Auf einen Kaffee mit Adam Schwarz

Bei seiner Kurzlesung am Freitag war Adam Schwarz noch etwas beeinflusst vom Rotwein, der beim Eröffnungsapéro ausgeschenkt wurde. Heute ist es vor allem der Mangel an Koffein, der ihm noch etwas zu schaffen macht. Trotzdem entspinnt sich ein interessantes Gespräch rund um seinen Roman Das Fleisch der Welt, seinen Eindruck von den Solothurner Literaturtagen und warum er lieber ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer wäre.

Adam Schwarz, erstmal vielen Dank, dass Du dem Buchjahr erneut Red und Antwort stehst. Was war denn dein Highlight an den Solothurner Literaturtagen bis jetzt?

Ich hatte ehrlich gesagt noch fast keine Zeit für den Besuch von Lesungen. Ich hab unterschätzt, wie viel Zeit meine Auftritte und spontane Gespräche fressen. Zwei Lesungen hab ich aber besucht. Einmal die von John Banville, dem irischen Autor, den ich nicht gekannt habe, aber toll fand. Und zweitens die Lesung von Gion Mathias Cavelty, bei der ich bereits wusste, was mich erwartet und gut unterhalten wurde. Die paar Sachen, die ich mir vorgenommen habe, hab ich nicht geschafft. Ich hab selber noch ein paar Auftritte und gleich treffe ich mich mit der Moderatorin der Lesung von morgen.

Wie bereitest Du dich denn auf Lesungen vor?

Mit der Moderatorin von morgen hatte ich im Voraus E-Mail-Kontakt. Sie war auch schon an einer meiner Lesungen und wir werden sicher kurz besprechen, welche Aspekte sie gerne aufgreifen möchte. Das ist schon angenehmer so, dann wird man nicht ins kalte Wasser geworfen. Das war auch bei meiner bisher krassesten, weil grössten Lesung in der Schweizer Botschaft in Berlin so. Da hat mir der Moderator im Voraus seine Fragen unterbreitet. Ich bewundere die Autoren, die das alles schon länger machen und auf der Bühne total souverän wirken. Bei der Kurzlesung gestern fand ich es allerdings ganz angenehm, da begegnet man den Leuten fast auf Augenhöhe.

Ist das nicht schwieriger?

Ich weiss nicht warum, aber ich mag das sehr. Formate wie Sofalesungen zum Beispiel. Da hat man das Gefühl man sei ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer. Ich bin schliesslich kein Grossautor, sondern einfach einer, der ein Buch geschrieben hat.

Dann macht dich der ganze Trubel in Solothurn noch etwas nervös? Du bist also noch kein alter Hase?

Nein, ich glaub das dauert noch eine Weile. Ich finde es aber wichtig, mit den Leuten, die meine Bücher lesen, in Kontakt zu treten. Man schreibt schliesslich nicht nur in seinem stillen Kämmerlein. Das hat auch seine schönen Seiten. Wenn Leute mir berichten, was sie beim Lesen gedacht, gespürt, gefühlt haben, wenn mein Text anders zu meinen Lesern spricht als zu mir – das ist toll und spannend. Ich entdecke dann selber Dinge, die ich im Roman bisher nicht gesehen habe. Ich hoffe auch, dass noch mehr Gespräche und Reaktionen zu meinem Roman kommen, der mir selber fast schon etwas fremd geworden ist. Schliesslich ist es doch einige Zeit her, seit er erschienen ist und dazwischen ist viel passiert. Ich bin gespannt, wie ich in fünf, in zehn Jahren über meinen Roman urteilen werde. Ich fürchte, dass ich mir denken werde „Was hast du denn da für einen Mist geschrieben?“ Aber das muss wohl so sein.

Du hast erwähnt, dass Du an etwas Neuem arbeitest. Wie schwierig oder einfach ist das?

Es ist auf jeden Fall total anders jetzt. Es ist viel schwieriger, die imaginierte Öffentlichkeit auszuklammern. Ich will nicht schon beim ersten Entwurf denken „Ah ja, das schreib ich, das verkauft sich“ – eigentlich sollte man das nie denken. Für mich ist es wichtig, mich fürs Schreiben zurückzuziehen, mich vom Alltag abzugrenzen, vor allem da ich in Leipzig Philosophie studiere und nicht jederzeit schreiben kann. Das ist aber auch gut so. Ich mag es, Texte liegen zu lassen, damit sie gären. Meist konzentriert sich mein Schreiben deshalb auf die Semesterferien. Zum Beispiel war ich im März in Split, einem Ort an dem ich niemanden kenne und für mich bin – das hilft eine Routine zu entwickeln. So komme ich dem Gefühl am nächsten, das ich schon als kleines Kind hatte, wenn ich Legoklötze aufeinander stapelte und dazu Geschichten erfand.

Als Du die Idee für deine Geschichte hattest, schwebte dir da schon zu Beginn ein Roman vor?

Ja, aber ich habs für mich im Geheimen gemacht. Zwei oder drei Jahre hab ich niemandem davon erzählt. Erst in der Schreibwerkstatt des Aargauer Literaturhauses hab ich mal einen Ausschnitt zur Diskussion gestellt und gemerkt, dass das ankommt und Potential hat.

Die Idee für Das Fleisch der Welt kam dir auf einer Spanien-Rundreise und einer Flüeli-Ranft-Wanderung. Danach hast Du dich intensiv mit Niklaus von Flüe beschäftigt. Bist Du von Natur aus neugierig und gehört das zum Autorensein dazu?

Es gibt bestimmt verschiedene Arten von Neugier. Bei mir ist es eher eine „nerdige“.  Ich interessiere mich für Vieles ein bisschen und sammle aus allen möglichen Gebieten. Ich kombiniere gerne abseitige Dinge und erfreue mich an sinnlosem Wissen und Anekdoten, die ich in meine Texte einbringen kann. Das hab ich in diesem Roman gemacht und werde es im nächsten Buch bestimmt genauso tun. Zum Beispiel der Ulrich, der meist nur Flüe-Experten bekannt ist. Der ist einfach so absurd, wie er Niklaus von Flüe nachzuahmen versucht und kläglich scheitert.

Apropos Ulrich: Philipp Theisohn meinte im letzten Interview, die Figur des Ulrich mache ihn aggressiv. Ich fand ihn hingegen eher witzig. War dieser Humor beabsichtigt?

Ich fand ihn auch eher witzig. Vor allem machte es grosse Freude, über ihn zu schreiben. Dieser nervige Mitläufer, der sich trotz allem sehr wichtig nimmt. Ich kann aber auch verstehen, wenn man wütend wird. Im echten Leben würde mich ein solcher Typ auch wütend machen.

Das Bild der damaligen Zeit ist ansonsten sehr düster. Ist das dein Eindruck vom Mittelalter?

Hm, schwierig. Es gibt natürlich dieses Mittelalterklischee, dass es finster war,  düster und schlecht. Das wird dieser Zeit aber nicht gerecht. Letzten Endes war es einfach erforderlich für die Geschichte. Es hat sich so ergeben, weil ich diesem Ideal von Flüe, der versucht in eine geistige Sphäre zu gelangen, etwas Erdiges entgegenstellen wollte.

Dein Roman ist kein historisch akkurater. Schlägt dein neues Projekt eine ähnliche Richtung ein?

Wenn man nur Das Fleisch der Welt gelesen hat, denkt man vielleicht, das ist mein Hauptinteressensgebiet. Ganz im Gegenteil! Meine bisherigen Texte haben alle in der Gegenwart gespielt oder sogar eher in der Zukunft. Mich hat bei Das Fleisch der Welt nicht interessiert, wie es wirklich damals war. Ich wollte vielmehr das Potenzial dieser Situation herauskitzeln und schauen, was passiert. Es war eine Art Gedankenexperiment, das es meines Wissens bisher nicht gab. Mein neues Buch spielt wieder in der Gegenwart. Was bleiben wird, ist sicher das Absurde und das Zusammenbringen verschiedener Dinge.

Adam Schwarz, danke für das Gespräch!

Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

Z-W-E-T-S-C-H-G-E-N-K-N-Ö-D-E-L-T-A-G

Für ihren Roman Tauben fliegen auf erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Vor einigen Tagen gewann sie nun für ihren dritten Roman Schildkrötensoldat den ZKB-Schillerpreis. Doch Melinda Nadj Abonji ist nicht nur erfolgreiche Buchautorin, sondern auch Performancekünstlerin. Zunächst scheinen die einleitenden Klänge ihres langjährigen Bühnenpartners Jurczok 1001 ungewohnt, fast unpassend. Doch sobald Melinda Nadj Abonji zu lesen beginnt, ist man mittendrin. Die beiden Stimmen überlagern sich und schaffen einen fliessenden Übergang von der Klangkunst zur rhythmisch-lyrischen Sprache, derer sich Nadj Abonji bedient. Ihre Lesung beginnt gleich am Anfang von Schildkrötensoldat, bei Zoltán Kertész, einem jungen Mann aus einem Dorf im heutigen Serbien. Es ist die Region, aus der die Autorin selbst stammt.  Der Roman wird nicht nur mehrstimmig vorgetragen, er ist es auch selbst. Die Perspektiven von Zoltán und seiner Cousine Anna, die in der Schweiz lebt, wechseln sich ab. Erzählt Ersterer auf eine sinnlich-poetische Weise, wirkt Letztere eher analytisch.

Zoltán erzählt vom Zwetschgenknödeltag, dem Tag, an dem er in voller Fahrt vom Motorrad seines Vaters fiel. Der Tag, an dem er zum ersten Mal das sogenannte „Schläfenflattern“ hatte. „Der Anfang vom Ende“, so sein Vater, der ihn seine Enttäuschung  deutlich spüren lässt.
Dann steht Anna in Jugoslawien an Zoltáns Grab. Sie möchte nicht bemitleiden, sie möchte verstehen. Und sie möchte wissen, wann sein Sterben begonnen habe.
War es, als Zoltáns Eltern ihn während des Jugoslawienkriegs zur Armee schickten, um „zu einem richtigen Mann“ zu werden? War es in der Kasernenküche, wo Zoltán dem Spott der Kameraden ausgeliefert ist? War es die Vorstellung des Kriegs selbst? Oder die ihn umgebende „Militarisierung der Köpfe“, auf die Melinda Nadj Abonji vergangenen Freitag am Podium Balkan-Kriege – wie geht die Literatur damit um? bereits angesprochen hatte?
„Das Schlachten und Zerstören und Töten wird uns in die Wiege gelegt, in unser Hirn gesät, bevor wir überhaupt denken können.“, so Jenő, Zoltáns einziger Freund.

Jurczoks Klänge vermischen sich mit Melinda Nadj Abonjis Stimme, die beiden Medien überlagern sich, was eine gewisse Sogwirkung erzeugt, eine Atmosphäre, die nicht erlaubt, wegzuhören. Die Mehrstimmigkeit steht in eindrücklichem Kontrast zum Verstummen des Protagonisten in der Handlung und unterstützt zugleich die lyrische Ausdrucksweise seiner Gedanken.

Was man hier gesehen hat, war nicht nur eine Lesung, sondern eine Performance zweier Künstler, welche dem Roman nicht nur gerecht wird, sondern ihn um entscheidende Facetten bereichert. Zoltáns Konservierung der Sprache in lyrisch-rhythmischen Ausdrücken wird auf eine neue Ebene geführt. Wo die Ausdrücke begrenzt sind, beginnt die Musik. Und wo die Sprache verstummt, bleibt der Klang zurück.

„Sonst noch Wünsche, Sir?“

„Guten Morgen, Sir. Es ist Zeit aufzustehen.“ Weich und verführerisch haucht eine angenehme Frauenstimme diese Sätze dem noch vom Schlaf benebelten Protagonisten von The Andromeda Stream ins Ohr. Ende der 60er-Jahre schreibt Michael Crichton diese Zeilen, die von einem fernen Zukunftstraum erzählen, den mann sich in Pastell ausmalt und jäh platzt, als die Hauptfigur darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass die Sprecherin stattliche 63 Jahre zählt.

Es ist Kathrin Passig, Autorin und Chatbot-Aktivistin, die in Solothurn am letzten Workshop des Zukunftsateliers zu Chatbots endlich auf den Elefanten im Raum hinweist: Westworld. Wenn es ein Stück zeitgenössische Popkultur gibt, dem der Diskurs zum Thema „Mensch und Maschine“ nicht mehr entgehen kann, ist es dieses dystopisch-visionäre Serien-Meisterwerk der Science-Fiction, das auf der Romanvorlage von Crichton basiert. Die Frage, die gleichermassen den Drehpunkt der Zukunftsatelier-Seminare wie auch der Serie bildet, lautet: Wie viel Mensch steckt in der Maschine?

Antworten auf diese Frage ziehen Konsequenzen nach sich, deren Tragweite nur im Ansatz ermessen werden kann. Das Seminar zur „Genderfrage“ beleuchtet den Einfluss von Genderstereotypen auf die Entwicklung von Chatbots und gewährt Einblicke in die aktuellen Debatten und Forschungsstände. Vor Ort ist Kristina Kutke, Botautorin und Akademikerin mit Forschungsschwerpunkt „Interaktion Mensch – Maschine“, die sich mit dem Geschlecht von Digital Assistants auseinandersetzt. Was sie berichtet, gibt zu denken: Alexa, Siri, Cortana und eine weitere bestechenden Mehrheit der digitalen Helferlein sind weiblich. Ihre Weiblichkeit spiegelt ein einziges Klischee, das der servilen, sorgenden und stets hilfsbereiten Frau. Der Chatbot als Mutterersatz? Da hätte sich Freud selbstgefällig die Hände gerieben.

Doch die klischiert weibliche Charakterisierung von Digital Assistants ist nicht nur im Hinblick auf ihre Reproduktion von Gender-Stereotypen und mütterlichen Männerfantasien bedenklich. Wenig überrascht es, dass jene menschlichen Begehren nach Wärme, Zuneigung und Geborgenheit von ökonomischen Interessen ausgebeutet werden: Frauenstimmen bringen mehr Geld ein. Ausserdem spiegeln sie den Nutzer_innen Souveränität und Kontrolle vor: „We want our technology to help us, but we want to be the boss of it.“

Spätestens wenn man durch die Praxis über die Möglichkeit von sexuell belästigendem Verhalten gegenüber Digitalen Assistentinnen nachzudenken gezwungen wird, kommt man an ethischen Fragen nicht mehr vorbei. Auf anzügliche Sprüche reagieren Alexa und Co. ihrem Profil gemäss geschmeichelt bis neckisch tadelnd. Einen #MeToo-Post darf man von ihnen nicht erwarten. In der Folge drängt sich die Frage auf, wie sich der Rückkoppelungseffekt der virtuellen Interaktion auf die analoge soziale Interaktion auswirkt. Eine Übertragung und Legitimierung sexistischen Verhaltens auf den Alltag liegt quasi auf der Hand. Dies lässt sich besonders bei Jugendlichen nachweisen, bemerkt Katkute, da diese Chatbots vorallem als Begleiter_innen ihrer Entwicklung erleben.

An dieser Stelle endet jedoch der dystopische Tunnelgang. Engagiert und begeistert diskutieren Katkute, Passig und der Moderator Roland Fischer, wie Gender von Bots richtig eingesetzt auch positive Auswirkungen haben und sogar dazu dienen können, Klischees aufzudecken und den Diskurs umzuprägen. Oder aber auch, wie damit lustvoll herumgespielt werden kann. Gegen Ende der Diskussion verdüsterten sich die Aussichten dann aber doch wieder. Nicht nur, weil die Ausbeutung von Sexrobotern und autarke Künstliche Intelligenzen problematisierte, sondern weil immer mehr Fragen unbeantwortet blieben: Gibt es eine ethische Pflicht gegenüber Robotern? Inwiefern kann man von der Identität eines Roboters sprechen? Was ist so bedrohlich an der Tatsache, dass manche User_innen Chatbots nicht als solche erkennen, sondern sie für Menschen halten?

Mit rauchenden Köpfen schreiten wir über die Kreuzackerbrücke zurück zum Redaktionsbüro und sind uns einig: das war ein wirklich gelungenes Podium.

Shantala Hummler, Mia Jenni

Die Kritik der kritischen Literaturkritik. So halb in eigener Sache.

Diese Veranstaltung zielt gleichsam close to home. Philipp Theisohn und Thomas Hunkeler führen, von Beat Mazenauer launig moderiert, in der Säulenhalle des Landhauses ein angenehm differenziertes Gespräch über die Lage der Literaturkritik.

Dabei geht es auch ganz explizit um die Rahmenbedingungen dieses Blogs. Einige von uns reden nämlich mit, erfahren wir vor Ort, als wir in die vorderste Reihe bugsiert werden. So be it! Wir bemühen uns, die eigene Schreiberfahrung auf halbwegs aussagekräftige Beobachtungen über das Verhältnis von Kritik und Wissenschaft hin zu schröpfen. Die Eindrücke kontrastieren die beiden Pole: Es ist ein schnelleres Schreiben; es muss angesichts viel engerer Zeithorizonte auch mal einfach mit einem Text zufrieden sein. Auch das spontane Reagieren jenseits des sicheren Hafens schon längst kanonisierter Literatur fordert heraus. Das sind ganz andere Druckverhältnisse. Genug Nabelschau aber, denn es geht um Literaturkritik auch im viel weiteren Kontext.

Nachdem eine störende Vase aus dem Sichtfeld genommen wird, darf es auch ein wenig unverblümt hergehen. Die Zeiten der strahlkräftigen Literaturbeilagen scheinen passé. Ein Grossteil der Neuerscheinungen verteilt sich auf «kleine, sehr kleine und winzige Verlage». Die Aufmerksamkeit für Literatur schwindet.  Nostalgische Loblieder auf die gute alte Zeit kommen zum Glück trotzdem nicht auf, sind auch ohnehin nicht erwünscht, «Ich werd’ sonst so pathetisch», so Philipp Theisohn. Erfreulich klischeefern werden dementsprechend Problemfelder durchquert, von grossen Markteinbrüchen bis zu den Details regionalspezifischer Literaturszenen. Affektlagen und Selbstbilder einer zeitgenössischen Kritik sind da ebenso relevant wie Tücken und Möglichkeiten sozialer Medien. Dabei kommt mehr Abwägen als Programmatisches raus. Ganz düster schaut es ja auch nicht aus. Literaturkritisches Schreiben, so hofft man hier, kann auch eine neue Perspektive auf’s literaturwissenschaftliche Schreiben generieren, und umgekehrt. Potentiale habe die Literaturkritik allemal; ihr kommt es unter anderem zu, neue Bücher zu selektionieren und  einen gut informierten breiteren Diskurs herzustellen.

Gut informiert sind aber nicht nur die beiden Männer auf dem Podium, auch das Publikum bringt kenntnisreiche und kluge Wortmeldungen mit ein – es setzt sich aus gut informierten Laien, aber auch vielen Medienschaffenden zusammen. Podium und Publikum scheinen sich einig in ihrer Liebe zu zeitgenössischer Literatur. Das stimmt milde optimistisch.

«Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit». Gespräch mit Lukas Bärfuss

Kulturveranstaltungen wie die Solothurner Literaturtage setzen sich aus öffentlichen Anlässen zusammen, die im Programmheft nachgeschlagen werden können, aus denen man nach Belieben auswählen, sich zu gegebener Zeit am entsprechenden Ort einfinden kann. Daneben gibt es allerdings auch Anlässe, die der Öffentlichkeit nirgends angekündigt werden, trotzdem allerorten zum Gesprächsthema avancieren und die Berichterstattung auf einen noch unsichtbaren Nebenschauplatz lenken. Im Rahmen seiner Jahresversammlung am Donnerstag hat der Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) neben anderem mit einer grossen Mehrheit eine „Resolution für eine verantwortungsvolle Vergabe des ‚Schweizer Buchpreises’“ gefordert. Darin fordern die Autorinnen und Autoren die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises auf, qua Anpassungen im Reglement mehr Unabhängigkeit und Transparenz zu schaffen. Nachdem die Buchpreis-Trägerschaft in einer Medienmitteilung ihr Bedauern über das Vorgehen des AdS zum Ausdruck gebracht hatte, erläuterte Lukas Bärfuss – der am Freitag ebenfalls in Solothurn weilte – im Gespräch mit Shantala Hummler die Hintergründe der Resolution.

Die vom AdS verabschiedete Resolution fordert eine unabhängige Jury. Kann dies gewährleistet werden? 

Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von der Welt und vertritt seine Interessen. Das soll so sein. In einer Jury müssen diese Ideen offen und frei diskutiert werden können. Deshalb dürfen ausschliesslich Mitglieder an einer Jurysitzung teilnehmen. Ein Auftraggeber, der über das Preisgeld und die Zusammensetzung der Jury bestimmt und an diesen Sitzungen teilnimmt, verstösst gegen die Regeln der «Good governance». Die Trennung der verschiedenen Gremien sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Die Unabhängigkeit, die in der Resolution des AdS gefordert wird, beschränkt sich also auf diesen Unterschied zwischen Jurymitglied und Nicht-Jurymitglied?

Nach dem heutigen Reglement wird die Jury durch einen sogenannten Leitungsausschuss bestimmt. In diesem sitzen die GeschäftsführerInnen des SBVV und der LiteraturBasel.  Wenn die Geschäftsführer nun gleichzeitig über die Jury-Diskussion informiert sind, wird eine Kontrolle möglich. Genehmes Verhalten kann mit einer Neuberufung belohnt und ungenehmes entsprechend bestraft werden. Es ist übrigens völlig unklar, was die Veranstalter während dieser Sitzungen machen. Zuhören und schweigen? Haben sie nichts anderes zu tun? Sollten sie nicht ihre Arbeit machen?

Die Frage ist doch, ob diese gerechten und transparenten Verhältnisse grundsätzlich möglich sind. Die Entscheidungsfindung von Jurys findet ja immer in einem beschränkt fairen und transparenten Rahmen statt.

Dieser Rahmen ist das Reglement.  Deshalb sind für gute Buchpreise gute Reglemente unabdingbar. Nehmen wir die Rolle der Medienvertreter. Der Buchpreis hat starke Medienpartner: das Schweizer Fernsehen und die NZZ am Sonntag. Gleichzeitig sitzen Angestellte dieser Unternehmen in der Preisjury. Hier drohen Interessenskonflikte. Das heutige Reglement behauptet, die Jurymitglieder seien ad personam gewählt und nicht als offizielle Vertreter der Medienpartner. Das Schweizerische Obligationenrecht ist da anderer Meinung: Es formuliert die Treuepflicht des Arbeitsnehmers. Deshalb sollte Angestellte der Medienpartner von der Jurymitgliedschaft ausgeschlossen sein.

Was sind die nächsten Schritte nach der Verabschiedung der Resolution des AdS?

Die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises ist weiterhin aufgerufen, sich ein Reglement zu geben, das dem eigenen Anspruch genügt. Es liegt in ihrer Verantwortung. Wir, einige Preisträger, haben dem Buchpreis bereits vor Monaten konkrete, juristisch wasserdichte Vorschläge gemacht.  Jetzt gibt es die Resolution des AdS, die einen klaren Weg weist. Ich bin zuversichtlich, dass die Trägerschaft nun die nötigen Schritte einleitet. Schliesslich haben wir ein gemeinsames Interesse.

Worin besteht dieses übergeordnete Interesse, das du ansprichst?

Die literarische, die kritische Öffentlichkeit. Dass wir uns als Gesellschaft kritisch auseinandersetzen – zum Beispiel über Literatur. Wir tun dies auch anhand der Preise, die vergeben werden. Die Qualität dieser Auseinandersetzung, dieses Gesprächs, hat leider deutlich gelitten. Es scheint heute oft keinen Willen zu geben, Zusammenhänge herzustellen. Wer über ein Buch spricht, sollte unter anderem in der Lage sein, dieses Buch mit anderen Büchern zu vergleichen. Das geschieht heute kaum mehr. Die Kritik beschränkt sich einerseits auf die Nacherzählung der gelesenen Bücher. Und sie wird immer häufiger persönlich und kritisiert nicht die Werke, sondern die Künstler, und leider häufig in einer ganz unerträglichen Art.  Wir alle müssen uns um eine Diskussion bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.

Würdest du also sagen, dass die Schweizer Literaturkultur letzten November bei den Ereignissen rund um die Vergabe des Schweizer Buchpreises eine Art Tiefpunkt erreicht hat? 

Wer dabei war, erinnert sich nicht gerne daran. Aber es geht um grundsätzliche Entwicklungen. Der Strukturwandel ist längst nicht abgeschlossen. Die privaten Medien wissen nicht, wie sie ihr Geld verdienen sollen. Die Öffentlich- Rechtlichen sind durch die politischen Angriffe verunsichert. Online gibt es viele gute Initiativen. Die meisten sind nebenberuflich, also unfinanziert. Kunst und ihre Kritik sind eine komplexe Sache. Es braucht Sorgfalt, Zeit und Geld. Wenn unsere Gesellschaft auf die Auseinandersetzung mit der Kunst verzichtet, entzieht sie sich der eigenen Grundlage. Und dazu darf man die Kräfte nicht vergessen, die diese kritische Auseinandersetzung nicht wollen, sie zu verhindern versuchen, um die eigene Deutungshoheit durchzusetzen.

Dort liegt eine problematische Verschaltung: die Menschen, welche die Deutungshoheit innehaben, verfügen oft über die entscheidenden finanziellen Mittel. Wie kann also einer Prekarisierung der Kulturschaffenden entgegengewirkt werden?

Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit. Jeder Künstler ist aufgerufen, sich an diese Öffentlichkeit zu wenden. Sie wird zum Partner. Ein Künstler lebt vom Brot der Öffentlichkeit. Gerade deshalb ist die Resolution des Autorenverbandes so wichtig: es geht nicht um ein Partikularinteresse, es geht um die gemeinsamen Strukturen. Es bleibt die Aufgabe, das übergeordnete Interesse zu formulieren. Die Solothurner Literaturtage sind aus dieser Idee entstanden: Jenseits der Konkurrenzsituation einen Ort zu schaffen, an dem man sich frei austauschen und streiten kann. Ich hoffe sehr, dass die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises dieses Zeichen verstanden hat.

Ein ruhiges Fliessen

Während draussen die Aare gelassen vor sich hinfliesst, machen sich drinnen im Landhaussaal sowohl Publikum wie auch der Mann der Stunde, Christian Haller, in schweizerischer Ordentlichkeit für die Lesung bereit. Fein säuberlich legt eine Frau ihr „Öpfelpütschgi“ in ein Papiertaschentuch, eine andere zupft die über den Stuhl gehängte Jacke des Vordermanns zurecht und Christian Haller öffnet seine schwarze Umhängetasche, aus der er sorgsam seinen neuen Roman Das unaufhaltsame Fliessen hervorzieht.

Nach Die verborgenen Ufer ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie, in der Haller seinen Weg zum Schriftsteller nachzeichnet. Der Roman wirkt fast noch ordentlicher als die Vorbereitungen zur Lesung. Jeder vorgelesene Ausschnitt ist darauf ausgelegt, sein Stück zum Werdegang des Autors beizutragen. Das Fliessen hin zu seinem Ziel war trotz verschiedener Rückschläge dann eben doch unaufhaltsam.

Zunächst wäre da die Begegnung mit der Witwe des bisher zu wenig beachteten Schriftstellers Adrien Turel. Fasziniert vom anarchischen Denken, das er in den Manuskripten des Verstorbenen antrifft, beschliesst Haller, sich um dessen Nachlass zu kümmern. Durch die Beschäftigung mit den Texten kommt es bei Haller zu einer ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Später wird er Zoologie studieren. Wie Haller im Gespräch mit Karin Schneuwly bekanntgibt, hatte die Naturwissenschaft und insbesondere das wissenschaftliche Schreiben einen grossen Einfluss auf seine Arbeit als Schriftsteller. Dadurch habe er gelernt, sich einfach und klar auszudrücken. Ein Schreiben, das ohne Redundanzen zum Kern der Sache vordringen soll.

Literarischen Input erhält Haller im Anschluss an ein Abendessen mit Georg Kreisler. Der bereits gestandene Künstler erklärt sich dazu bereit, Hallers Texte zu lesen und ihm ein schonungsloses Feedback zu geben. Brieflich teilt Kreisler ihm mit, dass er ihn „leider ermutigen muss“ weiterzumachen. Das Publikum lacht. Der Altmeister schafft es auch noch über seinen Tod hinaus, für Unterhaltung zu sorgen.

Schliesslich kommt Haller auf die Globuskrawalle zu sprechen. Eine Schlacht, wie Haller beschreibt, zwischen Demonstranten und Polizisten, bei der sich der angehende Autor in die Rolle des Beobachters gedrängt sieht. Anstatt nach einem Pflasterstein zu greifen, um diesen gegen die Polizisten zu schleudern, entschliesst er sich dagegen. Und das obwohl er ein guter Werfer sei. Er war sogar so gut, dass es er eine Spezialausbildung im Militär als Handgranatenwerfer machen durfte. Erneutes Lachen macht sich im Publikum breit. Doch – wen wundert’s – Haller will lieber mit Worten und Sprache um sich werfen und nicht mit Pflastersteinen.

Im anschliessenden Gespräch nimmt Karin Schneuwly eine Frage auf, die auch dem ersten Kapitel vorangestellt ist: „Wo stehe ich heute auf meinem Weg, vier Jahre nach dem Entschluss, Schriftsteller zu werden?“ Sie fragt ihn, wie er diese Frage heute beantworten würde. Er sei angekommen, ansonsten hätte er sich auch gar nicht dazu in der Lage gefühlt, eine Autobiographie zu schreiben, in der er seinen Weg zum eigenen Schaffen Revue passieren lässt. Das merkt man. Es ist die Biographie eines arrivierten Schriftstellers, der am Ende seiner Suche angelangt ist. Das Fliessen in die Schriftstellerei zeigt sich in jeder der beschriebenen Stationen. Mitgerissen wird man dabei als Leser jedoch nicht. Zu harmonisch und verklärt wirkt Hallers Blick auf seinen Werdegang. Das Lesen gleicht mehr einem sanften Treibenlassen. Das ist in Ordnung, mehr aber auch nicht.

Die Blätterteigzeitung und weitere Gemälde

Die sommerlichen Temperaturen sind bereits spürbar und die Aussenbühne beim Solothurner Landhausquai wird kräftig bestrahlt. Trotzdem sind die Sitzplätze restlos besetzt und Menschentrauben bilden sich um das kleine Leser_innenpodest. Denn, es lohnt sich. Vor allem wenn der Vorleser Christian Haller heisst. Mit unaufgeregter, warmer Stimme liest er zwei Kurzgeschichten aus dem 2010 erscheinen Werk Die Stecknadeln des Herr Nabokov vor.

Haller schafft es, aus Alltäglichem das gewisse Etwas heraus zu kitzeln. Immer wieder muss das Publikum schmunzeln und nicken, wenn es sich an eigene ähnliche Erlebnisse erinnert.

Die morgendliche Zeitung wird zum Blätterteig, der das Übel der Welt bereit hält. Sie wird auch zu einem Ort der Versicherung, dass sich über Nacht nichts grundlegend verändert hat. Ein Ort, wo man seine „heimlichen Laster“ finden kann. Für die Einen mag es der Wetterbericht sein, für andere die Kontaktanzeigen, für Dritte die Rätselseite. Für den Erzähler sind es die Stellenangebote, die Fenster zur unbekannten, möglichen Zukunft öffnen. Oder zumindest waren es die Stellenangebote. Mit fortschreitendem Alter jedoch werden die Todesanzeigen und die näher rückenden Jahreszahlen immer interessanter. Gespannt folgt man den morgendlichen Kämpfen gegen das Altfühlen des Erzählers und fühlt sich ertappt, ähnliche Gedankengänge ebenfalls schon ausgeführt zu haben.

Mit der zweiten Kurzgeschichte entführt Haller uns ins Baltikum. Wir fahren mit einem Übersetzer von Tallinn nach Vilnius. Gestoppt wird auf einem alten Adelshof mit verwildertem Garten und am Meer, um spontan baden zu gehen. Die Halte vergleicht Haller liebevoll detailliert mit bekannten Gemälden und Fotografien. Es gelingt ihm, die grundverschiedenen Atmosphären und Farben der beiden Orte einzufangen.

Kurz vor Schluss flechtet Haller geschickt eine historische Rückblende ein. Achtvoll lässt er die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges an ebendieser Küste aufleben. Die weisse Stille des Strandes wirkt plötzlich nicht mehr ganz so friedlich und wird zum Ort des Vergessenen. Die Erzählungen Hallers berührt unerwartet.

Unaufgeregt endet die Lesung. Schade eigentlich, trotz der Hitze.

Kein Streit

„Joute de traduction“ heisst die Veranstaltung, an der eine Übersetzerin und ein Übersetzer in den Ring treten und ihre jeweilige Wortwahl verteidigen sollen. Die übersetzten Textpassagen stammen aus Levin Westermanns Gedichtsammlung 3511 Zwetajewa. Valentin Decoppet und Raphaëlle Lacord treffen sich zum Duell und werden sich um Worte streiten, so die Erwartung.

Doch der Moderator Yves Raeber warnt vor: Der Ausdruck „rompre une lance“, „eine Lanze brechen“, könne man ja auch auf zwei Arten verstehen. Einen Gegner töten, könne es heissen, auch aber eine Lanze brechen für jemanden, als Zeichen des Respekts und der Freundschaft. Freundschaftlich geht es zwischen den beiden die ganze Stunde über zu. Was als „joute“, als Turnier oder Wettstreit angelegt ist, wird eher zum freundlich-vorsichtigen Abtasten.

Die beiden Parteien geraten sich einfach nicht so richtig in die Haare. Im zweiminütigen Verteidigungstakt bringen sie Argumente an, weshalb sie einen gewissen Textauszug so übersetzt haben, wie sie ihn übersetzt haben. Wie haben die beiden zum Beispiel „Urzustand“ übersetzt? Die Spannung steigt, die Blicke sind auf die Leinwand gerichtet. Dann erscheint der Text, Decoppet und Lacord lesen ihre Vorschläge vor. Lacord hat sich für „l’état premier“ entschieden, während Decoppet „l’état originel“ bevorzugte. Doch dies bleiben Vorschläge, und oft können sie die Übersetzung des anderen auch ganz gut nachvollziehen.

Raeber versucht immer mal wieder, das Feuer zu entfachen und sie zum Streit anzustiften: „Maintenant il faut tout donner!“, „Jetzt müsst ihr alles geben!“, betont er gegen Ende nochmals. Immer noch kein Streit. Vielleicht heisst alles zu geben in der Übersetzung auch einfach nicht, das Beste zu finden und auf Gedeih und Verderben zu verteidigen, sondern das Gute immer wieder umzudrehen, von allen Seiten her anzuschauen und zu befragen.

Juhui – jemand stirbt und Frauen gibt es auch

Der Freitag neigt sich langsam seinem Ende zu, man hat viel erlebt und noch mehr gehört. Die Festivalbesucher_innen flanieren zwischen den Lesungen umher und nicht wenige finden sich im Uferbau wieder. Dort will das Duo Dietiker/Diller mit einer Mischung aus Spoken Word und Klangteppich das Publikum betören.

Pino Dietiker, der Aargauer Texter, und Jul Dillier, der Obwaldner Musiker, nennen ihr Oeuvre Planer und Flaneur. Vier Texte sollen das Zusammenspiel von exakter Planung von urbanen Räumen und das entspannte Flanieren und Sinnieren miteinander verbinden und Gegensätze aufheben.

Vielversprechend beginnt Dillier mit seinem E-Piano rhythmische Klänge in den dunklen Raum zu senden. Das Publikum ist bald umhüllt davon und es scheint nur natürlich, dass Dietiker beginnt, von einer Zugfahrt zu erzählen. Das Stück ist ein Wechselspiel zwischen Gedanken und Beobachtungen im Zug und einem Bericht über einen Vater, der es nie geschafft hat, das Eigenheim fertig zu stellen. „Er war ein Bauherr der nicht Hausherr werden konnte“, sagt Dietiker melancholisch.

Immer morbider werden die Bilder. Das Altglas im Keller wartet auf die Wiedergeburt, die Schuhe im Haus sind das Letzte, was ein Toter auszieht. Im Zug rasieren sich Menschen und gehen der Nagelpflege nach. „Unterwegs zu Hause“, zitiert Dietiker die Deutsche Bahn. Unaufgeregt endet das Stück, das grosse Fühlen hat nicht eingesetzt, obwohl das Duo alle Tasten bedient. Das Makabre, den Tod des Vaters, den Ekel beim Zugfahren. Zu emotionslos und monoton bleibt das Vortragen Dietikers und je länger, desto undeutlicher wird’s. Mitreissende Spoken Word Performances sehen anders aus.

Mit dem nächsten und titelgebenden Stück „Planer und Flaneur“ setzt sich die Qualitätsabwärtsspirale der Aufführung fort. Dietiker erzählt von Legotürmen und Städten, Wachstumsblasen und Bettlern. Dabei bedient er sich allerlei überverwendeter popkultureller Referenzen wie „Houston, we have a problem!“, Super Mario und ganz vielen weissen Schafen mit einem Schwarzen dabei. Das irritiert und es ist beinahe unmöglich, dem Stück zu folgen, ohne sich immer wieder daran zu stossen. Es tauchen ebenfalls erste Repetitionen auf. Wiederum spielt er mit makabren Bildern und wiederum ist der Tod prominent platziert. Menschen bringen sich um in Grossstädten. Erste Besuchende beginnen nun den Uferbau zu verlassen.

Das dritte Stück behandelt die „Éoliennes“ von Saint- Imier. Die Riesenwindräder drehen sich auf dem Berge und der Held fährt hinauf zu ihnen. Wie zu erwarten, verwendet Dietiker auch hier die offensichtlichsten Metaphern. Don Quixote de la Mancha und die Himmelfahrtsthematik werden regelrecht ausgeschlachtet. Der Held wurde versetzt und sucht Trost bei den „Éoliennes“. Versetzt wurde er von einer Frau, die auch noch Spanisch sein muss und dazu Simone de Beauvoir liest. Die Diskreditierung der feministischen Spanierin misslingt Dietiker, der versucht, ihre Oberflächlichkeit durch ihren Tindergebrauch und Schuhbesitz zu entlarven. 2018 sollten selbstbestimmte, sexpositive Frauen auch im Spoken Word Universum angekommen sein. Wiederum muss jemand sterben im Stück. Wiederum ist es Suizid. Weitere Besuchende verlassen den Raum.

Jetzt wäre die Vorstellung eigentlich fertig – doch das Duo lässt sich noch zu einer Zugabe hinreissen. Das hätten sie lieber gelassen…

Wir sind wieder in der Stadt. Doch die Stadt ist eine Frau. Eine Frau, die man(n) bewandern kann und brauchen darf. In dieser Stadt tanzen Seiltänzer auf den Stromkabeln der Trolleybusse, die „in Schlafzimmer alleinstehender Frauen eindringen.“ Das Grundwasser der Stadt kommt natürlich aus den steinernen Brüsten der Frau und muss unglaublich hart sein. Es stapeln sich Frauentorsos am Strassenrand, die bei Brand Wasser spritzen. Die Strasse ist gespickt von „Warzenhöfen“. Was man ebenfalls in dieser Stadt finden kann, sind „mundgerechte Wurfgeschosse“ (sic!). Das sind weisse, spermienähnliche Kaugummiflecken am Boden. Ein Wunder, dass die Kaugummis nicht auch noch irgendwo in einem vaginalen Loch der Stadt verschwinden. Ungefragt natürlich. Immerhin hat sich in diesem Stück niemand umgebracht.

Erleichtert verlassen wir Besuchenden den dunklen Raum und kehren in die aufgeklärte Welt zurück.