Dreisprachiger Ausflug nach Tel Aviv

Drei Leute sitzen bei der Lesung von Assaf Gavrons Roman Achtzehn Hiebe auf der Bühne. Und drei Sprachen klingen den Zuschauern dabei in den Ohren: Englisch, Deutsch und ein klein wenig Hebräisch. Auf Englisch wird das Gespräch mit Gavron geführt, Deutsch liest der Schauspieler Günter Baumann aus dem Roman vor, und mit Hebräisch entführt uns der Autor selbst nach Tel Aviv, den Schauplatz des vorgestellten Buches.

Assaf Gavron ist ein Mann mit vielen Talenten. Er ist Journalist, Videogame-Designer, schreibt Kolumnen als Falafel-Tester, arbeitet als Übersetzer und spielt in einer Band. Ganz nebenbei veröffentlicht er preisgekrönte Bestseller. Für diese Vorschusslorbeeren bedankt sich der Autor mit einem schelmischen Lächeln und meint, dass dies wohl das erste Mal sei, dass er zu 100% richtig vorgestellt wurde. Er liest daraufhin die letzte Seite seines Buches auf Hebräisch vor. Ein fremder, angenehmer Klang, den man ohne Angst vor Spoilern geniessen kann.

Auch Günter Baumanns Lesung kann man entspannt geniessen. Der Schauspieler füllt mit seinem kräftigen Bariton den ganzen Landhaussaal. Leider liest er nur aus dem ersten Kapitel „Taxi zum Friedhof“, in dem die Hauptfiguren eingeführt werden – man hätte ihm noch lange zuhören können.

Eine dieser Hauptfiguren ist Eitan Einoch, Taxifahrer in Tel Aviv. Er liebt es, seinen Gästen Geschichten von den Strassen zu erzählen, in denen sie zu ihm ins Auto steigen. Dabei fällt es ihm leicht, sie einzuschätzen. Er erkennt an ihren Stimmen, wann sie ungefähr geboren wurden, woher sie stammen, ob sie den Holocaust erlebt haben oder nicht. Auch seinen nächsten Fahrgast, eine alte Dame, ordnet er nach seinem Radar ein: eine typische Jeckin. Lotta Perl, so ihr Name, überrascht Eitan jedoch. Sie ist lockerer als erwartet, jünger als geschätzt und gibt unerwarteter Weise reichlich Trinkgeld. Fortan wird er sie täglich zum Friedhof fahren, bis sie eines Tages nicht mehr in sein Taxi steigt und Eitan zum Detektiv wird.

Ein typischer Detektiv-Roman ist Achtzehn Hiebe aber nicht. Eitan als Detektiv ist einer, der Fehler macht, der die Leser fehlinformiert, insgesamt ein unzuverlässiger Erzähler, der den Erkenntnissen, die man als Leser meist schon gemacht hat, zehn Seiten hinterherhinkt. Gavrons Wunsch war es ursprünglich, eine ganz neue Art von Detektiv-Geschichte zu schreiben, wo der Leser die Lösung kennt, der Detektiv hingegen zum Ende die falschen Schlüsse zieht. Das war ihm dann aber doch zu schwer umsetzbar. Die jetzige Form scheint ein Kompromiss zu sein.

Der Taxifahrer Eitan Einoch taucht nicht zum ersten Mal in einem Buch von Assaf Gavron auf. Deshalb auch die Frage, was zuerst da war: das Anliegen, das historische Thema der Mandatszeit aufzugreifen, oder der Wunsch eine Figur wiederzubeleben? Gavron meint, anfangs wollte er vor allem einen Text schreiben, der Briten und die Israelis verbindet. Seine Eltern emigrierten nach Israel, er hat aber Familie in England, studierte und lebte dort. Diese zwei Seiten haben nach Ausdruck gesucht. Gefunden hat Gavron sie im historischen Aufeinandertreffen von Briten und Israelis während der Völkermandatszeit. Er wollte zurückblicken auf diese Zeit mit Zeitzeugen, die es wohl nicht mehr lange geben wird. Doch da war diese Figur des Einoch, dessen Geschichte damals eher schlecht ausging. Was macht er heute, zehn Jahre später?

Dem Palästina-Konflikt kommt dabei eine bewusst untergeordnete Rolle zu. Gavron wollte nach eigener Aussage gerne etwas Leichteres, Spassigeres schreiben. Etwas, das sich unterscheidet von Romanen wie Auf fremdem Land, wo er sich diesem Thema zwar mit gewohnt leichtem Schreibstil aber auf eher ernste Weise nähert. Die ganzen Konflikte um Israel seien traurig, tragisch, schrecklich. Gleichzeitig seien sie aber eine literarische Goldmine, die für reichlich Stoff sorge. Dass er auch ausserhalb dieses Konfliktes fantastisch schreiben kann, hat Gavron mit seinem Roman Achtzehn Hiebe bewiesen.

 

1:0 für den Tod – von Fussballspielen und ungewöhnlichen Anhaltern

„Kennsch s’Totemügerli ned?“ – „Jo hani mol einisch gläse, cha mi aber nüm erinnere“ – „Dasch da mit dene erfundene Wörter dinne, aaschnäggle und so“. So hört es sich an, wenn sich gefühlte hundert Leute auf engem Raum versammeln und auf Franz Hohler warten. „Dä het sich aber guet ghalte“, findet die Frau neben mir, als der Autor die Bühne betritt. Entgegen den Erwartungen liest er nicht aus seinem neusten Roman Das Päckchen. Er beginnt mit einem Gedicht über das Älterwerden, über Medikamente auf dem Frühstückstisch, das Einnicken über Büchner, Brecht und Shakespeare, aber auch über die Zuversicht, die der Blick seiner neugeborenen Enkelin mit sich bringt. Gegensätze bringt er auch in seinen Kurzgeschichten zum Ausdruck. Diese handeln zum Beispiel vom Fussballspiel zwischen Leben und Tod, das sowohl 0:1 endet als auch im Fazit, dass wir Lebenden wohl alle etwas mehr zusammenhalten müssen. Das Ende seiner Erzählung vom Teufel als Autostopper – tatsächlich ist es Jesus, der den ungewöhnlichen Anhalter mit nach Rom nimmt, da der Papst ja an keinen von ihnen beiden mehr glauben würde – überrascht das Publikum und erntet einige Lacher.

Franz Hohler verbindet aber nicht nur scheinbare Widersprüche mit überraschenden Pointen. Er verweist auch auf Autoren, die ebenfalls in diesem Jahr in Solothurn gastieren. Die Spannweite der Gegenwartsliteratur, wie sie hier präsentiert würde, sei enorm. Sie reiche von Robert Prossers Debütroman über „alles Elend der Welt“ bis hin zu Gion Mathias Caveltys „irrem non-sense-Text“. Diese Seitenblicke münden in die Frage, die heute alle zu beschäftigen scheint: Was ist Literatur? Und vor allem: Was kann Literatur? Hohler beantwortet diese Frage mit seiner nächsten Erzählung: In einem Halbkreis sitzen einige Kinder um eine Dichterin, welche ihnen die Geschichte eines Kindes erzählt, das glaubt, ein Feuer im Garten zu sehen. Ein 3-jähriger Junge rennt daraufhin zum Fenster, um dieses Feuer zu sehen und verpasst dabei den ganzen Rest der Geschichte. Diese Fortsetzung brauchte er aber gar nicht, konnte er sich doch bereits alles vorstellen, die Geschichte füllte seinen Kopf und erwärmte sein Herz. Ob das auf die Literatur im Allgemeinen appliziert werden kann, sei dahingestellt. Dem langen Applaus nach zu urteilen, hat zumindest Hohlers Geschichte beim anwesenden Publikum genau diese Wirkung erzielt.

Text im Entstehen

Das Format der Textwerkstatt wurde vor zwei Jahren aus dem Wunsch einiger Autoren gegründet, ihre Texte nicht nur beim Bier zu besprechen, wie es Moderator Donat Blum ausdrückte, sondern dies auch in einem passenden Rahmen zu tun. Offenbar weckt dieses Anliegen beim Publikum genauso grosses Interesse; die Veranstaltung war derart gut besucht, dass viele Zuschauer schliesslich auf dem Boden sassen oder sich an die Wände lehnten. Es scheint ein Bedürfnis unter den Literaturinteressierten zu bestehen, die Texte nicht bloss in ihrer fertigen Form präsentiert zu bekommen, sondern auch in ihr Entstehen Einblick zu erhalten.

Besprochen wurde ein unveröffentlichter Text von Rebecca Gisler, zu dem sich die anderen Teilnehmenden äussern durften. Mit dabei waren: Judith Keller, Robert Prosser, Adam Schwarz, Noemi Somalvico und Verena Stössinger.

Dem zu Anfang getroffenen Vorsatz nicht als Kritikerrunde aufzutreten, sondern als Schreibende, wurde das Sextett jedoch nicht ganz gerecht. Obwohl sogar scharfe Kritik durchaus wohlwollend und fair vorgebracht wurde, hätten wir uns gewünscht zu erfahren, wie die anderen Autoren und Autorinnen ihre Kritik denn im Text konkret umgesetzt hätten. Vielleicht blieb aber bei der Länge des Textes und der Grösse der Runde schlichtweg keine Zeit dafür.

Etwas verloren wirkte manchmal die Autorin selbst, die sich sehr vieles anhören musste, aber kaum Gelegenheit geboten bekam, darauf einzugehen und ihr Werk mit dem Schreibprozess in Verbindung zu bringen. Gegen Ende wurde dann die Diskussion für das Publikum geöffnet, das von dieser Möglichkeit regen Gebrauch machte und unerschrocken seine Kritik kundtat.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

 

 

Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner

Uetz ist schuld

+++ Das Unwetter der vergangenen Nacht wurde nachweislich durch Christian Uetz verursacht, der unbedingt um 22.30 Uhr auf der Aussenbühne seinen «Engel der Illusion» noch einmal zum Besten geben musste. (Unten: Archivaufnahmen vom Freitag.)

Uetz

Noch vor Beendigung der Strafpredigt zeichneten sich der Aare abwärts die ersten Blitze ab, kaum hatte Uetz die Bühne verlassen, wurde der Landhausquai dann von Stürmen heimgesucht, Regen setzte ein, der Glacéstand musste vorzeitig schliessen. Beifällige Anerkennung für die Performance kamen von Patti Basler („Gut, aber ich war schon besser“) und Judith Keller („Ja nu: Angeri sägeds angersch. De Levinas zum Byschpiel“). Damit aber nicht genug. Gerade hatten sich die Böen wieder gelegt und die Umstehenden sich zum Ausklang in die Stehbar No. 19 verzogen, um den letzten Runden von Urweiders Flaschendrehen beizuwohnen, sah sich Uetz genötigt – man war kaum angekommen – sich schnellstmöglich in die Runde der Drehenden zu mischen, um seine Stimme ein weiteres Mal zu erheben. Ariane von Graffenried ahnte auf der Gasse bereits augenrollend „Itzt chunnts de grad wider“ – et voilà, der Donner folgte ihm. ++++

Finde die Zukunft III

Finde den Unterschied

Vorher

Nachher

Die langerwartete Chatbotausstellung des Zukunftsateliers ist endlich besuchsbereit! Das Warten hat ein Ende. Zu finden ist sie im Foyer des Landhauses und besteht aus einem Tisch und zwei Laptops.

Wir waren da – unser Fazit: „Isch guet gmeint xi!“

Spannende Gesprächspartner findet man jedoch in den analogen Formaten des Zukunftsateliers, die zu überzeugen wussten.

Artiom Christen, Shantala Hummler

„Ich hab kein einziges Wort davon geschrieben und trotzdem ist es mein Text“ – Peter Stamm und seine Übersetzer.

Wer meint, schon alles über den vielbesprochenen und allseits bekannten Peter Stamm zu wissen, hätte heute dabei sein sollen. In der bis zum letzten Platz gefüllten Säulenhalle des Solothurner Landhauses stand für einmal nicht der Autor im Mittelpunkt des Geschehens, sondern seine Übersetzer und Übersetzerinnen.

Vier Peter Stamm-Spezialisten aus Russland, Slowenien, Kuba und Schweden unterhielten sich unter der sehr guten Moderation von Angelila Salvisberg über die Herausforderungen ihres Handwerks. So bereiten Maija Zorkaja die scheinbar einfachen Passagen Schwierigkeiten. Wenn also Thomas und Astrid in Weit über das Land zusammen ein Glas Wein trinken, dann bedeutet dies in der wörtlichen Übersetzung ins Russische, dass sie tatsächlich zu zweit nur ein Glas trinken. Korrigiert man nun aber den Inhalt, stimmt der Rhythmus nicht mehr. Ein schmaler Grat zwischen Sinn und Klang.

Anibal Campos muss hingegen Acht geben, nicht ins Pathos zu verfallen, das sich spanischsprachige Leser aus ihrer literarischen Tradition gewöhnt sind. Schliesslich erinnert sich der slowenische Übersetzer Slavo Šerc an ein besonders schwieriges Wortspiel und Jörn Lindskog wollte den von Stamm selbstgewählten Titeln gerecht werden.

Vielleicht war das Gespräch auch deshalb so angenehm zu hören, weil Stamm mit seinen Übersetzern und Übersetzerinnen auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese schätzen seine Hilfsbereitschaft, aber auch, dass er sie einfach ihre Arbeit machen lässt.

Aufschlussreich war auch zu erfahren, von wem Peter Stamm in den jeweiligen Ländern überhaupt gelesen wird. Während es in Spanien hauptsächlich die Intellektuellen sind, scheint er in den übrigen Ländern einen breiteren Anklang zu finden.

Als die Zeit um war, schien das Thema noch lange nicht ausdiskutiert. Zufrieden waren wir – und auch das Publikum –  mit dem Einblick allemal.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

In der Hafenkneipe

Am Nachmittag füllt sich die Hafenkneipe an der Aare. Man hat viel gesehen, viel gehört. Zeit für einen Apéro. Um das Erlebte Revue passieren zu lassen und sich auf den Abend einzustimmen. Hier habe ich Andrea und Lea getroffen. Sie erzählen, warum sie hier sind, was dieser Tag in Solothurn mit sich gebracht hat, und was sie noch vorhaben am Abend.

Andrea: Meine Mitbewohnerin kommt aus Solothurn und ich studiere Germanistik. Ich habe zuhause von den Solothurner Literaturtagen erzählt und sie fand es auch eine gute Idee, hier hinzugehen. Ich bin heute Mittag angereist, um gleich das literarische Gespräch mit Christian Kiening und Alice Grünfelder zu besuchen. Es ging um das Dokumentarische im Literarischen. Die grosse Frage war: Wie weit kann man Dokumentarisches literarisch umsetzen? Und kann man das überhaupt? Ich fand es sehr spannend, weil ich an der Uni gerade ein Kolloquium zum Thema der Holocaust-Literatur habe, und da kommen all diese Fragen natürlich auch auf. Das Gespräch war im Landhaus. Danach sind wir ein bisschen herumgeschlendert, haben etwas getrunken und haben das beste Glacé von Solothurn gekostet. Dort hinten in der Gelateria. Ich glaube sie heisst einfach Gelateria. Das Wetter war wunderschön, wir haben uns an den Fluss gesetzt und noch lange über die Veranstaltung von vorher gesprochen. Danach sind wir an Hohlers Lesung gegangen, auf der Aussenbühne. Zwar nur eine Viertelstunde, aber sehr voll. Zuerst dachte ich, er würde aus seinem neuen Roman vorlesen, aber dann waren es ältere, kurze und lustige Texte, die er vorgetragen hat. Eine sehr schöne Anekdote, die er erzählt hat, auf die Frage, was die Solothurner Literaturtage ausmacht: Eine Dichterin sitzt im Wald, um sie herum sitzen Kinder auf Kissen. Sie fängt an zu erzählen, es war einmal ein Junge, der zu seiner Mutter rannte und sagte: „Mama, es gibt ein Feuer im Garten!“ In dem Moment, in dem die Dichterin das erzählte und die Geschichte ja noch gar nicht richtig begonnen hatte, sprang ein Junge auf, „Was? Ein Feuer im Garten?“, und lief weg. Für ihn hat die Geschichte schon in ganzem Umfang stattgefunden, er konnte sich alles schon vorstellen. Literatur ist also etwas sehr Individuelles. Und jetzt sind wir halt schon wieder beim Apéro. Am Abend möchten wir dann noch zum Spoken-Word. Was uns aufgefallen ist: Das Publikum hier ist grundsätzlich etwas älter…

Lea: Mir hat der heutige Tag sehr gut gefallen. Die Diskussion über das Dokumentarische im Literarischen war spannend. Es ist schön, sich wieder mal mit Gedanken zu befassen, mit denen sich Autoren beschäftigen. Die Aussenbühne vor dem Landhaus finde ich eine gute Idee. Es ist schön, dass es für alle offen und zugänglich ist. Ich bin auch gespannt, was es heute Abend noch so zu hören gibt!

Geschichten aus dem Holzkoffer

Bunte Buchstaben hängen gross in der Luft, Kissen, Märchenbücher und Malstifte bedecken kaleidoskopartig die niedrigen Tischchen im Raum, der von einem diffusen Gelächter durchflutet wird. Im zweiten Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung findet sich inmitten literarischer Hektik eine wundersame Oase. Hier wird keine Ernsthaftigkeit gepriesen, keine Textstelle minutiös betont oder analysiert – es ist ein Ort, an dem der ursprünglichste Teil des Menschen sein zuhause findet. Ein Ort für Kinder.

«Lueg, do chasch anesitze und Geschichtli lose», nimmt die Kinderhortleiterin einen kleinen Jungen zur Hand und weist zur winzigen Bühne, auf der ein Holzkoffer steht.

«Wötsch anesitze?», fragt sie ihn. 

Im nahezu vergessenen klassischen Lagerfeuerstil wird hier Mira Gysis Geschichte Die Geiss, die alles weiss von der Leseanimatorin Franziska Honegger präsentiert und zwar mittels eines Kamishibai-Bildtheaters. Das japanische Kompositum aus kami (dt.: Papier) und shibai (dt.: Schauspiel) bezeichnet ein traditionell japanisches Papiertheater in einem Holzkoffer.

Vor der kleinen Theateraufführung teilt Franziska Honegger den Kindern kleine Stoffsäckchen aus, in die sie hineingreifen müssen, um die Protagonisten des Theaterstücks zu befühlen. Hineingucken gilt nicht.  Ein Gummitier mit einem langen Fortsatz. Es sind kleine Mäuse! Grossäugig blicken die Kinder auf die Bühne, als schon das nächste Säckchen verteilt wird. Eine Geschichte, in der die Figuren wahrhaftig spürbar werden.

Die Protagonisten stehen fest – «Muus, Schneck, Geiss, Chatz». Die Geiss (Ziege) ist die wichtigste Figur. Es ist die Geiss, die alles weiss. Ein Dutzend Bilder erzählen von ihrer Entdeckungsreise auf dem Bauernhof, während Honegger den Papierfiguren ihre Stimme leiht. Die Geschichte ist durchwegs interaktiv gestaltet, fortwährend schlüpft Honegger aus ihrer Erzählerrolle und durchbricht die illusorische Geschlossenheit eines klassischen Theaterstücks. Freilich existiert nur eine einzige Wand, die Wand auf der die Szenen Bild für Bild ersetzt werden. Zu jedem Bild werden die Kinder gefragt, was sie auf der Miniaturbühne sehen.

(Franziska Honegger mitten in ihrer Performanz)

«Chäs-chatz», ruft plötzlich ein blondlockiges Mädchen in der vordersten Reihe. Die Eltern im Hintergrund lachen auf.

Zum Schluss öffnet Honegger einen braunen Flechtkorb und reicht den Kindern kleine, mit Laken überdeckte Tupperwaredosen mit Lebensmitteln aus dem Bauernhof. Was die Kleinen genau erschnuppert haben, das fragt man sie am besten selbst. Im Kamishibai-Bildtheater, zweiter Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung…

Literarisches Flanieren: Kurzlesung von Arno Camenisch

Ein kurzer Schreckmoment erfasst das Publikum als Arno Camenisch schon nach der Hälfte der Zeit verschmitzt und in schönstem Bündnerdeutsch verkündet, wer wissen wolle, wie es nun mit den beiden „Philosophen im Schnee“, Georg und Paul, weitergeht, müsse sich eben sein Buch kaufen. Es sei ja schliesslich bald wieder Weihnachten. Und ich komme nicht umhin, ihm beipflichten: Es ist auch wirklich lesenswert, hörenswert aber noch vielmehr, was die beiden Liftwarte einander vom Pfarrerssohn, gesegneten Skiern und ausbleibendem Schnee zu erzählen haben. Gesegnete Skier? „Miar machend das so.“

Dann macht Camenisch zur Freude der Zuschauer_innen das, was er am besten kann und trägt einen seiner Spoken-Word-Texte auf Deutsch und Rumantsch vor, in dem er Ilanz – oder Glion – kurzerhand zum Zentrum der Welt macht. Auf der Bühne kommt der dichte Sog der rhythmischen Sprache zu seiner vollen Entfaltung. Das erklärt vielleicht auch, warum die Meinungen über sein Buch unter uns Studierenden weit auseinandergingen. Mit seiner Stimme im Ohr liest sich Der letzte Schnee ganz anders.