwechselnder Reihenfolge die Kurztexte vor. Darunter mischt sich immer wieder ein etwas längerer Text, der nicht für Twitter geschrieben wurde. Die Lesung klingt wie ein kollektives Corona-Tagebuch aus Zürich und thematisiert, was viele – und nicht nur junge Menschen – beschäftigt: vom stressvollen Rückweg aus dem Ausland, als Covid-19 aufkam, vom Umgang mit Masken und Desinfektionsmitteln, von der Freude, Freunde wiederzusehen, – und vom ersten Clubbesuch nach dem Lockdown. Die Texte sind eingängig und wohlformuliert – und als die Lesung nach etwa 30 Minuten zuende ist, glaubt man kaum, dass gerade ein halbes Jahr im Miniaturformat an einem vorübergezogen ist.

Für uns bei «Zürich liest»:
Florian Koller

Wenn in Zürich in diesem Jahr wieder fleissig gelesen und emsig diskutiert wird, dann wird Florian im Rahmen von «Zürich liest 2020» erstmals spannende Einblicke fürs «Schweizer Buchjahr» liefern. Er interessiert sich besonders für zeitgenössische Diskurse und ihre Thematisierung in der Literatur.

Deshalb lauscht er am Mittwoch den Twitter-Poetinnen und -Poeten des Jungen Literaturlabors, die seit Anfang Jahr mit Mini-Erzählungen auf sich aufmerksam machen. Anschliessend freut er sich auf den Schriftsteller Jens Steiner und die Schriftstellerin Seraina Kobler, die mit neuen Werken aufwarten. In der aktuellen Situation darf für ihn auch eine Podiumsdiskussion über die Funktion der Literatur in Krisenzeiten nicht fehlen.

Florian studiert Deutsche Sprachwissenschaft und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master an der Universität Zürich.