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Für ihren Roman Tauben fliegen auf erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Vor einigen Tagen gewann sie nun für ihren dritten Roman Schildkrötensoldat den ZKB-Schillerpreis. Doch Melinda Nadj Abonji ist nicht nur erfolgreiche Buchautorin, sondern auch Performancekünstlerin. Zunächst scheinen die einleitenden Klänge ihres langjährigen Bühnenpartners Jurczok 1001 ungewohnt, fast unpassend. Doch sobald Melinda Nadj Abonji zu lesen beginnt, ist man mittendrin. Die beiden Stimmen überlagern sich und schaffen einen fliessenden Übergang von der Klangkunst zur rhythmisch-lyrischen Sprache, derer sich Nadj Abonji bedient. Ihre Lesung beginnt gleich am Anfang von Schildkrötensoldat, bei Zoltán Kertész, einem jungen Mann aus einem Dorf im heutigen Serbien. Es ist die Region, aus der die Autorin selbst stammt.  Der Roman wird nicht nur mehrstimmig vorgetragen, er ist es auch selbst. Die Perspektiven von Zoltán und seiner Cousine Anna, die in der Schweiz lebt, wechseln sich ab. Erzählt Ersterer auf eine sinnlich-poetische Weise, wirkt Letztere eher analytisch.

Zoltán erzählt vom Zwetschgenknödeltag, dem Tag, an dem er in voller Fahrt vom Motorrad seines Vaters fiel. Der Tag, an dem er zum ersten Mal das sogenannte „Schläfenflattern“ hatte. „Der Anfang vom Ende“, so sein Vater, der ihn seine Enttäuschung  deutlich spüren lässt.
Dann steht Anna in Jugoslawien an Zoltáns Grab. Sie möchte nicht bemitleiden, sie möchte verstehen. Und sie möchte wissen, wann sein Sterben begonnen habe.
War es, als Zoltáns Eltern ihn während des Jugoslawienkriegs zur Armee schickten, um „zu einem richtigen Mann“ zu werden? War es in der Kasernenküche, wo Zoltán dem Spott der Kameraden ausgeliefert ist? War es die Vorstellung des Kriegs selbst? Oder die ihn umgebende „Militarisierung der Köpfe“, auf die Melinda Nadj Abonji vergangenen Freitag am Podium Balkan-Kriege – wie geht die Literatur damit um? bereits angesprochen hatte?
„Das Schlachten und Zerstören und Töten wird uns in die Wiege gelegt, in unser Hirn gesät, bevor wir überhaupt denken können.“, so Jenő, Zoltáns einziger Freund.

Jurczoks Klänge vermischen sich mit Melinda Nadj Abonjis Stimme, die beiden Medien überlagern sich, was eine gewisse Sogwirkung erzeugt, eine Atmosphäre, die nicht erlaubt, wegzuhören. Die Mehrstimmigkeit steht in eindrücklichem Kontrast zum Verstummen des Protagonisten in der Handlung und unterstützt zugleich die lyrische Ausdrucksweise seiner Gedanken.

Was man hier gesehen hat, war nicht nur eine Lesung, sondern eine Performance zweier Künstler, welche dem Roman nicht nur gerecht wird, sondern ihn um entscheidende Facetten bereichert. Zoltáns Konservierung der Sprache in lyrisch-rhythmischen Ausdrücken wird auf eine neue Ebene geführt. Wo die Ausdrücke begrenzt sind, beginnt die Musik. Und wo die Sprache verstummt, bleibt der Klang zurück.

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