«Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit». Gespräch mit Lukas Bärfuss

Kulturveranstaltungen wie die Solothurner Literaturtage setzen sich aus öffentlichen Anlässen zusammen, die im Programmheft nachgeschlagen werden können, aus denen man nach Belieben auswählen, sich zu gegebener Zeit am entsprechenden Ort einfinden kann. Daneben gibt es allerdings auch Anlässe, die der Öffentlichkeit nirgends angekündigt werden, trotzdem allerorten zum Gesprächsthema avancieren und die Berichterstattung auf einen noch unsichtbaren Nebenschauplatz lenken. Im Rahmen seiner Jahresversammlung am Donnerstag hat der Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) neben anderem mit einer grossen Mehrheit eine „Resolution für eine verantwortungsvolle Vergabe des ‚Schweizer Buchpreises’“ gefordert. Darin fordern die Autorinnen und Autoren die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises auf, qua Anpassungen im Reglement mehr Unabhängigkeit und Transparenz zu schaffen. Nachdem die Buchpreis-Trägerschaft in einer Medienmitteilung ihr Bedauern über das Vorgehen des AdS zum Ausdruck gebracht hatte, erläuterte Lukas Bärfuss – der am Freitag ebenfalls in Solothurn weilte – im Gespräch mit Shantala Hummler die Hintergründe der Resolution.

Die vom AdS verabschiedete Resolution fordert eine unabhängige Jury. Kann dies gewährleistet werden? 

Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von der Welt und vertritt seine Interessen. Das soll so sein. In einer Jury müssen diese Ideen offen und frei diskutiert werden können. Deshalb dürfen ausschliesslich Mitglieder an einer Jurysitzung teilnehmen. Ein Auftraggeber, der über das Preisgeld und die Zusammensetzung der Jury bestimmt und an diesen Sitzungen teilnimmt, verstösst gegen die Regeln der «Good governance». Die Trennung der verschiedenen Gremien sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Die Unabhängigkeit, die in der Resolution des AdS gefordert wird, beschränkt sich also auf diesen Unterschied zwischen Jurymitglied und Nicht-Jurymitglied?

Nach dem heutigen Reglement wird die Jury durch einen sogenannten Leitungsausschuss bestimmt. In diesem sitzen die GeschäftsführerInnen des SBVV und der LiteraturBasel.  Wenn die Geschäftsführer nun gleichzeitig über die Jury-Diskussion informiert sind, wird eine Kontrolle möglich. Genehmes Verhalten kann mit einer Neuberufung belohnt und ungenehmes entsprechend bestraft werden. Es ist übrigens völlig unklar, was die Veranstalter während dieser Sitzungen machen. Zuhören und schweigen? Haben sie nichts anderes zu tun? Sollten sie nicht ihre Arbeit machen?

Die Frage ist doch, ob diese gerechten und transparenten Verhältnisse grundsätzlich möglich sind. Die Entscheidungsfindung von Jurys findet ja immer in einem beschränkt fairen und transparenten Rahmen statt.

Dieser Rahmen ist das Reglement.  Deshalb sind für gute Buchpreise gute Reglemente unabdingbar. Nehmen wir die Rolle der Medienvertreter. Der Buchpreis hat starke Medienpartner: das Schweizer Fernsehen und die NZZ am Sonntag. Gleichzeitig sitzen Angestellte dieser Unternehmen in der Preisjury. Hier drohen Interessenskonflikte. Das heutige Reglement behauptet, die Jurymitglieder seien ad personam gewählt und nicht als offizielle Vertreter der Medienpartner. Das Schweizerische Obligationenrecht ist da anderer Meinung: Es formuliert die Treuepflicht des Arbeitsnehmers. Deshalb sollte Angestellte der Medienpartner von der Jurymitgliedschaft ausgeschlossen sein.

Was sind die nächsten Schritte nach der Verabschiedung der Resolution des AdS?

Die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises ist weiterhin aufgerufen, sich ein Reglement zu geben, das dem eigenen Anspruch genügt. Es liegt in ihrer Verantwortung. Wir, einige Preisträger, haben dem Buchpreis bereits vor Monaten konkrete, juristisch wasserdichte Vorschläge gemacht.  Jetzt gibt es die Resolution des AdS, die einen klaren Weg weist. Ich bin zuversichtlich, dass die Trägerschaft nun die nötigen Schritte einleitet. Schliesslich haben wir ein gemeinsames Interesse.

Worin besteht dieses übergeordnete Interesse, das du ansprichst?

Die literarische, die kritische Öffentlichkeit. Dass wir uns als Gesellschaft kritisch auseinandersetzen – zum Beispiel über Literatur. Wir tun dies auch anhand der Preise, die vergeben werden. Die Qualität dieser Auseinandersetzung, dieses Gesprächs, hat leider deutlich gelitten. Es scheint heute oft keinen Willen zu geben, Zusammenhänge herzustellen. Wer über ein Buch spricht, sollte unter anderem in der Lage sein, dieses Buch mit anderen Büchern zu vergleichen. Das geschieht heute kaum mehr. Die Kritik beschränkt sich einerseits auf die Nacherzählung der gelesenen Bücher. Und sie wird immer häufiger persönlich und kritisiert nicht die Werke, sondern die Künstler, und leider häufig in einer ganz unerträglichen Art.  Wir alle müssen uns um eine Diskussion bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.

Würdest du also sagen, dass die Schweizer Literaturkultur letzten November bei den Ereignissen rund um die Vergabe des Schweizer Buchpreises eine Art Tiefpunkt erreicht hat? 

Wer dabei war, erinnert sich nicht gerne daran. Aber es geht um grundsätzliche Entwicklungen. Der Strukturwandel ist längst nicht abgeschlossen. Die privaten Medien wissen nicht, wie sie ihr Geld verdienen sollen. Die Öffentlich- Rechtlichen sind durch die politischen Angriffe verunsichert. Online gibt es viele gute Initiativen. Die meisten sind nebenberuflich, also unfinanziert. Kunst und ihre Kritik sind eine komplexe Sache. Es braucht Sorgfalt, Zeit und Geld. Wenn unsere Gesellschaft auf die Auseinandersetzung mit der Kunst verzichtet, entzieht sie sich der eigenen Grundlage. Und dazu darf man die Kräfte nicht vergessen, die diese kritische Auseinandersetzung nicht wollen, sie zu verhindern versuchen, um die eigene Deutungshoheit durchzusetzen.

Dort liegt eine problematische Verschaltung: die Menschen, welche die Deutungshoheit innehaben, verfügen oft über die entscheidenden finanziellen Mittel. Wie kann also einer Prekarisierung der Kulturschaffenden entgegengewirkt werden?

Niemand besitzt ein grösseres Vermögen als die Öffentlichkeit. Jeder Künstler ist aufgerufen, sich an diese Öffentlichkeit zu wenden. Sie wird zum Partner. Ein Künstler lebt vom Brot der Öffentlichkeit. Gerade deshalb ist die Resolution des Autorenverbandes so wichtig: es geht nicht um ein Partikularinteresse, es geht um die gemeinsamen Strukturen. Es bleibt die Aufgabe, das übergeordnete Interesse zu formulieren. Die Solothurner Literaturtage sind aus dieser Idee entstanden: Jenseits der Konkurrenzsituation einen Ort zu schaffen, an dem man sich frei austauschen und streiten kann. Ich hoffe sehr, dass die Trägerschaft des Schweizer Buchpreises dieses Zeichen verstanden hat.