«Es brauchte Diplomatie, Ausdauer und Härte»: Diese Hürden musste Thomas Strässle zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Frisch und Bachmann überwinden

Bei «Zürich liest» sprach Christine Lötscher mit Thomas Strässle, dem Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Die Besucher:innen erfuhren, wie es zur Veröffentlichung kam und welche Hindernisse es gab.

6. April 2011: Ein Tag, den Thomas Strässle nicht vergisst. Damals besuchte der Literaturwissenschaftler die UBS am Zürcher Bellevue. Er verfolgte, wie die historischen Dokumente aus der Dunkelheit des Safes von Frisch ans Licht geholt wurden. Welche Strapazen und Mühen ihn erwarten würden, konnte er noch nicht wissen. Es sollte ein langer Weg werden, bis der Briefwechsel sorgfältig ediert veröffentlich werden konnte.

Zwischen Neugier und Zweifeln

Für 20 Jahre waren die Briefe zwischen Frisch und Bachmann gesperrt. Seine Neugier zog Thomas Strässle direkt zum Briefwechsel. Beim Lesen seien ihm jedoch Zweifel gekommen: «Mich legitimiert eigentlich nichts, diese Briefe zu lesen.» Dazu kam aus dem Publikum eine kritische Frage: Woher er denn die Sicherheit genommen habe, die Briefe lesen und veröffentlichen zu dürfen. Thomas Strässle erklärte, er sei sich bewusst gewesen, dass er in eine Beziehungswelt eindrang, mit der er nichts zu tun hatte. Er habe die rund 300 Korrespondenzstücke als Vertreter des Max Frisch-Archivs lesen dürfen. Die Verantwortung, dass die Briefe von Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden durften, trage er jedoch nicht. Entschieden hätten dies ihre Geschwister.

Die Sperrfrist als Hinweis für Frischs Wille

Was sprach für eine Veröffentlichung der intimen Geheimnisse von Frisch und Bachmann? Thomas Strässle nennt vier Gründe. Wenn Frisch gewollt hätte, dass die Briefe nicht gelesen würden, dann hätte er sie vernichtet. Es sei kein Beweis, dass Frisch sie habe publizieren wollen, aber ein Hinweis. Zudem hätten sowohl Frisch als auch Bachmann ihre Beziehung literarisch verarbeitet. Einen ersten Schritt zur Veröffentlichung hätten die beiden also selbst getan. Die zwei Literat:innen seien zudem Personen öffentlichen Interesses. Darüber hinaus rankten sich um ihre Beziehung viele Mythen, die in den Briefen widerlegt würden. Max Frisch als alleinigen Täter zu sehen, greife zu kurz.

Beziehung wurde nicht «zu Literatur verwurstet»

Durch den Briefwechsel werden laut Thomas Strässle folgende Korrekturen ersichtlich: Das bisherige Narrativ, dass Frisch Bachmann für eine jüngere Frau verlassen hätte, stimme so nicht. Ausserdem könne man nicht mehr behaupten, dass in Mein Name sei Gantenbein intimste Details der Beziehung ohne Einverständnis von Bachmann ausgeschlachtet wurden. Die Schriftstellerin hat den gesamten Schreibprozess begleitet und auch die allerletzte Fassung abgesegnet.

Wichtig sei, dass man nun nicht in Anschuldigungen gegen Bachmann verfalle. Generell müsse man sich von der Vorwurfsrhetorik verabschieden.

Verhandlungen mit den Geschwistern Bachmann: «lang, herausfordernd und unangenehm»

Nach Ablauf der Sperrfrist begannen die Verhandlungen mit Ingeborg Bachmanns Geschwistern. Um auch ihre Briefe veröffentlichen zu können, brauchte es nämlich deren Einwilligung. Die Verhandlungen seien langwierig und herausfordernd gewesen, mehr noch: «Es war unangenehm.» Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschwister überhaupt zu einem Gespräch mit Strässle bereit waren. Zuerst wollten sie, dass nur Frischs Briefe veröffentlicht würden. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Schliesslich kam man zusammen mit dem Suhrkamp Verlag zum Beschluss, bis zu welchem Zeitpunkt der gesamte Briefwechsel erscheinen sollte.

«Ich liebe es, den Film von Margarethe von Trotta zu polemisieren»

Während des 1.5-stündigen Gesprächs teilte Thomas Strässle mehrfach gegen den neuen Film von Margarethe von Trotta aus. Vor zwei Wochen erschien der Spielfilm Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste. Er behandelt das Leben der Schriftstellerin und die Beziehung zu Max Frisch.

Strässle hatte mit dem Filmprojekt zu tun. Die Regisseurin wollte den Briefwechsel einsehen. Doch er erlaubte das nicht. Die Briefe waren noch streng geheim, und Stillschweigevereinbarungen mit 70 Leuten abzuschliessen, wäre ihm zu riskant gewesen. Es sei ein harter Kampf gewesen und auch um viel Geld gegangen. Ins Detail wollte Strässle nicht gehen. Er selbst habe den Film nicht gesehen und möchte dies auch nicht tun. Gespräche und Kritiken würden aber darauf hinweisen, dass der Film die alten Mythen, Klischees und Legenden reproduziere. Im veröffentlichten Buch sei die Korrektur zu finden.

Gegen Ende des Gesprächs kam eine Publikumsfrage zur zweiten Ehefrau von Max Frisch. Wie sie zur Veröffentlichung des Briefwechsels stehe. Strässle antwortete kurz und knapp: «entspannt». Dabei konnte er sich einen letzten Seitenhieb gegen den Film nicht verkneifen. Er habe Frischs Ehefrau versichert, dass sie vom Briefwechsel nichts zu befürchten habe. Beim Film sei das anders. Dort werde sie gar beim falschen Namen genannt.

Abgleiten in die Psychologie

Was lässt sich alles aus den Briefen herauslesen? Und wo läuft man Gefahr, zu viel hineininterpretieren zu wollen? Dem Briefwechsel steht ein umfangreicher Kommentar zur Seite. Es sei wichtig gewesen, alles zu erklären und historische Hintergrundinformationen zu geben, erklärte Thomas Strässle. So würden Lücken nicht willkürlich ausgefüllt.

Doch Thomas Strässle erlaubte sich auch psychologische Deutungen: «In der Beziehung war Frisch verzweifelter und hat mehr gelitten. Doch Bachmann ist mit mehr Beschädigungen herausgekommen.» Spricht hier der Literaturwissenschaftler oder ein Hobby-Psychologe? Inwiefern lässt sich aufgrund der Briefe auf die gesamte Liebesbeziehung zwischen Frisch und Bachmann schliessen? Sind sie nicht bloss ein kleiner Teil? Dass er sich hier fernab seines Fachbereiches bewegt, bemerkte der Literaturwissenschaftler und schloss sein Statement mit: «Ich bin kein Psychologe.»

Es blieb aber nicht die einzige Situation, in der er in die Psychologie abglitt. So etwa, als Strässle erzählte, wie Frisch auf das Geständnis reagierte, dass Bachmann eine Beziehung mit einem anderen Mann führte. Obwohl in ihm ein Gefühlschaos herrschte, habe Frisch glasklar formuliert. Das sei keine Reaktion eines «tobenden Eifersuchtsweltmeisters», sondern eines Menschen, der «den emotionalen Zustand rational zu durchdringen versucht». Christine Lötscher unterband diese Interpretationen nicht etwa, sondern fügte sogar noch eigene hinzu, wie zum Beispiel: «Wenn wir wieder zur Psychologie zurückkehren. Vielleicht war ja auch die Berühmtheit ein weiterer Grund für die psychische Verfassung gegen Ende von Bachmanns Leben.» Heikles Terrain.

Interessant war der Abend allemal: Das Publikum erhielt einen Einblick in die 10-jährige Arbeit bis zur Veröffentlichung und einen neuen Blick auf eine einzigartige Liebesgeschichte. Es bleibt jedoch die Frage, wie weit ein Briefwechsel eine Beziehung ausleuchten kann.

Frieden dem Unfrieden – warum Gotthelf immer aktuell ist

Jeremias Gotthelfs Werk erhält eine «Zürcher Ausgabe»! Die ersten drei Bände sind seit dem 25. Oktober beim Diogenes Verlag erhältlich. Zu diesem Anlass trafen sich Literaturprofessor Philipp Theisohn (Disclaimer: Herausgeber auch des Schweizer Buchjahrs), welcher die Neuauflage herausgibt, und die bekannte Autorin Monika Helfer, die als «Gotthelf-affine» Autorin ein Nachwort für «Uli der Pächter» verfasst hat. Die Frage, die sie gemeinsam zu beantworten suchen: Kann man Gotthelf heute überhaupt noch lesen? Die Vielzahl der Anwesenden am Freitagabend deutet an – ja, kann man!


Gastgeber ist an diesem Abend ein Salon. Und sehr gemütlich ist es im Salon zum Rehböckli! Man fühlt sich, als ob man bei jemandem zu einem Abendessen eingeladen ist und vor dem Essen noch ein wenig über Literatur spricht. Der Holzboden, das gedimmte Licht und eine Katze, die sich auf dem Sofa ausbreitet und streicheln lässt, haben einen entspannenden Effekt auf das Publikum.


Die Veranstaltung startet mit der Autobiographie von Jeremias Gotthelf, dessen Leben auf ein paar wenigen Seiten zusammengefasst werden kann, wenn man sich an die Eckdaten hält. Aber er habe trotzdem genügend Stoff für seine Werke gefunden, merkt Herausgeber Theisohn an. Gotthelf, der bürgerlich eigentlich Bitzius hiess, musste für seine Vorgesetzten häufig Berichte über die Ereignisse und Missstände in seiner Pfarreigemeinde anfertigen. Seine Erzählungen, besonders auch die «Uli»-Bücher, erben diese Feinfühligkeit für ihre Figuren.


Diese Sorgfalt und Empathie für Figuren, die nicht immer perfekt sind, sondern auch Schwächen haben, zieht auch Monika Helfer schon seit langem zu Jeremias Gotthelfs Werk. Als Kind habe sie oft Gotthelf-Hörbücher gehört. Die österreichische Autorin ist auch in ihrem eigenen Schreiben von solchen Charakteren fasziniert. «Ist nicht deine Gloria ein wenig wie Gotthelfs Elisi?», fragt Theisohn schmunzelnd. Damit ist eine Figur in Helfers neuem Roman «Die Jungfrau» gemeint, der gerade dieses Jahr erschienen ist und von einer jahrelangen Freundschaft zwischen zwei Frauen handelt.


Schliesslich kommen die beiden auf die Bedeutung des Geldes in Gotthelfs Romanen zu sprechen. Geld vor allem im Sinn vom richtigen Umgehen damit, wie sowohl Gier als auch Faulheit für Uli Konsequenzen haben. Helfer greift im Nachwort zu «Uli der Pächter» diesen Aspekt ebenfalls auf. In einer kurzen Erzählung wird Uli zum Hotelier in einem Ausflugsgebiet und muss sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen wie als Knecht und Pächter. Der Beweis also, dass die Uli-Geschichten kaum an Aktualität verloren haben.

«Sovrapposizioni» a Zurigo: poetica della realtà

In una piccola stanza adibita a mo› di caffè letterario ha luogo una tra le più speciali «riunioni di scrittori appartenenti a due generazioni»: così inizia la moderatrice Jecqueline Aerne ad introdurre gli ospiti di questa sera presso la Kulturhaus Helferei di Zurigo. Accomodati su un divanetto elegante ci sono Fabio Pusterla e Yari Bernasconi a leggere poesie estratte dalle loro raccolte bilingui: Nella quiete provvisoria del volo/In der vorläufigen Ruhe des Flugs (2021) rispettivamente Nuovi giorni di polvere/Neue staubige Tage (2021). A fasi alternate, tra una serie di lettura e l’altra, il violinista Matthias Lincke, suonando ad occhi chiusi, regala momenti di riflessione al pubblico, che apprezza molto la sua bravura.

La discussione dei testi è preceduta dall’intervento della moderazione, con cui si traccia un percorso storico-formativo che unisce i due poeti svizzeri. Si tratta di due personaggi distinti accomunati dalla profondità delle parole messe insieme e in versi.

Fabio Pusterla è stato docente di Yari Bernasconi al Liceo Cantonale di Lugano e da allora le loro strade si sono incrociate, fino a poter oggi parlare di un’amicizia che non è soltanto legata all’impegno poetico. Il giovane poeta afferma di aver compreso soltanto negli ultimi anni di liceo quanto fosse importante la letteratura e di aver maturato in sé il pensiero che custodisce ancora gelosamente: «la letteratura può cambiare il mondo», perché portatrice di un linguaggio in grado di superare qualsiasi tipo di barriera. Che l’acceso entusiasmo di allora oggi si sia un po’ scolorito è del tutto naturale, come accade ad ognuno di noi diventando adulti e più maturi. Col trascorrere del tempo si cambia e cambia anche il modo in cui si comunica e la modalità con cui si vuole trasmettere un messaggio.

Nella crescita personale e professionale assume grande importanza l’immagine del «Maestro con la ‘m’ maiuscola», che per Pusterla è stato per primo Giovanni Orelli; figura importante nella letteratura di lingua italiana in Svizzera. Per Bernasconi il Maestro è colui che permette «l’incontro e lo scontro con il suo interlocutore». Non si parla, quindi, di modello di ispirazione quanto di un insegnamento che ha reso possibile quel cambiamento necessario per dare slancio alla produzione di testi.

Dalla loro lettura emergono diversi temi cari sia ad uno che all’altro poeta. La loro produzione in versi è accomunata dall’intenzione di voler rendere in maniera trasparente e realistica tutte quelle immagini e tutti quegli eventi tratti dalla vita quotidiana, dalla storia dell’umanità e, quindi, dall’esistenza nel mondo. Se per Pusterla la poesia nasce da un motivo di ispirazione preciso dovuto sostanzialmente a «l’incontro di due cose», per Bernasconi è fonte di ispirazione la realtà allo stato puro, in cui dei «microscopici momenti di scrittura» bastano per poter riflettere su versi abbozzati o per scriverne di nuovi. Da un lato la scrittura di Bernasconi si caratterizza per la sua natura spontanea, chiaramente meditata, ma concisa e immediata e allo stesso tempo in grado di farsi carico di significati profondi che potrebbero essere dettati dalla bocca di chiunque amasse riflettere sulla realtà. Dall’altro lato è del tutto disinvolta e profusa la scrittura di Pusterla, che spesso riesce a racchiudere in un testo due varianti distinte per ogni scontro di verità nella vita. Nelle sue poesie la riflessione si estende su due linee parallele che si intersecano soltanto in un punto: quello in cui le sensazioni contrastanti si scontrano letteralmente e condividono le une l’aspetto poco consono alla natura delle altre.

Dalla lettura di Bernasconi ci si sposta dal fatto di cronaca nera con Cartolina notturna, alla «vena identitaria» che caratterizza le poesie ambientate in diversi luoghi visitati, come in Connemara; dalla nostalgia di un paesaggio nella poesia Conosci il mare, ai «monologhi interiori» dettati dalla notte, il momento in cui tutto tace e i pensieri prendono forma, in Cartolina notturna n. 3 ed è facile immedesimarsi nei versi di una storia che potrebbe essere quella di tutti coloro i quali siano ancora in grado di guardare in faccia alla realtà senza indossare alcuna maschera:

Ora che […] | mi ricordi | chi sono (il tanto e il poco che sono), | non riesco ancora a dirti che farò | del mio meglio, ma che non basterà. | Ora che torni col braccio arrossato, | qualche graffio e due lacrime già secche, | cercando un segno sul mio viso,| non riesco a dirti: non succederà più.

Yari Bernasconi, poesia «Altre discese e risalite» dalla raccolta «La casa vuota» (2021)

Nel viaggio guidato da Pusterla si parte da La storia della lingua che rappresenta l’«incarnarsi della storia dentro le parole» per giungere a parole dialettali della valle del Moesa (regione Mesolcina) che sono il lascia passare di un paesaggio naturale spettacolare portatore di speranza, che a sua volta può essere motivo di minaccia, di pericolo per se stessi; sempre secondo il sistema binario associativo si passa dall’immagine del fiore di rosa facendo riferimento a momenti felici che inevitabilmente portano con sé momenti duri e di amarezza, per poi approdare a Sovrapposizioni a Berlino, in cui la bellezza e grandezza della capitale tedesca è accompagnata dall’«insensatezza» della mente umana attorno al Denkmal in memoria della Shoah. Si prosegue con il tema della colpa che l’uomo deve riconoscere dal passato storico caratterizzato da veri e propri volti di capri espiatori in una storia che ha avuto e avrà sempre un luogo e tempo definito nella memoria collettiva. Pusterla regala al pubblico la lettura di Sulcis: omaggio dedicato alla persona di Giovanni Orelli in occasione della scomparsa nel 2016; il poeta si alza in piedi per la lettura in onore al suo Maestro di vita ed è un momento in cui si stampa un sincero sorriso nel volto delle persone presenti, mentre al poeta luccicano gli occhi.

L’intensità raggiunta dai protagonisti lettori – e con ciò s’intendono non solo i poeti e autori dei testi, ma anche l’attore, Wolfram Schneider-Lastin, delle traduzioni dei testi in lingua tedesca – è premiata dal pubblico con un lungo applauso. Il piccolo pubblico, quasi esclusivamente di mezza età, è concorde ai temi trattati e ai rimandi storico-letterari che hanno accompagnato la serata. Eppure, i motivi delle poesie sono aperti anche al pubblico più giovane, proprio per il contatto che i versi permettono di instaurare tra un sentimento e l’altro di persona in persona, tra un paesaggio e l’altro di storia in storia.

Ein Mord im Tram: Saskia Gauthier liest im Krimitram

Das Tram rumpelt und rauscht vertraut, während vor dem Fenster ein herbstliches Zürich vorbeizieht. Fast so, als würde man zur Arbeit fahren. Doch im Ohr hat man die Stimme einer Frau, die von einem Mord im Glarnerland erzählt. Saskia Gauthier stellt im Krimitram ihren neuen Roman «Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli» vor. Um dies zu erleben stehen die Leute bereits vor dem Tram Schlange. Beim Betreten geht man an der Autorin vorbei, kann kurz grüssen und setzt sich danach auf die gewohnten holzigen Plätze.

Die Fachärztin für Rechtsmedizin liest drei Passagen aus ihrem neuen Roman vor und erzählt dazu Anekdoten aus ihrem Leben. Gaunthier ist nicht nur Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin in Aargau. Sie arbeitet zusammen mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft an Todesfällen und lässt ihre Expertise seit zwei Jahren in Bücher fliessen.

Der zweite Fall ihrer Ermittlerin Lisa Klee spielt in den Glarner Alpen. Ein Junge wird tot in einem Bergsee gefunden, das Dorf wird durch einen Bergrutsch von der Aussenwelt abgeschnitten. Lisa ist wie ihre Erschafferin Rechtsmedizinerin und widmet sich den Ermittlungen im kleinen Glarner Dorf. Fröhlich liest Gauthier von der Auswahl der Messer für die Obduktion und einer runzligen Milz, während das Tram vom Central den Berg hoch fährt. Als dann das Kunsthaus erreicht wird, wird erörtert, wie der Junge ermordet wurde. Gauthier hofft, dass niemandem schlecht werde bei diesen Ausführungen, für sie sei dies eben Alltag.

Nach dem zweiten Leseteil werden Fragen gestellt. Es ist so laut, dass sie jedoch im hinteren Teil des Trams kaum zu hören sind. Darf man im Krimi Kinder sterben lassen? Der Verlag habe genauso viel Mühe gehabt mit dem toten Kind im Buch wie sie, entgegnet Gauthier. Sie persönlich könne sich gut abgrenzen von den Fällen, die sie untersucht, doch Kinder seien immer schwierig. Ihr sei es ausserdem wichtig zu sagen, dass die Fälle aus ihren Büchern keine realen Todesfälle darstellen, aber aus rechtsmedizinischer Sicht korrekt dargestellt seien. So legt das Buch auch sehr viel Wert darauf, diesen Aspekt herauszustreichen.

Im Seefeld liest Gauthier eine dritte Passage des Buches und eine zweite Leiche wird gefunden. Die Ermittlungen von Lisa Klee gehen weiter, doch der*die Täter*in wird während der Fahrt natürlich noch nicht gefunden.

Die Fragen der Gäste sind etwas spärlich, was vermutlich auch durch die Tram-Situation gegeben ist. Eine Moderation fehlt aber dennoch nicht. Gauthier erzählt viel. Auch davon, dass ihre Romane bereits bei der Entstehung einen roten Faden haben und das Ende bereits zu Beginn feststeht. Als das Tram sich langsam wieder dem Bellevue nähert, spoilert Gauthier ihren dritten Band: die Rechtsmedizinerin Lisa zieht in den Aargau und löst dort einen neuen Fall.

Über Sprache, Quappen und Kinderbücher: Ein Nachmittag mit Elisa Shua Dusapin

Ich stehe vor dem Erkerzimmer im Karl und warte, dass ich zur Veranstaltung reingehen darf, da kommen Sandrine Charlot Zinsli und Ruth Gantert auch schon aus dem Raum und stellen sich als Moderatorin des Nachmittags und Übersetzerin vor. Die Autorin sei noch nicht da, sie komme direkt aus Paris und vielleicht sei der Zug verspätet. Kaum zwei Minuten später steht Elisa Shua Dusapin (das Shua spricht man Sua, wie sie uns erklärt) auch schon da. Der Raum füllt sich nur langsam und bleibt bis zum Schluss halbleer an diesem Sonntagnachmittag. Selbst schuld, wer sich so eine Autorin entgehen lässt – denn in Frankreich ist Dusapin bereits eine der ganz Grossen. Mit ihrem neuen Roman Le vieil incendie aktuell nominiert für den prix médecis, werden ihre Bücher mittlerweile in 38 Sprachen übersetzt. Sie reist den grössten Teil des Jahres, um ihre Bücher in verschiedensten Ländern vorzustellen, lebt aber eigentlich in Frankreich. Zum Schreiben komme sie nur, wenn sie sich die Zeit dazu bewusst nehme, sagt sie.

Kurz darauf bin ich froh um unsere kleine Gruppe. Die Atmosphäre im Raum ist ruhig und doch knisternd, vorgespannt. Denn sobald Elisa Shua Dusapin über Kinderbücher, und vor allem ihren Comic le Colibri spricht, dann leuchten ihre Augen – es ist ein Herzensprojekt, dass sie damit realisiert hat.

Ursprünglich wurde Duspain angefragt, um die Theateradaption zu schreiben – sie wollte aber nicht einfach eine Vorlage umsetzen, sondern etwas Eigenes schaffen. Neben dem Theater gibt es auch noch den Comic, ein Audiobuch und eine musikalische Umsetzung. Die Musik hat das Orchestre de la Suisse Romande komponiert. Musik und Theater waren schon vor der Literatur wichtige Teile in Dusapins Leben. Und auch die Kinderliteratur hat einen festen Platz in ihrem Schaffen – zwischen ihren Romanen schreibe sie immer ein Kinderbuch, das gebe ihr mehr Freiheit beim Schreiben.

In le Colibri geht es um einen Jungen, Céléstin, dessen älterer Bruder Himmelsforscher (explorateur du ciel) geworden ist. Céléstin lernt Lotte (das E muss man aussprechen, ansonsten ist es im Französischen ein schrecklicher Fisch, eine Quappe) kennen, die ihm einen Colibri gibt. Der Colibri, zu Beginn starr und unbeweglich, wird zur Metapher für Céléstins verstorbenen Bruder. So schreibt Dusapin am liebsten in florierenden Metaphern, sodass sie Leser:innen den Raum gibt, selbst zu interpretieren.

Die Sprache ist immer zentral in Dusapins Werken – sie selbst ist Tochter eines Franzosen und einer Südkoreanerin, wuchs unter anderem im Jura auf und studierte dann in Biel. Als Kind sei sie in der Familie oft diejenige gewesen, die übersetzt habe. So geht es in ihren Büchern immer darum, wie verschiedene Menschen miteinander kommunizieren, obwohl sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Passend dazu ist die Veranstaltung auf Französisch mit Übersetzung auf Deutsch, Moderatorin und Übersetzerin harmonieren miteinander – die eingeschobenen deutschen Passagen tun der Stimmung keinen Abbruch.

Dusapin wirkt sehr überlegt, manchmal nachdenklich, aber immer mit einem Funkeln in den Augen, mit einer Neugierde, neue Ideen zu finden und so lauscht das comité intime, wie Sandrine Zinsli unseren Kreis passend bezeichnet, die ganze Zeit gebannt auf Deutsch und auf Französisch den Geschichten von Elisa Shua Dusapin, denn die erzählt sie wunderbar.

Was verbirgt sich hinter Toni?

Als Alan Schweingruber zwischen hölzernen Deckenbalken und abstrakten Kunstwerken in der Galerie Reitz aus seinem neusten Roman vorliest, fühlt es sich an wie ein kalter Winterabend vor dem warmen Cheminée. «Die normale Geschichte des Toni Geiser» erzählt von einem etwas merkwürdig anmutenden Mann, der in einer Waldhütte lebt, und der Liebesgeschichte zweier junger Leute, die genau so schön wie kompliziert ist.

Schweingruber füttert uns mit Ausschnitten seiner Erzählung, die Einblick genug geben, um neugierig zu machen, die aber doch genug verborgen halten, um das Überraschungsspiel des Romans nicht zu ruinieren. Sara Wegmann, die wie Schweingruber beim Telegramme-Verlag ihre Bücher herausgibt, versichert, dass man die Brille, mit der man die Welt sehe, beim Lesen des Romans mehrmals hinterfragen werde.

Vom Journalisten zum Autor

Ursprünglich ist Schweingruber Experte darin, schnell und kurz zu schreiben. Als früherer Sportjournalist ist er sich gewohnt, im Rummel eines vollen Stadiums Bericht zu erstatten und Texte zu schreiben, die in 45 Minuten auf die Redaktion müssen. Das sei schön und gut gewesen, doch er habe Lust gehabt, etwas Langes zu schreiben, etwas, das dauert. Denn darin verstecke sich das Literarische. Trotzdem scheint diese Spontanität und Intuition auch in seinem jetzigen Schreiben durch. «Meine Figuren sind nicht am Reissbrett entworfen», sagt Schweingruber. Das Chaos brauche er ein bisschen, um kreativ zu sein.

Trotzdem geht dem Roman die Raffinesse nicht verloren. In den drei vorgelesenen Ausschnitten wird schnell ersichtlich, dass Schweingruber weiss, was er tut. Eine aufmerksame Zuhörerin bemerkt, dass bei einem vorgelesenen Ausschnitt in die Ich-Perspektive gewechselt wurde. Das sei schon Absicht, meint Schweingruber dazu. Das Schreiben in der Ich-Form habe einen anderen Drive und man sei näher an der Figur. Er wechsle dann aber auch wieder zurück. Dadurch entsteht ein Spiel der Nähe und Distanz zu den Figuren.

Was es mit dem Protagonisten des Romans Toni Geiser auf sich hat, verrät uns der Autor nicht. Schweingruber liest zwar den Beginn des Romans vor, bei dem sich Toni in einer einsamen Waldhütte aufhält und auf drei nervige Jugendliche stösst, wobei einer von einem Wildschwein angegriffen wird. Doch die nächste vorgelesene Passage handelt vom Schüler Richard und der Köchin Isabelle, die sich im Laufe der Geschichte unweigerlich ineinander verlieben werden. «Ich wollte, dass man am Anfang Toni kennenlernt und sich fragt, warum er so ist, wie er ist», sagt Schweingruber. Die Auflösung dazu folgt aber erst viel später. Der Grossteil des Romans handelt von der Liebesgeschichte zwischen Richard und Isabelle. Dabei kommen auch Themen wie Erwachsenwerden, Familie und Freundschaft zum Zug.

«Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.»

Alan Schweingruber

Sehr präsent in «Die normale Geschichte des Toni Geiser» ist der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben. Das hat auch etwas mit den persönlichen Erlebnissen des Autors zu tun. «Seit der Pandemie bin ich viel naturverbundener», so Schweingruber. Er gehe natürlich schon noch in die Stadt und unter die Menschen, aber früher hatte es nie genug sein können. «Ich wusste, dass mein nächster Roman irgendwo in der Abgeschiedenheit spielen würde.» Schlussendlich ist es zwar eine Waldhütte in der Nähe einer Stadt geworden, doch das ganze Buch spielt hauptsächlich an ruhigen Orten. Der Spannung tut dies keinen Abbruch, denn mit Schweingrubers detailgetreuem Erzählstil kann man sich sowohl die Figuren als auch die wechselnde Umgebung lebhaft vorstellen.

Als wir mit Liebeskummer, einer Kündigung und dem Wiedertreffen der Exfreundin konfrontiert worden sind, fühlt sich der Abend nicht mehr so wohlig warm wie am Cheminée an. Wir sind zwar in die Realität zurückgeholt worden, doch ohne eine Weisheit entlässt uns Schweingruber nicht auf den dunklen Heimweg. Schlechte Tage, wie es die Figuren in seinem Roman habe, gebe es immer. «Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.» Wenn er den Zug verpasse, schaue er, was in der nächsten halben Stunde passiert. Denn hätte er den Zug nicht verpasst, hätte es diese 30 Minuten gar nicht gegeben. Vielleicht sollten wir in Zukunft alle mehr Schweingrubers Einstellung übernehmen und uns vom Leben wie auch von «Die normale Geschichte des Toni Geiser» überraschen lassen.

Eine Sprache für sich allein

Adi Blum, Akkordeonist der Spoken-Word-Combo Bern ist überall, begrüsst das Publikum mehrsprachig, bleibt beim Englischen und erzählt von seiner Reise durch Albanien, die ihn schliesslich bis Skopje führt, wo er im Restaurant ein Bier bestellt, bekommt und sich prompt – noch vom Albanischen umgarnt – bedankt: «Faleminderit!» – «Sorry man, this is the wrong language!» Und so beginnt die Wrong Language Tour, denn hier geht es darum herauszufinden: What is the wrong language?

Die heutigen sechs Geschichtenerzähler:innen kommen aus Kosova, Serbien und der Schweiz. Adi Blum stellt sie in ihren eigenen Worten vor: Jovana Ilkić, die Wahrsagerin, balanciert ihre Gedichte zwischen dem Englischen und Serbischen hin und her, übersetzt, überschreibt, überspricht die Sprache(n) und ihre Wörter. Adelina Tershani, die laute Feministin, bleibt im Albanischen, die englischen Übertitel im sogar Theater passen sich ihrem Lesefluss an. Wieso sie ein Visum brauche, fragt sie.

Ist Kosova nicht der 27. Kanton der Schweiz?

Adelina Tershani

Maša Seničić, die Sprechende oder Laufende, setzt sich mit der Genauigkeit der Wörter und ihrer Übersetzung auseinander. Denn eine falsche Sprache ist die, die sich selbst zu ernst nimmt.  

Gerhard Meister, Schreiber und Auftreterhätt gärn es Glas Wasser, aber chas denn nöd eso guet usdrücke, schtolperet über siini eigene Wörter, es git für ihn kei falschi Schpraach, nur e falsche Kontegscht! Nach Antoine Jaccourd, IntermittentFastingAmateur, beginnt Poesie mit Sprache – aber Probleme auch. In seinem Altersheim erzählt er auf Französisch von Menschen vom Balkan, die in Schweizer Altersheimen wohnen.

C’est mieux de mourir ici que là-bas, mais quand mêmes…

Antoine Jaccourd

Für Agon Rexhepi ist die falsche Sprache Hass, spricht über Antonyme und Homonyme – Homos, sagt er und als Albaner kann er kein Homo sein, oder? 

we say hate speech
they say freedom of speech

we say periods
they say aunts are visting

we say mental health issue
they say retarded

Agon Rexhepi

Untermalt wird die Veranstaltung musikalisch von Anna Trauffer, die es hasst, wenn Personen von sich selbst in dritter Person erzählen: «Nei, Mami hett das nöd gern!» Sie, die siebte Person im Bunde, singt auf Italienisch, Deutsch und Schweizerdeutsch.

Politics, Sexisme, Klimawandel, Идентитет und Decadencë. Und ich höre zu, ich lese, ich beobachte, ich schreibe Deutsch, Englisch, Serbisch, Französisch, Albanisch und Dütsch, vergesse the words, les bons mots, гдje ли су? Nuk e di.

«Das letzte Buch» – ein Gespräch über das Sterben

Ich schlage mich bei Karl*a durch das lebendige Gewühl im Erdgeschoss zum Barockzimmer hoch, in den schwarzen Stuhlreihen sind noch ein paar Plätze frei. Gleich fällt mir auf, dass die meisten im Publikum ebenfalls schwarz gekleidet sind – sehr passend, wie ich finde. Die Stimmung ist spürbar konzentriert, alle haben sich auf die schwierige Thematik des Abends eingestellt.

Im neonpinken Blazer tritt die Moderatorin des Abends, Anne Rüffer, gemeinsam mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff, ein. Das Gespräch wird eröffnet und der Blick auf das Werk und Thema des heutigen Abends, ebenfalls in pinkem Umschlag, gelenkt: «Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben».

Herausgegeben von Caduff und erschienen bei Rüffers Verlag wird bereits zu Beginn klar, wie viel persönliche Sorgfalt und Hingabe in diesem Projekt stecken. Das Buch stellt eine Sammlung von Auszügen aus neun Sterbebüchern, vorwiegend aus den 2010er Jahren, dar. Ist es auch dieser Zeitraum, welchem das Genre dieser autobiographischen Sterbeliteratur entstammt, so Caduffs These.

«Im Sterben sind wir alle Anfänger*innen.»

Corina Caduff

Sterben und der Tod sind gleichsam universale wie auch persönliche Erfahrungen, zeitlos und zeitspezifisch zugleich. Jede*r stirbt, abhängig von Kultur, Alter und Umfeld, anders. Fragen und Aspekte wie gesellschaftlicher Erwartungsdruck, Verfall des eigenen Körpers, Angst und Sprachlosigkeit, beschäftigen uns dennoch alle gleichermassen. Gerade durch den letzten Punkt wird sichtbar, dass eine solche Extremsituation eine neue Art von Sprache erfordert: Was soll man zu einem Zustand sagen, der nicht verbalisiert werden kann?

Auch das Publikum ist ruhig, alle Blicke sind nach vorne gerichtet und eine beinahe andächtige Atmosphäre hat sich ausgebreitet. Besonders bei den Stellen, an welchen vorgelesen wird, ist Empathie und Anerkennung zu spüren. Das pointierte Greifen einer unbegreifbaren Situation durch die Autor*innen, sei es via Humor oder Wut, berührt sehr. Es ist überraschend befreiend über das Sterben lesen und sprechen zu können.

Wem ist die Lektüre also zu empfehlen? Besonders den Palliativpflegekräften, meint Caduff, und natürlich auch Angehörigen und Betroffenen. Aber schlussendlich uns Allen: «Für mehr Empathie dem eigenen zukünftigen Ich gegenüber».

Was für ein Blick!

Völlig unkonventionell ist die Ausstellung von Anna Sommers neuem Buch mit dem Titel Tinte (2023), die im Verlag Edition Moderne stattfindet, in dem das Buch erschienen ist. Keine Stühle, kein Podium, keine selektive Warteschlange: Umgangssprachlicher und dialektaler Ansatz bei der Präsentation; Die Ausstellung steht allen offen, und solange man drinnen ist, kann man die Worte der Künstlerin hören, welche dieses besondere stille Buch geschrieben hat.

Die Gesprächspartnerin Anna Sommers ist Julia Marti, die ein Drittel der Leitung der Edition Moderne ausmacht. Sie bittet das Publikum gleich zu Beginn um ein paar Minuten Aufmerksamkeit, denn die Anwesenden stehen dicht gedrängt. Doch die Besonderheit dieser kurzen Ausstellung einer Graphic Novel liegt eher in der Spontaneität als in der Präzision und Langatmigkeit.

Die Verlagsleitung besteht aus sehr jungen Leuten; Julia Marti möchte dem Publikum ihre beiden anderen Mitarbeiterin vorstellen, die angesichts der kleinen und beengten Räumlichkeiten draussen geblieben, sind, und fragt spontan: «Wo sind sie? Vielleicht draussen beim Rauchen?» Die Reaktion des Publikums ist ebenso spontan, angesichts der Situation der Präsentation der Autorin und des Buches, laut lachend und fast amüsiert. Danach wird die Atmosphäre ernster und konzentrierter, als Fragen an der Autorin des Buches gestellt werden, welche sich durch das Weinen eines Kindes nicht stören lässt.

Für ihre Bildergeschichte liess sich Anna Sommer von der Daruma-Figur, einem japanischen Glücksbringer, inspirieren. Diese Figur hat keine Augen, das linke Auge wird zu dieser Figur gezogen, wenn ein Wunsch beginnt, erfüllt zu werden; das rechte Auge wird gezogen, wenn der Wunsch erfüllt ist.

Die Protagonistin der illustrierten Geschichte bemalt ihr linkes Auge, während der Schimpanse die restliche Tinte trinkt, die sie zum Bemalen des linken Auges benötigt. Hier beginnt die Jagd nach Tinte, welche die Frau bei mehreren Abenteuern begleitet. Auf der Suche nach Tinte wird sie schliesslich fündig und es gelingt ihr, das rechte Auge auf ihr Gesicht zu pinseln, aber es ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.

Die Besonderheit der Materialumsetzung dieses Buches ist der Arbeit der Autorin zu verdanken, welche für ihre Figuren weder Bleistift noch Pinsel, sondern ein Messer zum Ausschneiden ihrer lebhaften Szenen verwendet hat. Mit Hilfe von Japanpapier, das weich und für diese Art von Arbeit geeignet ist, schneidet die Autorin die Formen ihrer Figuren buchstäblich aus und setzt sie dann auf dem gewählten Hintergrund zusammen. Das besondere Material des Werkes hat die Wahl der Erzählung in gewisser Weise beeinflusst, so dass es viele Elemente gibt, die sich auf die Natur mit ihren runden, klaren Formen und schönen Landschaften beziehen.

Julia Marti betont, dass jedes konstruierte Bild ein Kunstwerk für sich ist und hinterfragt die Beziehung zwischen der Geschichte und den einzelnen Sequenzen. Dazu sagt Anna Sommer, dass sie dank dieser Arbeitsweise mehr Freiheiten gehabt hat: Ohne Worte kann alles variieren, ohne eine abgegrenzte Storyboard kann alles eine andere Form annehmen. Es war eine ständige Überraschung für sie, und irgendwann hatte sie den Dreh raus.

Der schönste Teil der Ausstellung war sicherlich der letzte Teil, in dem man über das Produkt eines solchen besonderen Werks nachdenkt: Man kauft das Buch, blättert es durch und schaut sich jedes Detail genau an, um so viele Informationen wie nötig zu erfassen, um die Botschaft des Textes zu verstehen. Auch wenn es sich um ein Bild handelt, ist es ein Text, das sollte man nicht vergessen: ein Buch ist eine Form von Text und die Einzigartigkeit der Graphic Novel liegt wahrscheinlich darin, dass man seinen Gedanken freien Lauf lassen und geschlossene Schemata vermeiden kann. Es verändert sich auch die Sichtweise, je nachdem, was man erlebt hat. Das gilt auch für die Protagonistin von Tinte: Am Ende ihres Abenteuers hat sie es geschafft, ihr rechtes Auge zu malen, ein bisschen hart, aber sie hat es geschafft. Was ist wichtig, wie oder was wird die Erfüllung erreicht? Jedem und jeder seine eigene Vorstellung.

Sofalesung: Olga Lakritz – «Das Ampfermädchen»

Totgeburten, Maden, Eis und Schweigen.

Es ist Sonntag.

Gelesen werden drei Passagen aus der ersten Hälfte des Textes, die Lesungen durch zwei Gespräche mit der Moderatorin zur Makrostruktur des Abends segmentiert. Geendet wird mit dem Anfang, begonnen später.

Jaaa… Es ist eine Interpretationsfrage, glaube ich, ob es eine Geschichte ergibt.

Olga Lakritz auf eine Frage der Moderatorin Aleks Sekanić

Die ausgewählten Textstellen vermitteln Themen, Bilder und das strukturelle Prinzip des Gesamttextes, konkret: Einsamkeit als Gemeinsamkeit in der (Familien-)Gemeinschaft, Sprachlosig-/ und Unverständlichkeit, das Streicheln totgeborener Kühe und der vergebliche Versuch einer Lebensgeschichte in fortwährenden Kreisbewegungen, die vom Anfang weiter immer zum Anfang schreitet.

Wenn man fünfmal sagt: „Ich bin traurig“, dann bedeutet es irgendwie nichts mehr.

Olga Lakritz

Die dominierenden Bilder von toten Tieren, Blut und geschundenen Körpern kommen in einem der Gesprächssegmente zum Tragen, im Verlaufe dessen die verbildlichte Körperlichkeit als Möglichkeit des Ausdrucks von Emotion gegenüber dem blossen verblassenden Benennen eines Empfindungszustandes herausgehoben wird.

Davon abgeleitet wird auch ein weiterer Aspekt deutlich: Die sprachliche Akzentuierung eines stark figural-tropisch geprägten Stils lässt die Frage nach dem Poetischen in diesem weniger prosaischen Roman aufkommen.

An Genrekonventionen denke ich jetzt nicht per se.

Olga Lakritz

Wo nun die Prosa und die Geschichte stecken, kann aber auch gleich sein, wenn sich aus der Suche nach einer Lebensnarration eine unablässige Rückkehrbewegung und damit einhergehende Durchwirkung verschiedener Zeitebenen durch Totes und Mögliches ergeben, die eine Abfolge von Szenen ermöglichen, welche für den Rahmen einer Lesung in gebannter Stille geradezu geschaffen scheinen.