Lyrische Lesung statt wilder Partynacht

„Sein oder Schein“, lautet bekanntlich das Motto des diesjährigen „Zürich liest“. Spontan entschied ich mich am Samstagabend gegen den Ausgang und für das stimmungsvolle Sein bei Kerzenschein. Programm war die lyrische Lesung des bekannten Münchner Lyrikers und ehemaligen Hanser-Verleger Michael Krüger, die spätabends in der spärlich beleuchteten romanischen Krypta des Grossmünsters stattfand. Das stellte ich mir irgendwie schaurig-schön und besinnlich vor.

Die Krypta füllt sich, es müssen noch mehr Stühle herangeschleppt werden. Vorne aus der Dunkelheit ertönt eine Melodie. Eine silbern glänzende Querflöte kämpft sich durch die Schwärze. Als die Musik verstummt, beginnt Krüger zu sprechen. Er setzt seine Brille auf, nimmt sie wieder ab, und setzt sie doch wieder auf, nur, um sie in der nächsten Sekunde wieder herunter zu nehmen. „Ich bin ein Mensch, der so langsam spricht, dass man denkt, ich habe die Worte vergessen. Doch dann kommen sie wieder“, sagt der Lyriker. Dem kann ich beipflichten. 

Das Geräusch, wenn jemand das Gewicht aufs andere Bein verlagert oder sich auch nur einen Centimeter auf dem Stuhl bewegt oder gar hustet, wird vom Hall der Krypta mehrfach verstärkt, sodass man sich kaum traut zu atmen. Als Krüger aus seinem Buch „Einmal einfach“, das 2018 erschienen ist, zu lesen anfängt, ist es totenstill.

Es sind Bilder des Alltags, die uns der Lyriker vorträgt. So geht es um das wandelnde Volk der Wolken, um die Zeit, ums Wasser, um das Geräusch den Schritte im Schnee, um die Schattenwelt, um den Wind. Krüger scheint viele seiner Ideen aus der Natur zu schöpfen. Ein Gedicht erzählt von einer Schafherde, die das lyrische, von einer Schafsangst geplagte Ich umzingelt und mit ihrer wolligen Nähe zu erdrücken droht. Es kommt anders: Die Erzählfigur wird selbst zum Schaf und ist fortan Teil der Herde. Die Gedichte wirken indessen teilweise konfus. „Die transzendentale Seite der Kunst ist immer eine Form des Gedichts“, sagt Krüger. 

Im zweiten mitgebrachten Buch, „Mein Europa“, nimmt Krüger das Publikum nicht nur auf eine transzendentale Reise mit, sondern führt es durch Schweizer Ortschaften. So lädt er beispielsweise ein nach Tiefencastel, ins Tal, in dem das Echo haust. Nach etwa einer Stunde und mehreren Querflöten-Interludes entlässt uns Krüger wieder in die Realität, wo wir uns zuerst aus dem Gewölbe der Krypta an die Oberfläche kämpfen und dort in eine weitere Kapsel der Dunkelheit eintreten.