Das Stimmenwirrwarr entschlüsseln

«Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich», erklärt Lukas Hartmann. Mit Geschichte komme er immer und überall in Berührung. In seinem neusten Roman Der Sänger hebt Hartmann eine Stimme aus der Geschichte heraus. Es ist dies die Stimme des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der in einem Internierungslager in der Schweiz erkrankte und starb.

Auch Shelley Kästner lässt in Jewish Roulette kaleidoskopartig einzelne Stimmen zu Wort kommen. Aus 21 Interviews und Gesprächen entsteht eine Erzählung. Die Zugehörigkeit zum Judentum schafft die Verbindung zwischen den einzelnen Stimmen. Das gemeinsame Gespräch zwischen Hartmann und Shelley über Stimme und Geschichte stösst am Samstag auf grossen Anklang. Nicht alle Zuschauer*innen finden einen Sitzplatz. Das muntere Stimmengewirr bricht ab, als Stefan Humbel die Anwesenden begrüsst. Das Publikum lauscht gespannt den Passagen aus Der Sänger und Jewish Roulette. Als «nah am Menschen und doch mit der nötigen Distanz und Respekt» beschreibt Humbel die Erzählstile von Hartmann und Shelley.

«Was heisst es, für andere zu sprechen?», möchte Humbel wissen. Shelley Kästner erzählt von ihren Gesprächserfahrungen. Nach der Transkription der Gespräche habe sie das Geschriebene viele Male durchgelesen. Die Gespräche in einer passenden Sprache zu verschriftlichen, sei kein leichtes Unterfangen gewesen. «Ich habe diese erzählten Lebensgeschichten gewissermassen aus dem Deutschen in meine eigene Sprache übersetzen müssen», erklärt sie. So entsteht denn in Jewish Roulette eine Ko-Autorschaft mit den befragten Personen. Shelley Kästner gibt anderen Personen eine Stimme, spricht für sie und erzählt ihre Lebensgeschichten.

Auch Lukas Hartmann spricht für eine andere Personen, wenngleich es sich in seinem Fall um Personen aus der Vergangenheit handelt. Hartmann gesteht, dass er sich während der Recherche bisweilen frage, ob er überhaupt für andere Personen aus der Vergangenheit sprechen dürfe oder wolle. Diese Frage treibe ihn immer wieder um. «Ich entschliesse mich dann aber dazu, dass ich das darf», erklärt er schelmisch. Ein biographischer Roman sei wie ein Vorschlag, wie es hätte sein können. Auch in Sachbüchern sei doch nie die ganze Wahrheit enthalten.

Die Stimme des Menschen – ob Sprechstimme, Singstimme oder die Stimme der Meinungsäusserung – empfinden Shelley und Hartmann als etwas Faszinierendes. Die Stimme sei ein einzigartiges Erkennungsmerkmal. «Meine Aufgabe als Schriftsteller ist es, hinzuhören, der Geschichte nachzugehen und das Stimmenwirrwarr zu entschlüsseln», erklärt Lukas Hartmann.

Während im Publikum langsam wieder ein zaghaftes Gemurmel und Stimmengewirr zu vernehmen ist, wird einmal mehr klar: Schwierig ist es allemal, anderen Menschen eine passende Stimme zu leihen – seien es Menschen aus der Vergangenheit oder Menschen aus der Gegenwart.

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