Frieden dem Unfrieden – warum Gotthelf immer aktuell ist

Jeremias Gotthelfs Werk erhält eine «Zürcher Ausgabe»! Die ersten drei Bände sind seit dem 25. Oktober beim Diogenes Verlag erhältlich. Zu diesem Anlass trafen sich Literaturprofessor Philipp Theisohn (Disclaimer: Herausgeber auch des Schweizer Buchjahrs), welcher die Neuauflage herausgibt, und die bekannte Autorin Monika Helfer, die als «Gotthelf-affine» Autorin ein Nachwort für «Uli der Pächter» verfasst hat. Die Frage, die sie gemeinsam zu beantworten suchen: Kann man Gotthelf heute überhaupt noch lesen? Die Vielzahl der Anwesenden am Freitagabend deutet an – ja, kann man!


Gastgeber ist an diesem Abend ein Salon. Und sehr gemütlich ist es im Salon zum Rehböckli! Man fühlt sich, als ob man bei jemandem zu einem Abendessen eingeladen ist und vor dem Essen noch ein wenig über Literatur spricht. Der Holzboden, das gedimmte Licht und eine Katze, die sich auf dem Sofa ausbreitet und streicheln lässt, haben einen entspannenden Effekt auf das Publikum.


Die Veranstaltung startet mit der Autobiographie von Jeremias Gotthelf, dessen Leben auf ein paar wenigen Seiten zusammengefasst werden kann, wenn man sich an die Eckdaten hält. Aber er habe trotzdem genügend Stoff für seine Werke gefunden, merkt Herausgeber Theisohn an. Gotthelf, der bürgerlich eigentlich Bitzius hiess, musste für seine Vorgesetzten häufig Berichte über die Ereignisse und Missstände in seiner Pfarreigemeinde anfertigen. Seine Erzählungen, besonders auch die «Uli»-Bücher, erben diese Feinfühligkeit für ihre Figuren.


Diese Sorgfalt und Empathie für Figuren, die nicht immer perfekt sind, sondern auch Schwächen haben, zieht auch Monika Helfer schon seit langem zu Jeremias Gotthelfs Werk. Als Kind habe sie oft Gotthelf-Hörbücher gehört. Die österreichische Autorin ist auch in ihrem eigenen Schreiben von solchen Charakteren fasziniert. «Ist nicht deine Gloria ein wenig wie Gotthelfs Elisi?», fragt Theisohn schmunzelnd. Damit ist eine Figur in Helfers neuem Roman «Die Jungfrau» gemeint, der gerade dieses Jahr erschienen ist und von einer jahrelangen Freundschaft zwischen zwei Frauen handelt.


Schliesslich kommen die beiden auf die Bedeutung des Geldes in Gotthelfs Romanen zu sprechen. Geld vor allem im Sinn vom richtigen Umgehen damit, wie sowohl Gier als auch Faulheit für Uli Konsequenzen haben. Helfer greift im Nachwort zu «Uli der Pächter» diesen Aspekt ebenfalls auf. In einer kurzen Erzählung wird Uli zum Hotelier in einem Ausflugsgebiet und muss sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen wie als Knecht und Pächter. Der Beweis also, dass die Uli-Geschichten kaum an Aktualität verloren haben.

Was verbirgt sich hinter Toni?

Als Alan Schweingruber zwischen hölzernen Deckenbalken und abstrakten Kunstwerken in der Galerie Reitz aus seinem neusten Roman vorliest, fühlt es sich an wie ein kalter Winterabend vor dem warmen Cheminée. «Die normale Geschichte des Toni Geiser» erzählt von einem etwas merkwürdig anmutenden Mann, der in einer Waldhütte lebt, und der Liebesgeschichte zweier junger Leute, die genau so schön wie kompliziert ist.

Schweingruber füttert uns mit Ausschnitten seiner Erzählung, die Einblick genug geben, um neugierig zu machen, die aber doch genug verborgen halten, um das Überraschungsspiel des Romans nicht zu ruinieren. Sara Wegmann, die wie Schweingruber beim Telegramme-Verlag ihre Bücher herausgibt, versichert, dass man die Brille, mit der man die Welt sehe, beim Lesen des Romans mehrmals hinterfragen werde.

Vom Journalisten zum Autor

Ursprünglich ist Schweingruber Experte darin, schnell und kurz zu schreiben. Als früherer Sportjournalist ist er sich gewohnt, im Rummel eines vollen Stadiums Bericht zu erstatten und Texte zu schreiben, die in 45 Minuten auf die Redaktion müssen. Das sei schön und gut gewesen, doch er habe Lust gehabt, etwas Langes zu schreiben, etwas, das dauert. Denn darin verstecke sich das Literarische. Trotzdem scheint diese Spontanität und Intuition auch in seinem jetzigen Schreiben durch. «Meine Figuren sind nicht am Reissbrett entworfen», sagt Schweingruber. Das Chaos brauche er ein bisschen, um kreativ zu sein.

Trotzdem geht dem Roman die Raffinesse nicht verloren. In den drei vorgelesenen Ausschnitten wird schnell ersichtlich, dass Schweingruber weiss, was er tut. Eine aufmerksame Zuhörerin bemerkt, dass bei einem vorgelesenen Ausschnitt in die Ich-Perspektive gewechselt wurde. Das sei schon Absicht, meint Schweingruber dazu. Das Schreiben in der Ich-Form habe einen anderen Drive und man sei näher an der Figur. Er wechsle dann aber auch wieder zurück. Dadurch entsteht ein Spiel der Nähe und Distanz zu den Figuren.

Was es mit dem Protagonisten des Romans Toni Geiser auf sich hat, verrät uns der Autor nicht. Schweingruber liest zwar den Beginn des Romans vor, bei dem sich Toni in einer einsamen Waldhütte aufhält und auf drei nervige Jugendliche stösst, wobei einer von einem Wildschwein angegriffen wird. Doch die nächste vorgelesene Passage handelt vom Schüler Richard und der Köchin Isabelle, die sich im Laufe der Geschichte unweigerlich ineinander verlieben werden. «Ich wollte, dass man am Anfang Toni kennenlernt und sich fragt, warum er so ist, wie er ist», sagt Schweingruber. Die Auflösung dazu folgt aber erst viel später. Der Grossteil des Romans handelt von der Liebesgeschichte zwischen Richard und Isabelle. Dabei kommen auch Themen wie Erwachsenwerden, Familie und Freundschaft zum Zug.

«Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.»

Alan Schweingruber

Sehr präsent in «Die normale Geschichte des Toni Geiser» ist der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben. Das hat auch etwas mit den persönlichen Erlebnissen des Autors zu tun. «Seit der Pandemie bin ich viel naturverbundener», so Schweingruber. Er gehe natürlich schon noch in die Stadt und unter die Menschen, aber früher hatte es nie genug sein können. «Ich wusste, dass mein nächster Roman irgendwo in der Abgeschiedenheit spielen würde.» Schlussendlich ist es zwar eine Waldhütte in der Nähe einer Stadt geworden, doch das ganze Buch spielt hauptsächlich an ruhigen Orten. Der Spannung tut dies keinen Abbruch, denn mit Schweingrubers detailgetreuem Erzählstil kann man sich sowohl die Figuren als auch die wechselnde Umgebung lebhaft vorstellen.

Als wir mit Liebeskummer, einer Kündigung und dem Wiedertreffen der Exfreundin konfrontiert worden sind, fühlt sich der Abend nicht mehr so wohlig warm wie am Cheminée an. Wir sind zwar in die Realität zurückgeholt worden, doch ohne eine Weisheit entlässt uns Schweingruber nicht auf den dunklen Heimweg. Schlechte Tage, wie es die Figuren in seinem Roman habe, gebe es immer. «Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.» Wenn er den Zug verpasse, schaue er, was in der nächsten halben Stunde passiert. Denn hätte er den Zug nicht verpasst, hätte es diese 30 Minuten gar nicht gegeben. Vielleicht sollten wir in Zukunft alle mehr Schweingrubers Einstellung übernehmen und uns vom Leben wie auch von «Die normale Geschichte des Toni Geiser» überraschen lassen.

«Das letzte Buch» – ein Gespräch über das Sterben

Ich schlage mich bei Karl*a durch das lebendige Gewühl im Erdgeschoss zum Barockzimmer hoch, in den schwarzen Stuhlreihen sind noch ein paar Plätze frei. Gleich fällt mir auf, dass die meisten im Publikum ebenfalls schwarz gekleidet sind – sehr passend, wie ich finde. Die Stimmung ist spürbar konzentriert, alle haben sich auf die schwierige Thematik des Abends eingestellt.

Im neonpinken Blazer tritt die Moderatorin des Abends, Anne Rüffer, gemeinsam mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff, ein. Das Gespräch wird eröffnet und der Blick auf das Werk und Thema des heutigen Abends, ebenfalls in pinkem Umschlag, gelenkt: «Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben».

Herausgegeben von Caduff und erschienen bei Rüffers Verlag wird bereits zu Beginn klar, wie viel persönliche Sorgfalt und Hingabe in diesem Projekt stecken. Das Buch stellt eine Sammlung von Auszügen aus neun Sterbebüchern, vorwiegend aus den 2010er Jahren, dar. Ist es auch dieser Zeitraum, welchem das Genre dieser autobiographischen Sterbeliteratur entstammt, so Caduffs These.

«Im Sterben sind wir alle Anfänger*innen.»

Corina Caduff

Sterben und der Tod sind gleichsam universale wie auch persönliche Erfahrungen, zeitlos und zeitspezifisch zugleich. Jede*r stirbt, abhängig von Kultur, Alter und Umfeld, anders. Fragen und Aspekte wie gesellschaftlicher Erwartungsdruck, Verfall des eigenen Körpers, Angst und Sprachlosigkeit, beschäftigen uns dennoch alle gleichermassen. Gerade durch den letzten Punkt wird sichtbar, dass eine solche Extremsituation eine neue Art von Sprache erfordert: Was soll man zu einem Zustand sagen, der nicht verbalisiert werden kann?

Auch das Publikum ist ruhig, alle Blicke sind nach vorne gerichtet und eine beinahe andächtige Atmosphäre hat sich ausgebreitet. Besonders bei den Stellen, an welchen vorgelesen wird, ist Empathie und Anerkennung zu spüren. Das pointierte Greifen einer unbegreifbaren Situation durch die Autor*innen, sei es via Humor oder Wut, berührt sehr. Es ist überraschend befreiend über das Sterben lesen und sprechen zu können.

Wem ist die Lektüre also zu empfehlen? Besonders den Palliativpflegekräften, meint Caduff, und natürlich auch Angehörigen und Betroffenen. Aber schlussendlich uns Allen: «Für mehr Empathie dem eigenen zukünftigen Ich gegenüber».

Was für ein Blick!

Völlig unkonventionell ist die Ausstellung von Anna Sommers neuem Buch mit dem Titel Tinte (2023), die im Verlag Edition Moderne stattfindet, in dem das Buch erschienen ist. Keine Stühle, kein Podium, keine selektive Warteschlange: Umgangssprachlicher und dialektaler Ansatz bei der Präsentation; Die Ausstellung steht allen offen, und solange man drinnen ist, kann man die Worte der Künstlerin hören, welche dieses besondere stille Buch geschrieben hat.

Die Gesprächspartnerin Anna Sommers ist Julia Marti, die ein Drittel der Leitung der Edition Moderne ausmacht. Sie bittet das Publikum gleich zu Beginn um ein paar Minuten Aufmerksamkeit, denn die Anwesenden stehen dicht gedrängt. Doch die Besonderheit dieser kurzen Ausstellung einer Graphic Novel liegt eher in der Spontaneität als in der Präzision und Langatmigkeit.

Die Verlagsleitung besteht aus sehr jungen Leuten; Julia Marti möchte dem Publikum ihre beiden anderen Mitarbeiterin vorstellen, die angesichts der kleinen und beengten Räumlichkeiten draussen geblieben, sind, und fragt spontan: «Wo sind sie? Vielleicht draussen beim Rauchen?» Die Reaktion des Publikums ist ebenso spontan, angesichts der Situation der Präsentation der Autorin und des Buches, laut lachend und fast amüsiert. Danach wird die Atmosphäre ernster und konzentrierter, als Fragen an der Autorin des Buches gestellt werden, welche sich durch das Weinen eines Kindes nicht stören lässt.

Für ihre Bildergeschichte liess sich Anna Sommer von der Daruma-Figur, einem japanischen Glücksbringer, inspirieren. Diese Figur hat keine Augen, das linke Auge wird zu dieser Figur gezogen, wenn ein Wunsch beginnt, erfüllt zu werden; das rechte Auge wird gezogen, wenn der Wunsch erfüllt ist.

Die Protagonistin der illustrierten Geschichte bemalt ihr linkes Auge, während der Schimpanse die restliche Tinte trinkt, die sie zum Bemalen des linken Auges benötigt. Hier beginnt die Jagd nach Tinte, welche die Frau bei mehreren Abenteuern begleitet. Auf der Suche nach Tinte wird sie schliesslich fündig und es gelingt ihr, das rechte Auge auf ihr Gesicht zu pinseln, aber es ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.

Die Besonderheit der Materialumsetzung dieses Buches ist der Arbeit der Autorin zu verdanken, welche für ihre Figuren weder Bleistift noch Pinsel, sondern ein Messer zum Ausschneiden ihrer lebhaften Szenen verwendet hat. Mit Hilfe von Japanpapier, das weich und für diese Art von Arbeit geeignet ist, schneidet die Autorin die Formen ihrer Figuren buchstäblich aus und setzt sie dann auf dem gewählten Hintergrund zusammen. Das besondere Material des Werkes hat die Wahl der Erzählung in gewisser Weise beeinflusst, so dass es viele Elemente gibt, die sich auf die Natur mit ihren runden, klaren Formen und schönen Landschaften beziehen.

Julia Marti betont, dass jedes konstruierte Bild ein Kunstwerk für sich ist und hinterfragt die Beziehung zwischen der Geschichte und den einzelnen Sequenzen. Dazu sagt Anna Sommer, dass sie dank dieser Arbeitsweise mehr Freiheiten gehabt hat: Ohne Worte kann alles variieren, ohne eine abgegrenzte Storyboard kann alles eine andere Form annehmen. Es war eine ständige Überraschung für sie, und irgendwann hatte sie den Dreh raus.

Der schönste Teil der Ausstellung war sicherlich der letzte Teil, in dem man über das Produkt eines solchen besonderen Werks nachdenkt: Man kauft das Buch, blättert es durch und schaut sich jedes Detail genau an, um so viele Informationen wie nötig zu erfassen, um die Botschaft des Textes zu verstehen. Auch wenn es sich um ein Bild handelt, ist es ein Text, das sollte man nicht vergessen: ein Buch ist eine Form von Text und die Einzigartigkeit der Graphic Novel liegt wahrscheinlich darin, dass man seinen Gedanken freien Lauf lassen und geschlossene Schemata vermeiden kann. Es verändert sich auch die Sichtweise, je nachdem, was man erlebt hat. Das gilt auch für die Protagonistin von Tinte: Am Ende ihres Abenteuers hat sie es geschafft, ihr rechtes Auge zu malen, ein bisschen hart, aber sie hat es geschafft. Was ist wichtig, wie oder was wird die Erfüllung erreicht? Jedem und jeder seine eigene Vorstellung.

Survivante – Lesung mit Julie Guinand und Aurelia Zanetti

Lavaterhaus, kurz vor 18.30 Uhr an einem Freitagabend. Die Sonne geht unter, während ich mich auf den Weltuntergang in «Die Überlebende» vorbereite. Als ich den Lesesaal betrete, empfängt mich eine gelassene und herzliche Atmosphäre: Menschen unterhalten sich miteinander und lachen. Die Stühle füllen sich nach und nach, bis alle Plätze besetzt sind. Alle blicken gespannt nach vorne, als Michael Frick, der Verleger und Moderator des Abends, das Wort ergreift. Mit Stolz stellt er Aurelia Zanetti, die Übersetzerin des Buches, und Julie Guinand, die Autorin von «Survivante», vor.

Die Zuschauer erfahren, dass die Lesung abwechselnd auf Deutsch und Französisch gehalten wird, wobei die Übersetzung der Passagen eingeblendet wird. Ich höre ein erleichtertes Aufatmen einiger Zuschauer und schätze die sorgfältige Organisation, um die sprachliche Hürde zu überwinden. Julie Guinand tritt vor das Mikrofon und liest den ersten Abschnitt ihres Werkes, das in Form eines Tagebuchs verfasst ist. Alle Augen sind auf sie gerichtet, und wir lauschen gebannt, wie sie von einem Stromausfall und dem daraus resultierenden apokalyptischen Szenario in ihrem Buch erzählt. Ich überprüfe, ob das elektrische Licht im Lavaterhaus noch brennt – es brennt noch.

Aurelia Zanetti setzt die Lesung mit der deutschen Übersetzung fort. Dieses Wechselspiel zwischen den Sprachen gibt uns abwechselnd Einblick in das Buch, und ich denke, was für ein harmonisches Duo die beiden bilden. Michael Frick unterbricht diese Wechsel an den richtigen Stellen und ermöglicht so ein Gespräch mit der Autorin, das anschliessend von der Übersetzerin ins Deutsche übertragen wird. Dabei erfahren wir nicht nur zentrale Aspekte des Buches, sondern auch die Kontexte, in denen Julie Guinand dieses Werk entstehen liess. Gelegentlich brach leichtes Gelächter aus, ausgelöst durch den Humor der Autorin.

Die Lesung setzte sich fort und wurde zwischendurch musikalisch von «Débranche!» von France Gall begleitet, das im Buch vorkommt und nun im Lavaterhaus ertönte, oder waren wir vielleicht gerade in die Welt des Buches transportiert worden?

Es folgten weitere Abschnitte, Gespräche und eine lebhafte Diskussion mit dem begeisterten Publikum, das interessierte Fragen stellte, die Julie Guinand bereitwillig beantwortete. Die Lesung endete pünktlich und wurde mit tosendem Applaus belohnt, meiner Meinung nach völlig verdient. Mein Fazit des Abends: abwechslungsreich, grenzüberschreitend und schlichtweg beeindruckend.

Wenn Pelzmäntel Geschichten erzählen

Nur zwölf Lesungen macht Uwe Timm jeweils mit einem neuen Buch. So ist es nicht ganz einfach, den Autor der Entdeckung der Currywurst für eine Lesung zu gewinnen, beginnt Festivalleiter Martin Walker seine Ansprache. Mit dem Roman Alle meine Geister hat es jetzt endlich geklappt: Monika Schärer moderiert heute Abend im Karl der Grosse das Gespräch mit dem gebürtigen Hamburger, der in Deutschland zu den meistgelesenen Autoren zählt.

Alle meine Geister erzählt von Uwe Timms Kürschnerlehre in den Fünfzigerjahren, von neuen Freundschaften, Geschichten der Mitarbeitenden und Büchern, die er heimlich bei der Arbeit liest. Er erkundet neue Ecken Hamburgs, entdeckt Jazz und politisiert sich zunehmend.

Eigentlich war ein anderes Buch geplant, Recherchereisen und Gespräche wären dazu notwendig gewesen. Doch dann kam der Lockdown. Ein neues Projekt musste her, das keine Nachforschungen erforderte. Das einzig verfügbare Material: Timms Erinnerungen. Mit Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde hat der Autor bereits zwei Abschnitte seines eigenen Lebens literarisch verarbeitet. Als er sich neu orientieren musste, wurde ihm bewusst, dass mit der Kürschnerlehre noch ein Stück fehlte.

Timm erzählt vom Prozess des Erinnerns während des Schreibens. Er hat viel mehr geträumt, wurde überrascht von ihm selbst unbekannten Erinnerungen. Die Arbeit am Buch wurde zur «Entdeckungsreise». Im Text scheint dann immer wieder eine Unsicherheit durch, etwa wenn der Erzähler nicht mehr weiss, ob die Krawatte grün oder blau gewesen ist. Diese Ungewissheit begleitet den ganzen Text, so Timm, und reflektiert den Vorgang des Erinnerns. 

An die Tätigkeit als Kürschner erinnert er sich aber noch ganz genau. Das liegt am Haptischen des Handwerks, die sinnliche Erfahrung bleibt. Die Mäntel erzählten Timm von deren Besitzer:innen, ebenso wie die Arbeit auch immer wieder die Möglichkeit bot, Geschichten auszutauschen. Und der ästhetische Anspruch der Kürschnerei verbindet Handwerk mit Schreiben: Kreativität und Präzision, das exakte, genaue Arbeiten, das auch beim Schreiben gefordert ist.

Timm betont aber auch: Das Pelzgeschäft ist nicht das zentrale Thema des Buchs. Glaubt man dem Klappentext, scheint vielmehr die Entwicklung zum angehenden Schriftsteller im Vordergrund zu stehen. Heute Abend dreht sich allerdings alles um Pelzmäntel. Schärer verpasst den Hinweis Timms und der Abend bleibt thematisch ziemlich einseitig. Ich weiss jetzt zwar sehr viel mehr über Pelze, laufe aber mit denselben Fragen raus, mit denen ich reingekommen bin.

«X» von Valentina Mira oder: Das, was fehlt.

«Allora.» Eine tiefe Frauenstimme dringt aus den kleinen aber leistungsstarken Lautsprechern im Orell Füssli an der Europaallee. Es ist ein Freitagabend Ende Oktober, die Dunkelheit ist bereits über Zürich hereingebrochen. Der Raum jedoch ist hell, lebendig. Gebannt blicken die zirka zwanzig Zuhörerinnen und Zuhörer auf das Podium, hinter welchem der Hauptbahnhof durch eine überdimensional grosse Fensterscheibe zu sehen ist. Vier Frauen sitzen da, ausgestattet mit Mikrofonen und Exemplaren von Valentina Miras Roman «X».

Die Lesung, von der Moderatorin des Abends scherzhaft als «Vier Frauen und ein Buch» bezeichnet, beginnt mit der Erklärung, es werde sich um ein zweisprachiges Event handeln. Gelesen wird sowohl aus dem italienischen Originaltext von 2021 als auch aus der neuerschienenen deutschen Ausgabe. Jede Frage an Valentina und jede ihrer Antworten werden kompetent in Echtzeit übersetzt, um dem Publikum das Verständnis zu erleichtern, ohne die Authentizität des Ereignisses im Geringsten zu mindern.

«Allora», beginnt die Autorin ihre Antworten auf die Fragen zu ihrem Briefroman, und entschuldigt sich für ihr hohes Sprechtempo, ohne dieses artifiziell zu drosseln. Die Form des Briefromans sei ihr, nach einem gescheiterten Versuch, ihre schmerzhaften Erlebnisse in Sprache zu verwandeln, als einzig sinnvolles Gefäss für die Wörterflut erschienen. Nicht um Anklage gehe es, sondern um Dialog. Nicht mit dem Täter, sondern mit jenem, der keine Stellung bezieht. Dies, obgleich der Adressat ihrer Briefe, der aus dem Leben entschwundene Bruder und Freund des Täters G., sie möglicherweise niemals zu Gesicht bekommen wird.

Berührend und zugleich analytisch-sachlich ruft Valentina Szenen aus der Vergangenheit in Erinnerung, die der Bruder ohnehin bereits vergessen habe. Erinnerungen an das grüne Lego-Krokodil, das Symbol ihrer unschuldigen Kindheit. Erinnerungen an das gemeinsame Elternhaus und die Zeit der Unbeschwertheit. Die Zeit, bevor sie unfreiwillig in den «circolo vizioso» aus Gewalt und Selbstbestrafung gestossen wurde.

«Allora.» Unverblümt schildert Valentina die psychologischen Folgen des Erlebnisses, den Verlust der Selbstachtung, die wiederholte Verletzung des eigenen Körpers. Klösse bilden sich in den Hälsen des Publikums, als erzählt wird, wie Valentina sich dazu durchringt, den Täter bei der Polizei zu melden, worauf der zunächst höflich wirkende junge Polizist ihr nachts per SMS mitteilt: Sie habe ihm gefallen, ob sie sich mit ihm treffen wolle.

Das «X» repräsentiert eine Leerstelle. Neunzig Prozent der Vergewaltigungen werden in Italien, ähnlich wie hierzulande, nicht bei den Behörden gemeldet. Noch immer ist das Stigma zu stark, die Bestrafung, die gesellschaftliche Abwertung von Vergewaltigungsopfern. Für Valentina bildet gerade die sexuelle Schulbildung und die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema der «violenza carnale» einen Schritt in Richtung der Aufhebung des Stigmas. So werden sie und ihr Roman regelmässig zu Lesungen und Gesprächen in Schulen geladen, um der Unwirksamkeit des rechtlichen Apparates einen offenen Dialog entgegenzusetzen.

«Allora», sagt Valentina ein letztes Mal, bevor sie sich für den gelungenen Abend bei den Veranstalterinnen und der Zuhörerschaft bedankt, die allesamt, berührt und schwer beeindruckt, in tosenden Beifall ausbrechen.

Von Joshua Gutenberg

«Ein letztes Buch» — Wenn Autor:innen über das eigene Sterben schreiben

«Im Sterben sind wir alle Anfänger.»

Corina Caduff

Während in der Bar drei Stockwerke unter uns noch ausgelassen geredet und gespeist wird ist die Stimmung im Barockzimmer ernst, ruhig und bedacht. Im Zentrum sitzt die Moderatorin des Abends Anne Rüffer zusammen mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Corina Caduff und ihrem Buch, dass sie einem der schwersten der Themen gewidmet hat: dem Sterben. Gleich zu Beginn macht sie klar: Es ist nicht das Sterben von uns allen, dass sie in ihrem Buch untersucht hat, sondern das Sterben von Autor:innen. Insgesamt neun Auszüge aus verschiedenen Sterbebücher, die Autor:innen in ihrem vielleicht verletzlichsten und emotionalsten Abschnitte ihres Lebens verfasst haben.

Die Stimmung im Raum ist einzigartig. Corina Caduff spricht nicht über fiktive Figuren oder über kulturelles Zeitgeschehen. Hinter diesen Auszügen sind Menschen, die durch ihre Diagnose aus dem Leben geworfen wurden. Die sorgfältig ausgewählten Textstellen zeigen, wie entmündigend der Sterbeprozess wird. Sterben kann nicht aktiv gestaltet werden, man hat keine Kontrolle über das eigene Leben mehr und ist seinen Umständen ausgeliefert. Autor:innen verarbeiten diese Erfahrung in Tagebüchern und Gedanken über das Sterben selbst. Es zeigt sich: Das Sterben ist eine universelle, wie auch individuelle Erfahrung, abhängig von Alter, Kultur und Familie.

Besonders der Fall von Ruth Schweikert, einer Autorin, die die Vernissage ihres eigenen Sterbebuch im Winter 2023 noch besuchen konnte ehe sie letztlich im Juni 2023 ihrer Erkrankung erlag, beschäftigt Corina Caduff. Sie ist die einzige Autorin in Caduffs Buch, die zum Zeitpunkt der eigenen Veröffentlichung noch lebte. In der Lesung zeigt sich Corina Caduff sichtlich bewegt von dieser Erfahrung.

In den vorgetragenen Auszügen zeigt sich, wie individuell die Sterbeerfahrung sein kann. Männer zeigen öfters Aggressionen über das eigene Schicksal, sind im Schnitt weniger besorgt über den bevorstehenden Abschied und zeigen vereinzelt auch Humor über das eigene Schicksal, während für Frauen oft der Abschied und der Verbleib der Angehörigen im Zentrum stehen. Es zeigt sich eindrücklich, wie vielschichtig dieses Thema wahrlich ist.

Insgesamt verlassen alle die Lesung überraschend befreit. Die Stimmung erhebt sich und man ist froh, über dieses schwere Thema doch etwas gelernt zu haben. Wir können das Sterben nicht aufhalten. Aber ein Einblick wie er in Corina Caduffs Buch geöffnet wird, hilft uns tatsächlich, dieses Phänomen in uns selbst und anderen besser zu verstehen.