Home Office – Ein Plädoyer gegen das ECTS-Lamento

Bologna hat aus genuin wissbegierigen, intrinsisch motivierten Liz-Studierenden eine Horde geistloser ECTS-Trottel gemacht, die sich nur noch für eines interessieren: Punkte zählen. Damit wird jetzt aufgeräumt, denn an den Soloturner Literaturtagen sind wir Studierenden – man will es ja kaum glauben – freiwillig. Keine Leistungsnachweispeitsche, keine Punkte am Horizont, keine Wegabkürzung zum Masterdiplom. Kein Punktejunkie weit und breit. Obsessiv machen wir hier nur eines – schreiben. Essen, trinken, schlafen – wer braucht das schon? Wir jedenfalls nicht. „Mach ma’ Pause!“ Kein Mensch regt sich.
Nicht nur der Schlafentzug entlockt uns wiederholt ein müdes Gähnen, auch abgedroschene Studierendenklischees tun das. Und die Žižeks und Byung-Chul Hans könnt ihr im Übrigen auch wieder einpacken: das ist keine Ideologie-blinde Selbstausbeutung des Kulturprekariats unter dem Prätext der „Freiwilligkeit“. Was wir hier genau machen, darüber werden wir – zum Glück! – noch lange streiten, aber wieso wir tun, was wir tun, wissen wir ganz genau: Wir brennen für die Literatur. Echt jetzt. No money, no sex, no drugs – just words. Und trotzdem kriegen wir einfach nicht genug.

Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner

Die Verflechtung der Welt

Das Bewusstsein des Menschen als Spiegel der Natur: eine traditionsreiche Metapher in der Philosophie, die über vier Jahrhunderte Erkenntnistheorie bewirtschaftet und Ende der Achtzigerjahre von Richard Rorty minutiös zerpflückt wurde. Bis heute haben unzählige turns – sprachliche, historische, kulturelle – eine Wand nach der anderen zwischen uns und der Welt aufgezogen. Zumindest eine Einsicht teilen sie: Repräsentation ist keine einfache Sache. Natürlich weiss das nicht nur die Philosophie, sondern auch die Literaturwissenschaft – und nicht zuletzt die Autorinnen und Autoren selbst. Barbara Schibli ist eine von ihnen. Im prächtigen Theatersaal des Stadttheaters Solothurn, dessen mit rotem Samt bezogene Sitze vollzählig belegt waren, las Schibli aus ihrem viel beachteten Debütroman „Flechten“, moderiert von Valeria Heintges.

In „Flechten“ kehrt Barbara Schibli das erkenntnistheoretische Paradigma des 17. Jahrhunderts um. Nicht der Mensch fungiert als Spiegel der Natur, vielmehr wird die Natur zum Spiegel des Menschen:

„Man meint, ein Stück unbekannte Natur zu beobachten, dabei ist es ein Teil von einem selbst.“

Die Hauptfigur Anna ist Flechtenforscherin und absolut besessen vom akribischen Zerlegen, Sammeln, Ordnen und Beschriften der Welt. Durch Annas Augen sehen wir nicht nur die im Roman erzählte Welt, sondern nehmen auch die Perspektive einer Botanikerin auf die Natur ein. Leta wiederum, Annas Zwillingsschwester, kann nicht aufhören, die Welt durch ihre Kameralinse einzufangen und auf Fotopapier zu bannen. Motiv ist ausschliesslich ihre Schwester, eine idée fixe. In präziser poetischer Sprache, die den fein säuberlich zerlegenden Gestus der Erzählfigur nachzeichnet, spinnt „Flechten“ die Geschichte einer zerstörerischen Symbiose zweier Frauen, die in einer festen Umarmung um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Beide versuchen sie, im zielgerichteten, analytischen Blick auf die Welt ihrer hilflosen und unbeholfenen Verstrickungen Herrin zu werden – und scheitern.

Über zehn Jahre habe sie an dem Text geschrieben, sagt Barbara Schibli. Schreiben, das sei für sie ein spielerischer, wenn auch keineswegs ein harmloser Prozess. Es sei ein dauerndes Tasten und Suchen, auch nach sich selbst. So beschreibt der Text in Kreisbewegungen die Suche nach Identität, die sich im Oszillieren zwischen Annähern und Abgrenzen formt und deren Gestalt dadurch in stetiger Veränderung begriffen ist. Die Beziehung des Zwillingpaares Anna/Leta zeigt in drastischer Weise, wie fragil Identitäten beschaffen sind. Anna versucht sich vehement gegen Letas Übergriffigkeit zu wehren, scheitert jedoch auch an ihrem eigenen Begehren, gesehen und anerkannt zu werden. Leta hingegen schafft es nicht, sich von ihrer Fixierung auf ihre Schwester zu lösen, wodurch es ihr verunmöglicht wird, sich persönlich wie auch beruflich weiterzuentwickeln.

Geschickt flicht Schibli in die Erzählung dieser vielmehr parasitären Zwillingsbeziehung Reflexionen über aktuelle ökologische, politische und soziale Problemstellungen, die sich aus der ausbeuterischen Gestaltung der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ergeben: Luftverschmutzung, Bienensterben, Digitalisierungsprozesse, das narzisstische Kreisen um das Selbst der Selfiekultur, kunstvolle Spiegelungen des Identitätstopos, die im Motiv der Zwillinge und der Flechten zusammengeführt werden. Ausserdem lässt Schibli sichtbar die Techniken eines weiteren Mediums einfliessen: Sie sei eine grosse Filmliebhaberin. Dies zeigt sich an den vielen Überblendungen, Raffungen und Dehnungen der Zeit, die sie gekonnt in die Komposition eingearbeitet hat. Spannung wird gerade nicht mittels der Handlung, sondern durch ebendiese komplexe und kunstreiche Erzähltechnik erreicht.

Gespannt darf auch das Publikum sein, nämlich auf Barbara Schiblis nächsten Roman. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie dieses Mal nicht mehr ganz so lange zum Schreiben braucht – ich kann es nämlich kaum erwarten, weitere Bücher von dieser bestechend klugen und sympathischen Schriftstellerin in die Finger zu bekommen.

„Sonst noch Wünsche, Sir?“

„Guten Morgen, Sir. Es ist Zeit aufzustehen.“ Weich und verführerisch haucht eine angenehme Frauenstimme diese Sätze dem noch vom Schlaf benebelten Protagonisten von The Andromeda Stream ins Ohr. Ende der 60er-Jahre schreibt Michael Crichton diese Zeilen, die von einem fernen Zukunftstraum erzählen, den mann sich in Pastell ausmalt und jäh platzt, als die Hauptfigur darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass die Sprecherin stattliche 63 Jahre zählt.

Es ist Kathrin Passig, Autorin und Chatbot-Aktivistin, die in Solothurn am letzten Workshop des Zukunftsateliers zu Chatbots endlich auf den Elefanten im Raum hinweist: Westworld. Wenn es ein Stück zeitgenössische Popkultur gibt, dem der Diskurs zum Thema „Mensch und Maschine“ nicht mehr entgehen kann, ist es dieses dystopisch-visionäre Serien-Meisterwerk der Science-Fiction, das auf der Romanvorlage von Crichton basiert. Die Frage, die gleichermassen den Drehpunkt der Zukunftsatelier-Seminare wie auch der Serie bildet, lautet: Wie viel Mensch steckt in der Maschine?

Antworten auf diese Frage ziehen Konsequenzen nach sich, deren Tragweite nur im Ansatz ermessen werden kann. Das Seminar zur „Genderfrage“ beleuchtet den Einfluss von Genderstereotypen auf die Entwicklung von Chatbots und gewährt Einblicke in die aktuellen Debatten und Forschungsstände. Vor Ort ist Kristina Kutke, Botautorin und Akademikerin mit Forschungsschwerpunkt „Interaktion Mensch – Maschine“, die sich mit dem Geschlecht von Digital Assistants auseinandersetzt. Was sie berichtet, gibt zu denken: Alexa, Siri, Cortana und eine weitere bestechenden Mehrheit der digitalen Helferlein sind weiblich. Ihre Weiblichkeit spiegelt ein einziges Klischee, das der servilen, sorgenden und stets hilfsbereiten Frau. Der Chatbot als Mutterersatz? Da hätte sich Freud selbstgefällig die Hände gerieben.

Doch die klischiert weibliche Charakterisierung von Digital Assistants ist nicht nur im Hinblick auf ihre Reproduktion von Gender-Stereotypen und mütterlichen Männerfantasien bedenklich. Wenig überrascht es, dass jene menschlichen Begehren nach Wärme, Zuneigung und Geborgenheit von ökonomischen Interessen ausgebeutet werden: Frauenstimmen bringen mehr Geld ein. Ausserdem spiegeln sie den Nutzer_innen Souveränität und Kontrolle vor: „We want our technology to help us, but we want to be the boss of it.“

Spätestens wenn man durch die Praxis über die Möglichkeit von sexuell belästigendem Verhalten gegenüber Digitalen Assistentinnen nachzudenken gezwungen wird, kommt man an ethischen Fragen nicht mehr vorbei. Auf anzügliche Sprüche reagieren Alexa und Co. ihrem Profil gemäss geschmeichelt bis neckisch tadelnd. Einen #MeToo-Post darf man von ihnen nicht erwarten. In der Folge drängt sich die Frage auf, wie sich der Rückkoppelungseffekt der virtuellen Interaktion auf die analoge soziale Interaktion auswirkt. Eine Übertragung und Legitimierung sexistischen Verhaltens auf den Alltag liegt quasi auf der Hand. Dies lässt sich besonders bei Jugendlichen nachweisen, bemerkt Katkute, da diese Chatbots vorallem als Begleiter_innen ihrer Entwicklung erleben.

An dieser Stelle endet jedoch der dystopische Tunnelgang. Engagiert und begeistert diskutieren Katkute, Passig und der Moderator Roland Fischer, wie Gender von Bots richtig eingesetzt auch positive Auswirkungen haben und sogar dazu dienen können, Klischees aufzudecken und den Diskurs umzuprägen. Oder aber auch, wie damit lustvoll herumgespielt werden kann. Gegen Ende der Diskussion verdüsterten sich die Aussichten dann aber doch wieder. Nicht nur, weil die Ausbeutung von Sexrobotern und autarke Künstliche Intelligenzen problematisierte, sondern weil immer mehr Fragen unbeantwortet blieben: Gibt es eine ethische Pflicht gegenüber Robotern? Inwiefern kann man von der Identität eines Roboters sprechen? Was ist so bedrohlich an der Tatsache, dass manche User_innen Chatbots nicht als solche erkennen, sondern sie für Menschen halten?

Mit rauchenden Köpfen schreiten wir über die Kreuzackerbrücke zurück zum Redaktionsbüro und sind uns einig: das war ein wirklich gelungenes Podium.

Shantala Hummler, Mia Jenni

«Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit». Gespräch mit Lukas Bärfuss

Kulturveranstaltungen wie die Solothurner Literaturtage setzen sich aus öffentlichen Anlässen zusammen, die im Programmheft nachgeschlagen werden können, aus denen man nach Belieben auswählen, sich zu gegebener Zeit am entsprechenden Ort einfinden kann. Daneben gibt es allerdings auch Anlässe, die der Öffentlichkeit nirgends angekündigt werden, trotzdem allerorten zum Gesprächsthema avancieren und die Berichterstattung auf einen noch unsichtbaren Nebenschauplatz lenken. Im Rahmen seiner Jahresversammlung am Donnerstag hat der Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) neben anderem mit einer grossen Mehrheit eine „Resolution für eine verantwortungsvolle Vergabe des ‚Schweizer Buchpreises’“ gefordert. Darin fordern die Autorinnen und Autoren die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises auf, qua Anpassungen im Reglement mehr Unabhängigkeit und Transparenz zu schaffen. Nachdem die Buchpreis-Trägerschaft in einer Medienmitteilung ihr Bedauern über das Vorgehen des AdS zum Ausdruck gebracht hatte, erläuterte Lukas Bärfuss – der am Freitag ebenfalls in Solothurn weilte – im Gespräch mit Shantala Hummler die Hintergründe der Resolution.

Die vom AdS verabschiedete Resolution fordert eine unabhängige Jury. Kann dies gewährleistet werden? 

Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von der Welt und vertritt seine Interessen. Das soll so sein. In einer Jury müssen diese Ideen offen und frei diskutiert werden können. Deshalb dürfen ausschliesslich Mitglieder an einer Jurysitzung teilnehmen. Ein Auftraggeber, der über das Preisgeld und die Zusammensetzung der Jury bestimmt und an diesen Sitzungen teilnimmt, verstösst gegen die Regeln der «Good governance». Die Trennung der verschiedenen Gremien sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Die Unabhängigkeit, die in der Resolution des AdS gefordert wird, beschränkt sich also auf diesen Unterschied zwischen Jurymitglied und Nicht-Jurymitglied?

Nach dem heutigen Reglement wird die Jury durch einen sogenannten Leitungsausschuss bestimmt. In diesem sitzen die GeschäftsführerInnen des SBVV und der LiteraturBasel.  Wenn die Geschäftsführer nun gleichzeitig über die Jury-Diskussion informiert sind, wird eine Kontrolle möglich. Genehmes Verhalten kann mit einer Neuberufung belohnt und ungenehmes entsprechend bestraft werden. Es ist übrigens völlig unklar, was die Veranstalter während dieser Sitzungen machen. Zuhören und schweigen? Haben sie nichts anderes zu tun? Sollten sie nicht ihre Arbeit machen?

Die Frage ist doch, ob diese gerechten und transparenten Verhältnisse grundsätzlich möglich sind. Die Entscheidungsfindung von Jurys findet ja immer in einem beschränkt fairen und transparenten Rahmen statt.

Dieser Rahmen ist das Reglement.  Deshalb sind für gute Buchpreise gute Reglemente unabdingbar. Nehmen wir die Rolle der Medienvertreter. Der Buchpreis hat starke Medienpartner: das Schweizer Fernsehen und die NZZ am Sonntag. Gleichzeitig sitzen Angestellte dieser Unternehmen in der Preisjury. Hier drohen Interessenskonflikte. Das heutige Reglement behauptet, die Jurymitglieder seien ad personam gewählt und nicht als offizielle Vertreter der Medienpartner. Das Schweizerische Obligationenrecht ist da anderer Meinung: Es formuliert die Treuepflicht des Arbeitsnehmers. Deshalb sollte Angestellte der Medienpartner von der Jurymitgliedschaft ausgeschlossen sein.

Was sind die nächsten Schritte nach der Verabschiedung der Resolution des AdS?

Die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises ist weiterhin aufgerufen, sich ein Reglement zu geben, das dem eigenen Anspruch genügt. Es liegt in ihrer Verantwortung. Wir, einige Preisträger, haben dem Buchpreis bereits vor Monaten konkrete, juristisch wasserdichte Vorschläge gemacht.  Jetzt gibt es die Resolution des AdS, die einen klaren Weg weist. Ich bin zuversichtlich, dass die Trägerschaft nun die nötigen Schritte einleitet. Schliesslich haben wir ein gemeinsames Interesse.

Worin besteht dieses übergeordnete Interesse, das du ansprichst?

Die literarische, die kritische Öffentlichkeit. Dass wir uns als Gesellschaft kritisch auseinandersetzen – zum Beispiel über Literatur. Wir tun dies auch anhand der Preise, die vergeben werden. Die Qualität dieser Auseinandersetzung, dieses Gesprächs, hat leider deutlich gelitten. Es scheint heute oft keinen Willen zu geben, Zusammenhänge herzustellen. Wer über ein Buch spricht, sollte unter anderem in der Lage sein, dieses Buch mit anderen Büchern zu vergleichen. Das geschieht heute kaum mehr. Die Kritik beschränkt sich einerseits auf die Nacherzählung der gelesenen Bücher. Und sie wird immer häufiger persönlich und kritisiert nicht die Werke, sondern die Künstler, und leider häufig in einer ganz unerträglichen Art.  Wir alle müssen uns um eine Diskussion bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.

Würdest du also sagen, dass die Schweizer Literaturkultur letzten November bei den Ereignissen rund um die Vergabe des Schweizer Buchpreises eine Art Tiefpunkt erreicht hat? 

Wer dabei war, erinnert sich nicht gerne daran. Aber es geht um grundsätzliche Entwicklungen. Der Strukturwandel ist längst nicht abgeschlossen. Die privaten Medien wissen nicht, wie sie ihr Geld verdienen sollen. Die Öffentlich- Rechtlichen sind durch die politischen Angriffe verunsichert. Online gibt es viele gute Initiativen. Die meisten sind nebenberuflich, also unfinanziert. Kunst und ihre Kritik sind eine komplexe Sache. Es braucht Sorgfalt, Zeit und Geld. Wenn unsere Gesellschaft auf die Auseinandersetzung mit der Kunst verzichtet, entzieht sie sich der eigenen Grundlage. Und dazu darf man die Kräfte nicht vergessen, die diese kritische Auseinandersetzung nicht wollen, sie zu verhindern versuchen, um die eigene Deutungshoheit durchzusetzen.

Dort liegt eine problematische Verschaltung: die Menschen, welche die Deutungshoheit innehaben, verfügen oft über die entscheidenden finanziellen Mittel. Wie kann also einer Prekarisierung der Kulturschaffenden entgegengewirkt werden?

Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit. Jeder Künstler ist aufgerufen, sich an diese Öffentlichkeit zu wenden. Sie wird zum Partner. Ein Künstler lebt vom Brot der Öffentlichkeit. Gerade deshalb ist die Resolution des Autorenverbandes so wichtig: es geht nicht um ein Partikularinteresse, es geht um die gemeinsamen Strukturen. Es bleibt die Aufgabe, das übergeordnete Interesse zu formulieren. Die Solothurner Literaturtage sind aus dieser Idee entstanden: Jenseits der Konkurrenzsituation einen Ort zu schaffen, an dem man sich frei austauschen und streiten kann. Ich hoffe sehr, dass die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises dieses Zeichen verstanden hat.

Finde die Zukunft II

„Wir suchen die Ausstellung vom Zukunftsatelier zu Chatbots, die sollte hier im Foyer sein.“ – „Eine Sekunde. – Mammi, säg mol, weisch du wo die Uusstellig isch?“

Noch lassen Exposition und Zukunft auf sich warten. In der Zwischenzeit plaudern wir mit unseren analogen Gesprächspartnerinnen, die hilfsbereit und engagiert an den Solothurner Literaturtagen mitwirken: Nicole Jenni und ihre Tochter Lea.

Nicole, wie lange arbeitest du schon bei den Solothurner Literaturtagen?

Seit 4 Jahren.

Auf welche Veranstaltung freust du dich besonders?

Ich bekomme gar nicht so viel mit, weil ich immer mit der Kasse am rumspringen bin. Ich bin hier Ansprechperson und mein Telefon ist auf laut, darum ist das nicht so gut, wenn ich hier drinnen sitze. Aber die Eröffnung gestern war total cool und ich finde die vielen Leute, die sich für die Literaturtage interessieren, einfach sehr spannend. Auch wenn ich kaum Zeit habe, um an eine Lesung zu gehen, bleibt es interessant

Was für Begegnungen machst du bei deiner Arbeit?

So spontane Begegnungen wie jetzt mit euch. Das ist jetzt gerade ein gutes Beispiel dafür, wie wir behilflich sein, etwas abklären können und Fragen beantworten können, die auftauchen. Manchmal sind es auch Geschichten, die entstehen, wenn man mit jemandem ins Gespräch kommt. Das ist wirklich sehr schön.

Gibt es irgendetwas, das dir besonders gefällt an der Arbeitsatmosphäre der Solothurner Literaturtage?

Wir sind ein mega cooles Team. Die meisten sind jung – ich bin zwar die Älteste – und wir sind ein aufgestelltes, motiviertes Team. Das ist wirklich super.

Lea, wie lange bist du schon bei den Solothurner Literaturtagen dabei?

Seit 3 Jahren. Im ersten Jahr sind wir mit der Klasse hierhergekommen. Auch jetzt arbeitet eine ganze Gymnasiumklasse an den Literaturtagen, um Geld für die Maturareise zu verdienen. Später habe ich dann über meine Mutter wieder an den Literaturtagen arbeiten können.

Hast du denn Zeit, um Lesungen zu besuchen?

Wenn ich nicht im Lernstress bin, ja. Die letzten paar Jahre habe ich nicht so viel nebenbei gesehen, weil ich noch viel für die Schule zu tun hatte. Aber eigentlich finde ich es schön, wenn man neben der Arbeit Zeit findet, um Veranstaltungen zu besuchen und ich habe mir für dieses Jahr vorgenommen, dies zu machen.

Was für Veranstaltungen hast du dir denn vorgenommen?

Es gibt eine Veranstaltung über den Balkankrieg, dort möchte ich reinsitzen. In der Schule haben wir Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji gelesen, die an dem Podium dabei sein wird. Das Buch hat mir sehr gefallen und dadurch, dass wir es in der Schule analysiert haben, bekommt man einen anderen Einblick in ein Buch.

Herzlichen Dank an Nicole und Lea für die Bereitschaft, spontan Rede und Antwort zu stehen.

Interview: Shantala Hummler, Foto: Artiom Christen

Finde die Zukunft I

Entschuldigung, wo ist hier schon wieder die Zukunft?

Der Brücken viele, zu wenige der Wege, schlendern wir der Zukunft entgegen. Unser erstes Ziel: die Ausstellung des Zukunftsateliers zu Chatbots.

So denken wir zumindest.

Irrwege, wo immer wir hingehen. Just im letzten Moment erblicken wir aus den Augenwinkeln die imposanten Gemäuer des Landhauses. Ermuntert betreten wir die grossräumige Eingangshalle, von Hinweisschildern keine Spur. Wir suchen weiter, die Treppen hoch, da umschmeichelt aromatischer Kaffeeduft unsere Nasen, während sich unser Blick an dem verlorenen Lichtkegel im schattigen Foyer festmacht.

Chatbot says: error 404 – future not found.

Die Zukunft glänzt durch Abwesenheit. Oder alles Programm? Die totale Digitalisierung.

Dann der Lichtblick: zwei goldene Engel.

Fortsetzung folgt…

Artiom Christen und Shantala Hummler 

Unser Team in Solothurn: Shantala Hummler

Shantala Hummler studiert Kulturanalyse und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften in Zürich. Gerade erst hat sie sich von Gayatri Chakravorty Spivak erklären lassen, weshalb Marginalisierte zwingend sprachlos bleiben. Daran kann auch die Literatur nichts ändern. Oder doch? Sie ist gespannt, ob die Podiumsdiskussion „Die Sprache der Verlierer“ ihr noch einen Hoffnungsschimmer bieten kann.

Ob die Literaturkritikerin ausgedient hat und sie eigentlich auch gleich im heimeligen Kreis 3 hätte bleiben können, darüber lässt sie sich von der Gesprächsrunde zur Literaturkritik in der Schweiz aufklären. Ganz egal, was dabei herauskommt, sie wird sich auf jeden Fall an Melinda Nadj Abonjis poetischem Sprachklang berauschen. Und wenn es dann nicht mehr ernster geht, holt sie sich bei Gion Cavelty zur Aufmunterung eine satte Portion überdrehte, schrille Unterhaltungssatire.