Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

„Die Dinge, die mich umgeben.“ – Anja Kampmann und Thilo Krause im Gespräch

Naturlyrik. Der schlichte Veranstaltungstitel hält, was er verspricht und scheint im ersten Moment das Klischee einer verstaubten Gattung zu bestätigen: Beim Betreten des Säulensaals fühlen wir uns sehr jung.

Das Gespräch beginnt mit einer theoretischen Verortung: Anja Kampmann beschreibt Naturlyrik als Auseinandersetzung mit der sinnlich erfahrbaren, vielschichtig gemachten Welt. Thilo Krause, ganz unironisch als „Lyriker und Wirtschaftsingenieur“ vorgestellt, antwortet auf die Frage nach einer Begriffsbestimmung der Naturlyrik mit einem Abriss der ganzen Tradition und bemängelt im Scherz die Kürze des Wikipedia-Eintrags dazu, den er zur Vorbereitung auf das Gespräch konsultiert habe.

Die Veranstaltung soll dem Eindruck des Altbackenen trotzen, der dem Genre anhaftet. Naturlyrik müsse eben nicht eskapistisch sein. Wir verbrächten ohnehin den Grossteil unserer Zeit in menschgemachten Landschaften. Lyrik über solche könne gerade zeit- und ortsspezifische Ordnungen von einer konkreten, sinnlichen Erfahrung her reflektieren. Was findet also heute in der Naturlyrik alles Platz? Vieles. Und eben nicht nur Natur, zumindest nicht im engen Sinn. In Kampmanns und Krauses vorgetragenen Gedichten werden keine blühenden Schäfchenwiesen beschrieben, sondern der Great Pacific Garbage Patch – ein Abfallfeld im Pazifik so gross wie Eurasien – und Tauben, die unter Autobahnbrücken nisten.

Das Prinzip des Gesprächs, die Autoren Gedichte des jeweils anderen auswählen und kommentieren zu lassen, hätte Potential, erweist sich aber in diesem Fall als etwas repetitiv. Beider Gedichte sind mit einem aufmerksamen Blick für das häufig nur beiläufig Registrierte der alltäglichen Umwelt geschrieben. Sie sind aber wegen ihrer sprachlichen Dichte auch sperrig, und wenn man sie – im Gegensatz zu den Vortragenden – nicht ohnehin schon kennt, fühlt man sich, als belausche man nur zufällig eine Diskussion unter Freunden, der man nur halb folgen kann.

Das Ping-Pong-Spiel von Lesen und Kommentieren kommt zu einem Ende, als Anja Kampmann kurz vor Ablauf der Zeit den „Gleichstand“ verkündet. Unser Fazit fällt durchzogen aus: Die Texte haben gezeigt, dass die Gattung auch im Zeitalter von Umweltproblemen durchaus noch Relevanz hat, über das passende Format zur Vermittlung dieser lässt sich streiten.

Simon Härtner, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg

Gefiederte Delphine

Ein Läufer sei der Lyriker, meint Moderator Florian Vetsch, und ja: Man sieht das Levin Westermann bei der morgendlichen Lesung auch durchaus an. Überpräsent sind die leuchtenden Laufschuhe unter dem Tisch, aber es gibt hier keinen Bruch zwischen Körper und Wort. Das Laufen nämlich, so stellt sich im Gespräch heraus, ist die Grundlage von Westermanns Lyrik. Im Laufen, am Fuss des Jura, filtern sich ihm die Textstellen heraus, die im Gedächtnis bleiben, die fremden wie die eigenen; im Durchgang durch die Natur zeigt sich dem Lyriker die Zeit als formatives Element. (Und durch diesen Duchgang angeheizt wurde es metaphorisch dann doch einmal wild, als Vetsch in Westermanns «Exerzitien der Krähen» «gefiederte Delphine» zu entdecken hoffte.)

Die divergenten Konzeptionen von Zeit – zehn an der Zahl – bilden das Gerüst des Tschechow-Zyklus, den Westermann in Solothurn liest und der sich in seinem Gedichtband 3511 Zwetajewa findet, den das «Buchjahr» im vergangenen Jahr bereits extensiv besprochen hat. Zeit ist ihm der Prüfstein des Literarischen; Literatur, so führt er aus, vermag «die Grenzen der Zeit in einem Gespräch zu überschreiten» – ganz konkret die Grenzen zwischen einem in Biel ansässigen Autor der Gegenwart und einer 1941 in Jelabuga in den Freitod gegangenen Lyrikerin, deren Sätze den Kern des dritten Teils des Buches bilden. Dass die Kritik bemängelte, neben Zwetjewas Prosa kämen «die daran angelagerten Textpartien des Autors kaum zur Geltung», will Westermann so nicht gelten lassen. Für ihn ist Dichtung keine Frage von Erfindung, sondern eben von «Verdichtung»: Die vergangenen Stimmen mit der eigenen zu verweben, darum geht es – und eben hierin wird die Lyrik dann eben auch zur Trauerrede, zum Dokument eines die Zeit überdauernden Bewusstseins. Der Gehalt von Westermanns Texten ist, schön ist das formuliert, der des «Palimpsestes»: unsere eigene kurzlebige Existenz vor dem Hintergrund einer Landschaft, die immer gleich bleibt.