Der eigenwillige Klang der Sprache

Die Lesung der Nominierten für den diesjährigen Schweizer Buchpreis zieht so viele Besucher*innen an, dass der Saal des Literaturhauses bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Zum Glück finden sich für uns noch zwei Klappstühle, auf denen wir Simone Lappert, Ivna Žic und Tabea Steiner aus nächster Nähe sehen können – und vor allem hören. Denn was die drei Werke verbindet, sei der eigenwillige Klang ihrer Sprache, so Isabelle Vonlanthen, die die Lesung zusammen mit Martin Zingg moderiert.

Nach den Lesungen ausgewählter Passagen stellt Isabelle Vonlanthen die Frage nach den klanglichen Elementen und dem Rhythmus, welche die Werke der drei Nominierten auszeichnen. „Ich schreibe mit den Ohren“, erläutert Simone Lappert. „Die Bedeutung des Wortes ist ja immer im Klang schon enthalten, wenn wir etwa an «krachen» denken, oder «Schnee».“ Sie lese sich ihre Texte darum immer wieder vor, um sie vom Blatt in den Raum zu holen und auf ihren Rhythmus zu prüfen. Bisweilen lasse sie sich den Text auch von jemand anderem vorlesen, damit sie sich den Text nicht „schönlesen“ könne, fügt sie lachend hinzu.

Auch für Ivna Žic, die viel für das Theater schreibt und darum dem gesprochenen Wort eine grosse Bedeutung zuschreibt, leben Texte von ihrem Klang: „Man muss die Texte gerne in den Mund nehmen.“ Sie hört beim Schreiben jeweils Musik. Der Rhythmus der Musik helfe ihr, einen Rhythmus der Sprache zu finden.

Tabea Steiner versammelt in ihrem Roman Balg ein ganzes Kabinett verschiedener Figuren im dörflichen Raum. Sie nähert sich ihnen über das Vorlesen deren individuellen Stimmen: „Ich frage mich dann, kann es sein, dass diese Figur so spricht?“ Sie müsse bei jeder Figur das Gefühl haben, dass die jeweilige Stimme passe.

Manchmal können sich die Figuren geradezu gegen eine Sprechstimme sträuben und insbesondere auch gegen einen Namen, den man ihnen aufdrängen will, ergänzt Simone Lappert. Es gebe aber durchaus Figuren, deren Namen von Anfang an feststeht, sagt Tabea Steiner. So etwa sei es ihr mit „Timon“ ergangen.

Das wiederholte Vorlesen ausgewählter Passagen – auch bei Lesungen wie dieser – habe ihren Blick auf den eigenen Text durchaus verändert, sind sich alle drei Nominierten einig. „Inzwischen wähle ich für die Lesungen oft andere Passagen aus als zu Beginn“, sagt Steiner. Simone Lappert schliesst sich dem an und fügt hinzu, dass sie ihre Vorlesetexte sogar teilweise verändert habe. „Beim Vorlesen habe ich manchmal gemerkt, dass es mündlich irgendwo holpert – und habe die Passage dann angepasst“ Ivna Žic fügt hinzu: „Der Text wird einem nach den vielen Lesungen fremder und kommt zugleich auch näher.“

Die gemeinsamen Lesungen der Nominierten sind schon bald Geschichte. Bereits am 10. November werden wir im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel erfahren, an wen der Schweizer Buchpreis dieses Mal geht. Ob Balg, Der Sprung, Die Nachkommende oder aber Sibylle Bergs GRM – Brainfuck oder Alain Claude Sulzers Unhaltbare Zustände – bald schon erfahren wir, wessen „Klang der Sprache“ am meisten zu überzeugen vermochte.

Livia Sutter und Andrina Zumbühl

Wie ein historischer Roman entsteht

Was braucht es für einen guten Roman? Sprachvirtuosität, aber auch gute Geschichten, meint NZZ-Inlandredaktor und Historiker Marc Tribelhorn auf dem Podium im Kosmos. Zudem müssten diese Geschichten in der Vergangenheit liegen,, wie schon Thomas Mann in «Der Zauberberg» wusste.

Auf dem Podium neben Tribelhorn sitzt Alex Capus, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Bücher basieren oft auf historischen Ereignissen, sind aber Romane, beinhalten also stets auch Fiktionen. Auf Einladung der NZZ wird er an diesem Nachmittag über seinen Schaffensprozess plaudern, vor allem darüber, wie aus der Recherche ein historischer Roman entsteht.

Capus teilt die Meinung von Thomas Mann. Sei man zu nah an einer Geschichte dran, tauge der Stoff nichts für einen Roman. Für die literarische Betrachtung sei eine gewisse Distanz zum Geschehen notwendig. Capus schreibt deshalb meistens nicht über die Gegenwart. Trotzdem sei der Gegenstand seiner Betrachtungen immer das Gesellschaftliche: «Wieso lebt der Mensch, wie er lebt?». 

Und das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten. Davon hält Capus allerdings nichts, denn das Leben habe keine Struktur. Ein Roman entstehe durch die Wahrnehmung des Betrachters oder der Betrachterin und welche Daten diese*r selektiert und in seine Geschichten aufnimmt. Erst durch das Weglassen von Fakten ergebe sich eine Struktur. Er nennt das einen Kristallisationsprozess: Das Wesentliche verhärte sich zum Kristall. Das heisst, aus dem akkumulierten Wissen wird die Essenz herausgefiltert, die Fakten konzentrieren sich zu einer Form: dem Roman.

Wann immer er auf kuriose Verläufe im Lebenslauf einer Person stosse, finde er für die Wogen im Leben dieses Menschen und den Wirren der Zeit, die diese*r durchlebte, Platz in einem Roman. Geschichte bestehe aus Kausalitäten, diesen geht Capus nach. Fehlt ein Glied in der Kette, erfinde er dieses dazu. Auf dem Cover seiner Bücher steht stets «Roman», deshalb dürfe er das. Er habe keinen Anspruch, in der Geschichtswissenschaft ernstgenommen zu werden. Er beleuchte Menschenleben, und zwar mit dem Respekt, der jeder und jedem zukomme.

Es sind die Alltäglichkeiten, die ihn interessieren. So recherchiert er auch mal für eine Geschichte, ob der Staubsauger im Ersten Weltkrieg schon erfunden war oder wie ein Dampfschiff gebaut wird. Die Menschen, die ihn zu seinen historisch-fiktiven Romanen inspirieren, finde er stets über Umwege oder per Zufall: über eine Bildunterschrift, einen Vermerk in einem Buch, über Archivmaterial. Dabei spricht er vom Verlieben auf den ersten Blick: Ein Thema müsse ihm sofort gefallen, sonst werde nichts daraus.

Wie viel Fiktion eine Erzählung erträgt, die sich in ihren Grundzügen tatsächlich zugetragen hat und wie viel Zeitgeschichte in einem historischen Roman in ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit eingebunden werden soll, bleibt an diesem Nachmittag offen. Auch wie man auf Unstimmigkeiten hinweisen könnte. Wollte man an solche und andere Fragen an Capus richten, wurde man übrigens darauf verwiesen, diese digital einzureichen. Das Moderationsteam wählte dann aus, welche gestellt würden – eine durchaus bedenkenswerte Vorgehensweise.

Eine Stunde für ein Gespräch mit einem Autor ist angenehm kurz, aber auch ein wenig sportlich angesetzt. Die Zeit geht rasant vorüber, vor allem wenn man den Geschichten Capus’ lauscht, der live fast noch besser erzählen kann als auf Papier. Dabei hat man einen Einblick in den Schaffensprozess eines Autors erhalten, aber sich auch ein Bild vom Schriftsteller hinter den Büchern machen können. Dieser ist sich seines Könnens und seiner Stellung in der Schweizer Autor*innenszene durchaus bewusst ist, wirkt dabei aber keineswegs arrogant. Denn: «Ich denke nicht an Flaubert, wenn ich schreibe. Ich bin der Alex aus Olten und gebe mein Bestes», sagt Alex Capus zum Schluss.

Annäherung an das Unsagbare

Viel ist gesagt worden von der Unmöglichkeit, Gedichte gänzlich sprachlich zu fassen. Und gleichermassen ist ihre Art, das Unsagbare in Worte zu fassen, die Qualität, die vielleicht am häufigsten mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Die Germanistin und Theologin Franzisca Pilgram-Frühauf hat ein Buch geschrieben, das sich genau diesem Thema nähert und in das Licht der Spiritualität stellt: «verdichtet – Poetische Annäherungen an Spiritualität» ist im Verlag rüffer & rub erschienen. Darin stellt sie einer Auswahl an Gedichten quer durch die Jahrhunderte Interpretationsansätze an die Seite und klopft sie auf ihren spirituellen Gehalt hin ab.

Am Montag gab es die Buchvernissage, heute wirft die Lektorin Vivian Tresch mit der Autorin ein Blick ins Buch und spricht mit ihr über die Ungenügsamkeit begrifflicher Definitionen. Mit dabei ist die junge Lyrikerin Sophie Thomas aus Bern, deren Gedicht das Buch abschließt. Franzisca Pilgram-Frühauf ist Fachverantwortliche für Spiritualität und Lebenssinn am Institut Neumünster und hat einen besonderen Schwerpunkt auf dem Umgang mit älteren Menschen. Was Spiritualität genau sei, könne sie nur schwer erklären. Fest steht, es geht um die großen existenziellen Fragen des Lebens, um Schlüsselmomente. Gerade Gedichte haben ihrer Meinung nach das Potenzial, mit diesen Themen offen, spielerisch, vorsichtig und ohne Scheu umzugehen – und dennoch niemals fertig mit ihnen zu werden. Verletzlichkeit wird hier in Hoffnung gewendet und auch der Humor ist niemals fehl am Platz, wo er sonst, im Umgang mit Lebens- und Krisenfragen oft unangebracht scheint. Ebenso offen möchte die Autorin mit den ausgewählten Gedichten umgehen und ihre Interpretationen als Denkanstöße zum Weiterlesen verstehen.

Sophie Thomas liest passend zu dieser Gelegenheit Gedichte, die sich Themen wie Identität und Brüchen widmen. Sie schätze an der Lyrik vor allem die Möglichkeit des sprachspielerischen Umgangs und die Konzentriertheit der Gattung. Ihr Buch «Umbau» ist im Selbstverlag erschienen, in den Denkbildern kann man einige ihrer Gedichte nachlesen.

Welchen Stellenwert hat das gedichtete Wort? Im Umgang mit dementen Menschen entfaltet es seine Kraft auf besonders eindrucksvolle Weise, berichtet Franzisca Pilgram-Frühauf. Die rythmische-klangliche Struktur, die bildreiche Sprache überlebe Brüche und setze sich tief hinein in den menschlichen Körper. Nicht selten komme es vor, dass gerade alte Menschen noch und wieder Verse aus ihrer Schulzeit rezitieren könnten, aber im Alltag völlig hilflos seien. Die kommentierte Auswahl zeigt das Potenzial auf und macht die Grenzen des Unsagbaren sichtbar als Möglichkeit, über sie hinweg zu gehen.

Lyrische Lesung statt wilder Partynacht

„Sein oder Schein“, lautet bekanntlich das Motto des diesjährigen „Zürich liest“. Spontan entschied ich mich am Samstagabend gegen den Ausgang und für das stimmungsvolle Sein bei Kerzenschein. Programm war die lyrische Lesung des bekannten Münchner Lyrikers und ehemaligen Hanser-Verleger Michael Krüger, die spätabends in der spärlich beleuchteten romanischen Krypta des Grossmünsters stattfand. Das stellte ich mir irgendwie schaurig-schön und besinnlich vor.

Die Krypta füllt sich, es müssen noch mehr Stühle herangeschleppt werden. Vorne aus der Dunkelheit ertönt eine Melodie. Eine silbern glänzende Querflöte kämpft sich durch die Schwärze. Als die Musik verstummt, beginnt Krüger zu sprechen. Er setzt seine Brille auf, nimmt sie wieder ab, und setzt sie doch wieder auf, nur, um sie in der nächsten Sekunde wieder herunter zu nehmen. „Ich bin ein Mensch, der so langsam spricht, dass man denkt, ich habe die Worte vergessen. Doch dann kommen sie wieder“, sagt der Lyriker. Dem kann ich beipflichten. 

Das Geräusch, wenn jemand das Gewicht aufs andere Bein verlagert oder sich auch nur einen Centimeter auf dem Stuhl bewegt oder gar hustet, wird vom Hall der Krypta mehrfach verstärkt, sodass man sich kaum traut zu atmen. Als Krüger aus seinem Buch „Einmal einfach“, das 2018 erschienen ist, zu lesen anfängt, ist es totenstill.

Es sind Bilder des Alltags, die uns der Lyriker vorträgt. So geht es um das wandelnde Volk der Wolken, um die Zeit, ums Wasser, um das Geräusch den Schritte im Schnee, um die Schattenwelt, um den Wind. Krüger scheint viele seiner Ideen aus der Natur zu schöpfen. Ein Gedicht erzählt von einer Schafherde, die das lyrische, von einer Schafsangst geplagte Ich umzingelt und mit ihrer wolligen Nähe zu erdrücken droht. Es kommt anders: Die Erzählfigur wird selbst zum Schaf und ist fortan Teil der Herde. Die Gedichte wirken indessen teilweise konfus. „Die transzendentale Seite der Kunst ist immer eine Form des Gedichts“, sagt Krüger. 

Im zweiten mitgebrachten Buch, „Mein Europa“, nimmt Krüger das Publikum nicht nur auf eine transzendentale Reise mit, sondern führt es durch Schweizer Ortschaften. So lädt er beispielsweise ein nach Tiefencastel, ins Tal, in dem das Echo haust. Nach etwa einer Stunde und mehreren Querflöten-Interludes entlässt uns Krüger wieder in die Realität, wo wir uns zuerst aus dem Gewölbe der Krypta an die Oberfläche kämpfen und dort in eine weitere Kapsel der Dunkelheit eintreten. 

360° Eindrücke

Wir haben die neue Mediensymbiose von «Exklusive Vorpremiere: «LOS 360°VR (RC)» – eine Lesung durch scheinbare Räume im Rahmen» besucht und uns nach einer Flut von Sinneseindrücken zu untenstehenden Fragen Gedanken gemacht. Wie diese Veranstaltung technisch abläuft, wird bereits in diesem Beitrag erläutert.

Was hat dir am besten gefallen?

A: Die Szenerie der verschiedenen Räume war mit vielen spannenden Details gefüllt. Diese zu erkunden, war ein faszinierendes Abenteuer. Besonders imposant fand ich den Raum des Meeres. Der Zuschauer befindet sich dicht genug unter der Oberfläche, um das Rauschen der Wellen zu vernehmen, kann aber gleichzeitig einen Blick in die Tiefe werfen.

X: Das war für mich eindeutig die erste Szene, die einen Theatersaal in abgedunkeltem Licht am Abend zeigte. Diese war sehr realitätsnah und es hat Spass gemacht, die Leute um sich herum zu beobachten. Die Stimmung war hier sehr angenehm und auch das Tête-à-Tête mit Klaus Merz war als Einführung ein raffiniertes Detail.

Was hat dir nicht so gefallen?

A: Sich in einer VR zurechtzufinden, bedeutet immer auch sich sehr vielen Sinneseinflüssen gleichzeitig auszusetzen. Im Gegensatz zu einem klassischen Kinobesuch ist es aber nicht möglich sich vom Bild abzuwenden. Selbstverständlich macht das einen Grossteil der imposanten Wirkung des VR aus; über eine Zeitspanne von einer halben Stunde ist es jedoch auch sehr ermüdend.

X: Die Übergänge zwischen den Sequenzen empfand ich oft als verwirrend. Ich denke, dass mir klarere Übergänge einen besseren Überblick vermittelt hätten. Die Szene mit den beiden Reitern konnte ich nicht in einen Zusammenhang setzen, das hat mich mehr verwirrt als begeistert.

Wie hat in deinen Augen die Symbiose von Literatur und VR funktioniert?

A: Teilweise gut, teilweise weniger gut. Die erlebten Szenerien waren für mich mit der Stimme von Klaus Merz stimmig. Die Hintergrundgeräusche der Räume – brechende Wellen, tuschelnde Theaterbesucher, heulende Schneegestöber – waren mir persönlich zu laut. Entsprechend rückte die Stimme und somit die Erzählung in den Hintergrund.

X: Grundsätzlich denke ich, dass die Symbiose eine grossartige Idee ist und bei sich passend gewählter Literatur sehr gut funktionieren kann. Ich empfand jedoch bei diesem Projekt den Inhalt der Erzählung als zu schwerwiegend für eine Visualisierung mit der VR-Technik.

Wem würdest du den Besuch empfehlen?

A: Ziel des Projektes war es, eine grössere Masse an Zuschauenden anzuziehen, was – wenn man die Vorführungen im Rahmen von Zürich liest zählt – durchaus gelungen ist. Dennoch scheint mir das Projekt immer noch auf ein sehr spezifisches Segment zugeschnitten, da mit Klaus Merz’ LOS eher schwerere Lektüre gewählt wurde, die wohl nicht allen zusagt. Trotzdem empfehle ich den Besuch denjenigen, die bis jetzt noch nicht in den Kontakt mit VR gekommen sind. Die Bilder sind ein Erlebnis für sich.

X: Klaus Merz-Fans wären sicherlich angetan, genauso wie Personen, die vorwiegend an Literatur und etwas weniger an Technik interessiert sind. Für Kinder empfinde ich die Technik als geeignet, den Inhalt der Erzählung jedoch als unpassend. Personen, die nur an der VR-Technik interessiert sind, würde ich vermutlich ein anderes Projekt empfehlen, da hier berechtigterweise die Literatur und ihr Inhalt klar im Vordergrund stehen.

Wie siehst du die Zukunft dieser Mediensymbiose?

A: Gerade jetzt, wo VR oder auch AR (Augmented Reality) vermehrt auf den privaten Markt kommt, glaube ich, dass einige neue Medienformen wie das Projekt 360° entstehen. Es ist aber auch klar, dass solche die bestehenden Formen weder ersetzen können noch sollen.

X: Ich denke, dass die VR-Technik für Kurzfilme sehr gut geeignet ist und auch ein Literaturprojekt sinnvoll damit realisiert werden kann. Andere kürzere Filme oder Aufnahmen könnten so realitätsnah ausfallen, was ich mir besonders für sehr bildhafte Literatur gut vorstellen könnte. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass daraus lange Kinofilme entstehen werden.

Xenia Bojarski und Anouschka Mamie

Ein Gespräch in drei Sprachen

Es beginnt langsam zu dämmern, als die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer im Erkerzimmer des Karls eintrudeln. Die Stimmung ist ruhig und friedlich, als der Moderator zu sprechen beginnt. Auf Deutsch – das muss explizit dazugesagt werden, denn die Sprachvielfalt ist bei dieser Lesung beachtlich. Der Moderator erläutert die Frage jeweils auf Deutsch für das Publikum und richtet schliesslich die lettische Variante der Frage an Nora Ikstena. In der Mitte sitzt Vera Bommer, Schweizer Schauspielerin, die an diesem Abend die deutsche Stimme des Romans «Muttermilch» gibt. Im linken Ohrensessel sitzt die Autorin des Werkes, Nora Ikstena, die wider mein Erwarten komplett auf Englisch sprechen wird. Ihr Deutsch sei nicht so gut, erklärt sie, aber sie habe einige Zeit in den USA verbracht.

Diese Konstellation der verschiedenen Sprachen und damit auch Personen, die den Roman an diesem Herbstabend für die Zuhörenden zum Leben erwecken, ist der Aspekt, welcher mich an der Lesung am meisten faszinieren wird.

Nora Ikstena beginnt die Lesung mit einer kurzen Einleitung. «Muttermilch» ist ein Roman, in der Ikstena ihre Kindheit und Jugend in Lettland sowie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter illustriert. Sie nennt den Text jedoch an keiner Stelle autobiografisch. Ikstena beendet die Einleitung mit einer wunderschönen Antwort auf die Frage des Moderators, weshalb ihr Text in den verschiedensten Ländern der Welt so gut rezipiert werde: «The love between a mother and a daughter can happen anywhere in the world.»

Dann beginnt die lettische Autorin, eine Passage auf Lettisch vorzulesen. Der Klang dieser baltischen Sprache war mir bisher absolut unbekannt, und so klingt auch das Vorgelesene im ersten Moment etwas befremdlich. Trotz der hohen Zahl an plosiven Lauten wirkt es dennoch ruhig und regelmässig.

Nun findet ein Sprecherinnen- und Sprachwechsel statt. Sarah Bommer beginnt auf Deutsch vorzulesen. Die Schauspielerin artikuliert hervorragend. Das Vorgelesene tritt in den Vordergrund, jedes Wort wiegt schwer und lässt die Zuhörenden nachdenklich werden. Ikstenas Wortwahl ist gezielt, gnadenlos, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie es in ihrer Kindheit tun musste. Vielleicht tat sie es beim Schreiben des Romans gerade deshalb nicht.

Im Anschluss übernimmt der Moderator mit einer Fragerunde, bevor Bommer erneut liest. Der Inhalt des Romans überfällt einen, hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl.

Zum Abschluss beantwortet Ikstena geduldig die zahlreichen Publikumsfragen, die sich nicht nur um den Roman und den Schreibprozess drehen, sondern vor allem auf die politische Situaiton Lettlands abzielen. Zum Schreibprozess sagt sie: «It was a hard process. The power oft he book sometimes takes you back and you have to keep going.» Ich bin begeistert von Ikstenas überlegten und sensiblen Antworten.

Die Sprachvielfalt entwickelt eine enorme Eigendynamik, welche das Gespräch in keiner Weise hemmt oder aufhält. Im Gegenteil: Durch den ständigen Wechsel werden die Zuhörenden alle mit einbezogen und haben die Möglichkeit, am Diskurs teilzunehmen.

Was für ein tolles Gespräch! / What a great reading! / Kāda jauka saruna!

Erzählt eure Traumata!

Was laut Programmheft als Abend voller Poesie, Musik, Engagement und Liebe im Nahen Osten angekündigt wird, entwickelt sich zu einem aufwühlenden Abend über Grundsatzfragen der politischen Entfremdung und Annäherung, die lange anhalten.

Im Zentrum der heutigen Lesung im Salon in Zürich Wiedikon stehen Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» (2019) und das von ihr unterstützte Friedensprojekt im Nahen Osten, «The peace factory». Die Lesung begleiten ein orientalisches Dinner und ein Musiker, welcher auf der von zwei Bernern erfundenen Handtrommel Hang (Berndeutsch für Hand) den Abend mit sphärischen Klängen einrahmt. Osmans Roman handelt von der jungen palästinensischen Journalistin Leyla (arab. Nacht), ihrer Beziehung zum israelischen Doktoranden Lior (hebr. Licht) und der Sichtung eines Engels in Galilea, welche die nahöstliche Welt in Aufruhr versetzt. Der Engel heisst Malek Sabateen, ist 19 Jahre alt und lässt die Menschen für einen Moment aus den Augen des Anderen – des vermeintlichen Feindes – sehen. Während die Einen in ihm den hoffnungsvollen Vorboten ihres Messias oder eine Widerstandsikone erkennen, schürt er bei den anderen Panik und wird als vermeintlicher Terrorist sogar verhaftet.

Bereits in den Namen der beiden Protagonisten verdeutlicht Joana Osman, dass Konträres nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden muss, sondern dass es durch das Herstellen einer Beziehung verbunden werden kann. Die 1982 geborene Deutsch-Palästinenserin besitzt eine grosse Familie im Libanon und ist selbst eine Art Bindeglied zwischen den Kulturen. Sie liest an diesem Abend nicht nur ausgewählte Textpassagen aus ihrem Roman, sondern kontextualisiert das Erzählte mit persönlichen Erlebnissen. Vor einigen Jahren hat sie im Nahen Osten Vortragsreisen über den Frieden unternommen, die sowohl in Israel als auch in Palästina sehr positiv aufgenommen wurden. Doch obwohl die beiden Parteien anscheinend für dieselbe Sache einstehen und den Frieden wollen, stehen sie gleichzeitig vor einer unüberwindbaren Grundsatzfrage: „Was muss denn passieren, damit die anderen endlich wahrnehmen, was uns bedrückt und unser Trauma verstehen?“, fragen sie sich gegenseitig. In ihrem Roman schickt Osman als Antwort nun den Engel Malek auf die Erde und versucht im Stil des magischen Realismus nachzuzeichnen, was passieren könnte, wenn das Wunder geschehen würde, dass man in den Anderen hineinschauen könnte.

Joana Osman: „Am Boden des Himmels“, Hoffmann und Campe 2019

Der neuralgische Punkt im Konflikt im Nahen Osten liegt laut Osman im Schweigen über die erlebten Traumata und in den verhärteten Denkmustern, weil wieder einfach niemand miteinander spricht. Also verfestigen sich Dehumanisierung und Viktimisierung und ergeben eine Abwärtsspirale, die früher oder später in Gewalt ausarten muss. An diesem Punkt entfernt sich der Abend immer stärker von einer Lesung und nähert sich einer engagierten Diskussionsrunde an, welche die Zuhörenden auf den gegenwärtigen Zustand im Nahen Osten sensibilisiert. Die Grundstimmung des Abends bleibt trotz der happigen Thematik hoffnungsvoll. Eine junge Generation wächst heran, die immer weniger an Ortsgrenzen gebunden ist und die mit Medien wie Instagram, Musik, Fotografie und Literatur Schwellen überschreitet. Es entstehen Bewegungen wie beispielsweise die „Peace Factory“, die einem Facebookpost des Grafikers Ronny Edry und seiner Frau Michal Tamir von 2012 zu verdanken ist. Der Post entstand im Moment, als Israel und Iran sich erneut den Krieg erklärt hatten und trägt den Text: “Iranians, we will never bomb your country. We love you.” Den Post begleitete ein offener Brief an die iranische Bevölkerung mit dem Wunsch, die Waffen niederzulegen und stattdessen miteinander zu reden und so die jeweils andere Seite kennenzulernen. Über Nacht ging die Botschaft viral und löste Reaktionen aus die von „Iran loves Israel“, zu „Israel loves Palestine“ und umgekehrt reichten.

Osman plädiert für die kleinen Schritte – die Babysteps – die sich an eine mögliche Lösung annähern können. Es gehe darum, dass die Leute endlich lernen würden, miteinander zu sprechen und das Schweigen aufbrechen. Natürlich ist sie zu realistisch, um der Illusion nachzugehen, dass dies allein den Konflikt lösen könnte, der seit Jahrzehnten schwelt. Doch Sprache und Dialog geben dem fratzenhaften Feindbild ein menschliches Gesicht und machen den Hass umso schwieriger, desto länger man hinhört. Sie schliesst mit der Bemerkung, dass die Lösung des Konflikts von solchen Dialogen vorangetrieben wird und es ihr hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ein langer Applaus folgt ihren Worten.

Blaues Blut

Kaum mit einem Fuss durch die Tür, schon streckt sich mir eine Hand entgegen, Höflichkeiten werden ausgetauscht und ich werde zu meinem Stuhl geleitet. Auf der Theke der Buchhandlung am Hottingerplatz warten bereits funkelnde Weingläser und eine goldgelbe Zopfkrone.

Königlich ist sie, die Begrüssungszeremonie, und entsprechend dem Flair des Abends wird schon bald in die royalen Geschichten der Schweiz eingetaucht, bei der Lesung von Michael van Orsouws «Blaues Blut».

Binnen weniger Minuten sorgt der Mann der Stunde auch schon für den ersten Lacher von vielen: Er stellt sich vor dem Publikum auf, der Königsmarsch schallt durch die Lautsprecher, goldene Glitzersteinchen formen auf seinem tiefblauen Hemd eine Krone.

Obwohl das Schweizervölkchen voller Stolz auf seine demokratische Vergangenheit zurückblicke, kämen wir nicht umhin, eine Schwärmerei für die Geschichten rund um die Aristokraten zu hegen, erklärt Orsouw und tröstet das Publikum noch im selben Atemzug damit, dass wir ja wenigstens einen Schwingerkönig hätten.

Um Einblick in sein Buch zu geben, spricht der Autor einige der dreizehn Geschichten an. Stets begleitet von Anekdoten aus seiner Recherchearbeit und Textstellen aus dem Buch, erfahren die Zuhörenden unter anderem, warum das Schloss Neuschwanstein von König Ludwig II nicht am Vierwaldstättersee erbaut wurde, inwiefern die schwedische Königsfamilie und Opernbälle nicht immer die beste Kombination sind und wie ein abgelenkter Gatte und der tragische Tod von Königin Astrid Mediengeschichte schrieben und gleichzeitig den Pionieren der Luftverkehrs zu neuen Höhen verhalfen.

Wenn auch die behandelten Persönlichkeiten schon ziemlich lange tot sind, trägt Orsouws lebendige Erzählweise zu einem gelungenen Abend bei und macht eindeutig Lust auf mehr. Als krönender Abschluss trägt der Autor ein Gedicht zum Buch vor und kann auch in dieser Gattung überzeugen.

Happy Birthday, kleine Raupe Nimmersatt

Heute fanden Laura und ich im Gemeinschaftszentrum Riesbach eine lange Raupe vor, welche aus vielen kleinen Gästen bestand.

Denn das beliebte Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: Sie wird 50 Jahre alt. Grund genug also, eine Geburtstagsparty zu feiern! Wir hören Geschichten, malen und basteln und auch ein Geburtstagskuchen darf nicht fehlen.

Nachdem der Anfang des Buches mit den Kindern gelesen wurde, liefen sie, mal mehr, mal weniger, in einer Reihe durch den Raum und sammelten als kleine Raupe Nimmersatt alle im Buch beschriebenen Lebensmittel ein.

Nach dem aktiven Teil folgte eine kleine Bastelrunde. Jedes Kind durfte einen Schmetterling basteln, da aus der kleinen Raupe einer wird, wenn sie gross ist. Und nach der kreativen Arbeit folgte das Vergnügen, denn dann gab es alle leckeren Lebensmittel, welche die kleine Raupe Nimmersatt am liebsten verspeist: Äpfel, Birnen, Wurst und einen besonders schönen Schokoladenkuchen.

HAPPY BIRTHDAY, KLEINE RAUPE!

Stein und Stein

Wer viel liest, kennt die lästige Suche nach einer erträglichen Leseposition. Krampf in den Schenkeln, Nackenmuskulatur, die zieht, Beine überschlagen, dann doch nicht, Rückenschmerzen, müder Hals und so weiter. Diese Begleiterscheinungen werden meist als störend oder bestenfalls gar nicht empfunden. Die Installation Lektüre zur Lage modifiziert nun die kontingenten Umstände des Lesens und schliesst sie in die Lektüre ein. 

Im Kein Museum, einem ehemaligen Tabakgeschäft, strömt einem bereits Lavendelduft entgegen. Betritt man den mit schwarzen Tüchern separierten Raum, findet man sich an eine Spa-Hotel-Werbung erinnert. Man darf sich an weichen Kissen und Tüchern bedienen, und in ruhigem Licht legt man sich rücklings auf eine Fläche aus kirschgrossen Steinchen. Über einem laufen dann die Texte mehrer Autor*innen über eine schief in den Raum hängende Projektionsfläche. Man liegt und liest dann für eine Weile, bis die Schlaufe durch ist. Dieses Setting gibt sich nun unter zweierlei Gesichtspunkten zu lesen. 

Einerseits ist da die buchstäbliche Position (oder eben Lage), die man zu den Texten einnimmt. Es ist überraschend bequem und man ruft sich auch gleich die Heilkraft spartanisch harter Bettalternativen ins Gedächtnis. Ein durchaus behagliches Lesevergnügen. Dann aber wird die Lage zusehends unbequem, womit die Verantwortlichen Kevin Mutter und Adrian Baumberger auf gelungene Weise mit der vermeintlichen Gemütlichkeit brechen. Das lesende Subjekt kann sich nirgends über längere Zeit dem Müssiggang hingeben. Irritierend wirkt dabei die sanft-elektronische Massage-Mucke im Hintergrund, die zwar Stimmung verbreitet, aber vom Lesen eher ablenkt. 

Andererseits sind da die kurzen Erzählungen und formal freien Gedichte, die elf Autor*innen zum Denkbild Lage verfasst haben. Daraus resultierten eher kryptische aber auch erzählerische Gedichte, eine kurzgedachte Allegorie, skizzenartiges und kleine Erzählungen. Einige überzeugende Texte sind darunter (erwähnt sei Alexandra Zyssets Fake-Story über ein Dorf im Jura) und vor allem prosaisches funktioniert gut in der Installation. Ausgewählt hat das Magazin Stereofeder.

Natürlich ergibt sich der Wert der Installation aber aus der Verknüpfung der beiden Aspekte, denn sonst könnte man das ja alles besser zu Hause lesen oder sein eigenes Buch aufs Steinbett mitbringen. Der unreflektierte Gesamteindruck, der einem zuvorderst bleibt, ist positiv. Der Einbezug der Umstände in die Lektüre wirkt nicht aufgestülpt, sondern in seiner Absicht berechtigt. Aber gerade weil man sich selbst als lesendes Subjekt erlebt, wünscht man sich, diese Perspektive in den Texten aufgenommen zu finden. Ausserdem eignen sich die stark lyrischen Texte, die ein ständiges Zurückspringen der Lesenden verlangen, leider gar nicht für das Format. 

Schlussendlich lohnt sich der Besuch in der Mutschellenstrasse durchaus, um die im Ansatz aussagekräftige Installation zu sehen, auch wenn einiges in der Ausführung nicht ganz will. Es ist kein modernitätsgeiler Versuch, Literatur im Digital Age schmackhaft zu machen, sondern ein innovatives Experiment junger Kunstschaffender, das Lesen als Praxis in anderen Medien zu reflektieren. Und «artistry trumps mastery», wie Maggie Nelson so schön schreibt.