«Es brauchte Diplomatie, Ausdauer und Härte»: Diese Hürden musste Thomas Strässle zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Frisch und Bachmann überwinden

Bei «Zürich liest» sprach Christine Lötscher mit Thomas Strässle, dem Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Die Besucher:innen erfuhren, wie es zur Veröffentlichung kam und welche Hindernisse es gab.

6. April 2011: Ein Tag, den Thomas Strässle nicht vergisst. Damals besuchte der Literaturwissenschaftler die UBS am Zürcher Bellevue. Er verfolgte, wie die historischen Dokumente aus der Dunkelheit des Safes von Frisch ans Licht geholt wurden. Welche Strapazen und Mühen ihn erwarten würden, konnte er noch nicht wissen. Es sollte ein langer Weg werden, bis der Briefwechsel sorgfältig ediert veröffentlich werden konnte.

Zwischen Neugier und Zweifeln

Für 20 Jahre waren die Briefe zwischen Frisch und Bachmann gesperrt. Seine Neugier zog Thomas Strässle direkt zum Briefwechsel. Beim Lesen seien ihm jedoch Zweifel gekommen: «Mich legitimiert eigentlich nichts, diese Briefe zu lesen.» Dazu kam aus dem Publikum eine kritische Frage: Woher er denn die Sicherheit genommen habe, die Briefe lesen und veröffentlichen zu dürfen. Thomas Strässle erklärte, er sei sich bewusst gewesen, dass er in eine Beziehungswelt eindrang, mit der er nichts zu tun hatte. Er habe die rund 300 Korrespondenzstücke als Vertreter des Max Frisch-Archivs lesen dürfen. Die Verantwortung, dass die Briefe von Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden durften, trage er jedoch nicht. Entschieden hätten dies ihre Geschwister.

Die Sperrfrist als Hinweis für Frischs Wille

Was sprach für eine Veröffentlichung der intimen Geheimnisse von Frisch und Bachmann? Thomas Strässle nennt vier Gründe. Wenn Frisch gewollt hätte, dass die Briefe nicht gelesen würden, dann hätte er sie vernichtet. Es sei kein Beweis, dass Frisch sie habe publizieren wollen, aber ein Hinweis. Zudem hätten sowohl Frisch als auch Bachmann ihre Beziehung literarisch verarbeitet. Einen ersten Schritt zur Veröffentlichung hätten die beiden also selbst getan. Die zwei Literat:innen seien zudem Personen öffentlichen Interesses. Darüber hinaus rankten sich um ihre Beziehung viele Mythen, die in den Briefen widerlegt würden. Max Frisch als alleinigen Täter zu sehen, greife zu kurz.

Beziehung wurde nicht «zu Literatur verwurstet»

Durch den Briefwechsel werden laut Thomas Strässle folgende Korrekturen ersichtlich: Das bisherige Narrativ, dass Frisch Bachmann für eine jüngere Frau verlassen hätte, stimme so nicht. Ausserdem könne man nicht mehr behaupten, dass in Mein Name sei Gantenbein intimste Details der Beziehung ohne Einverständnis von Bachmann ausgeschlachtet wurden. Die Schriftstellerin hat den gesamten Schreibprozess begleitet und auch die allerletzte Fassung abgesegnet.

Wichtig sei, dass man nun nicht in Anschuldigungen gegen Bachmann verfalle. Generell müsse man sich von der Vorwurfsrhetorik verabschieden.

Verhandlungen mit den Geschwistern Bachmann: «lang, herausfordernd und unangenehm»

Nach Ablauf der Sperrfrist begannen die Verhandlungen mit Ingeborg Bachmanns Geschwistern. Um auch ihre Briefe veröffentlichen zu können, brauchte es nämlich deren Einwilligung. Die Verhandlungen seien langwierig und herausfordernd gewesen, mehr noch: «Es war unangenehm.» Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschwister überhaupt zu einem Gespräch mit Strässle bereit waren. Zuerst wollten sie, dass nur Frischs Briefe veröffentlicht würden. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Schliesslich kam man zusammen mit dem Suhrkamp Verlag zum Beschluss, bis zu welchem Zeitpunkt der gesamte Briefwechsel erscheinen sollte.

«Ich liebe es, den Film von Margarethe von Trotta zu polemisieren»

Während des 1.5-stündigen Gesprächs teilte Thomas Strässle mehrfach gegen den neuen Film von Margarethe von Trotta aus. Vor zwei Wochen erschien der Spielfilm Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste. Er behandelt das Leben der Schriftstellerin und die Beziehung zu Max Frisch.

Strässle hatte mit dem Filmprojekt zu tun. Die Regisseurin wollte den Briefwechsel einsehen. Doch er erlaubte das nicht. Die Briefe waren noch streng geheim, und Stillschweigevereinbarungen mit 70 Leuten abzuschliessen, wäre ihm zu riskant gewesen. Es sei ein harter Kampf gewesen und auch um viel Geld gegangen. Ins Detail wollte Strässle nicht gehen. Er selbst habe den Film nicht gesehen und möchte dies auch nicht tun. Gespräche und Kritiken würden aber darauf hinweisen, dass der Film die alten Mythen, Klischees und Legenden reproduziere. Im veröffentlichten Buch sei die Korrektur zu finden.

Gegen Ende des Gesprächs kam eine Publikumsfrage zur zweiten Ehefrau von Max Frisch. Wie sie zur Veröffentlichung des Briefwechsels stehe. Strässle antwortete kurz und knapp: «entspannt». Dabei konnte er sich einen letzten Seitenhieb gegen den Film nicht verkneifen. Er habe Frischs Ehefrau versichert, dass sie vom Briefwechsel nichts zu befürchten habe. Beim Film sei das anders. Dort werde sie gar beim falschen Namen genannt.

Abgleiten in die Psychologie

Was lässt sich alles aus den Briefen herauslesen? Und wo läuft man Gefahr, zu viel hineininterpretieren zu wollen? Dem Briefwechsel steht ein umfangreicher Kommentar zur Seite. Es sei wichtig gewesen, alles zu erklären und historische Hintergrundinformationen zu geben, erklärte Thomas Strässle. So würden Lücken nicht willkürlich ausgefüllt.

Doch Thomas Strässle erlaubte sich auch psychologische Deutungen: «In der Beziehung war Frisch verzweifelter und hat mehr gelitten. Doch Bachmann ist mit mehr Beschädigungen herausgekommen.» Spricht hier der Literaturwissenschaftler oder ein Hobby-Psychologe? Inwiefern lässt sich aufgrund der Briefe auf die gesamte Liebesbeziehung zwischen Frisch und Bachmann schliessen? Sind sie nicht bloss ein kleiner Teil? Dass er sich hier fernab seines Fachbereiches bewegt, bemerkte der Literaturwissenschaftler und schloss sein Statement mit: «Ich bin kein Psychologe.»

Es blieb aber nicht die einzige Situation, in der er in die Psychologie abglitt. So etwa, als Strässle erzählte, wie Frisch auf das Geständnis reagierte, dass Bachmann eine Beziehung mit einem anderen Mann führte. Obwohl in ihm ein Gefühlschaos herrschte, habe Frisch glasklar formuliert. Das sei keine Reaktion eines «tobenden Eifersuchtsweltmeisters», sondern eines Menschen, der «den emotionalen Zustand rational zu durchdringen versucht». Christine Lötscher unterband diese Interpretationen nicht etwa, sondern fügte sogar noch eigene hinzu, wie zum Beispiel: «Wenn wir wieder zur Psychologie zurückkehren. Vielleicht war ja auch die Berühmtheit ein weiterer Grund für die psychische Verfassung gegen Ende von Bachmanns Leben.» Heikles Terrain.

Interessant war der Abend allemal: Das Publikum erhielt einen Einblick in die 10-jährige Arbeit bis zur Veröffentlichung und einen neuen Blick auf eine einzigartige Liebesgeschichte. Es bleibt jedoch die Frage, wie weit ein Briefwechsel eine Beziehung ausleuchten kann.

«Sovrapposizioni» a Zurigo: poetica della realtà

In una piccola stanza adibita a mo› di caffè letterario ha luogo una tra le più speciali «riunioni di scrittori appartenenti a due generazioni»: così inizia la moderatrice Jecqueline Aerne ad introdurre gli ospiti di questa sera presso la Kulturhaus Helferei di Zurigo. Accomodati su un divanetto elegante ci sono Fabio Pusterla e Yari Bernasconi a leggere poesie estratte dalle loro raccolte bilingui: Nella quiete provvisoria del volo/In der vorläufigen Ruhe des Flugs (2021) rispettivamente Nuovi giorni di polvere/Neue staubige Tage (2021). A fasi alternate, tra una serie di lettura e l’altra, il violinista Matthias Lincke, suonando ad occhi chiusi, regala momenti di riflessione al pubblico, che apprezza molto la sua bravura.

La discussione dei testi è preceduta dall’intervento della moderazione, con cui si traccia un percorso storico-formativo che unisce i due poeti svizzeri. Si tratta di due personaggi distinti accomunati dalla profondità delle parole messe insieme e in versi.

Fabio Pusterla è stato docente di Yari Bernasconi al Liceo Cantonale di Lugano e da allora le loro strade si sono incrociate, fino a poter oggi parlare di un’amicizia che non è soltanto legata all’impegno poetico. Il giovane poeta afferma di aver compreso soltanto negli ultimi anni di liceo quanto fosse importante la letteratura e di aver maturato in sé il pensiero che custodisce ancora gelosamente: «la letteratura può cambiare il mondo», perché portatrice di un linguaggio in grado di superare qualsiasi tipo di barriera. Che l’acceso entusiasmo di allora oggi si sia un po’ scolorito è del tutto naturale, come accade ad ognuno di noi diventando adulti e più maturi. Col trascorrere del tempo si cambia e cambia anche il modo in cui si comunica e la modalità con cui si vuole trasmettere un messaggio.

Nella crescita personale e professionale assume grande importanza l’immagine del «Maestro con la ‘m’ maiuscola», che per Pusterla è stato per primo Giovanni Orelli; figura importante nella letteratura di lingua italiana in Svizzera. Per Bernasconi il Maestro è colui che permette «l’incontro e lo scontro con il suo interlocutore». Non si parla, quindi, di modello di ispirazione quanto di un insegnamento che ha reso possibile quel cambiamento necessario per dare slancio alla produzione di testi.

Dalla loro lettura emergono diversi temi cari sia ad uno che all’altro poeta. La loro produzione in versi è accomunata dall’intenzione di voler rendere in maniera trasparente e realistica tutte quelle immagini e tutti quegli eventi tratti dalla vita quotidiana, dalla storia dell’umanità e, quindi, dall’esistenza nel mondo. Se per Pusterla la poesia nasce da un motivo di ispirazione preciso dovuto sostanzialmente a «l’incontro di due cose», per Bernasconi è fonte di ispirazione la realtà allo stato puro, in cui dei «microscopici momenti di scrittura» bastano per poter riflettere su versi abbozzati o per scriverne di nuovi. Da un lato la scrittura di Bernasconi si caratterizza per la sua natura spontanea, chiaramente meditata, ma concisa e immediata e allo stesso tempo in grado di farsi carico di significati profondi che potrebbero essere dettati dalla bocca di chiunque amasse riflettere sulla realtà. Dall’altro lato è del tutto disinvolta e profusa la scrittura di Pusterla, che spesso riesce a racchiudere in un testo due varianti distinte per ogni scontro di verità nella vita. Nelle sue poesie la riflessione si estende su due linee parallele che si intersecano soltanto in un punto: quello in cui le sensazioni contrastanti si scontrano letteralmente e condividono le une l’aspetto poco consono alla natura delle altre.

Dalla lettura di Bernasconi ci si sposta dal fatto di cronaca nera con Cartolina notturna, alla «vena identitaria» che caratterizza le poesie ambientate in diversi luoghi visitati, come in Connemara; dalla nostalgia di un paesaggio nella poesia Conosci il mare, ai «monologhi interiori» dettati dalla notte, il momento in cui tutto tace e i pensieri prendono forma, in Cartolina notturna n. 3 ed è facile immedesimarsi nei versi di una storia che potrebbe essere quella di tutti coloro i quali siano ancora in grado di guardare in faccia alla realtà senza indossare alcuna maschera:

Ora che […] | mi ricordi | chi sono (il tanto e il poco che sono), | non riesco ancora a dirti che farò | del mio meglio, ma che non basterà. | Ora che torni col braccio arrossato, | qualche graffio e due lacrime già secche, | cercando un segno sul mio viso,| non riesco a dirti: non succederà più.

Yari Bernasconi, poesia «Altre discese e risalite» dalla raccolta «La casa vuota» (2021)

Nel viaggio guidato da Pusterla si parte da La storia della lingua che rappresenta l’«incarnarsi della storia dentro le parole» per giungere a parole dialettali della valle del Moesa (regione Mesolcina) che sono il lascia passare di un paesaggio naturale spettacolare portatore di speranza, che a sua volta può essere motivo di minaccia, di pericolo per se stessi; sempre secondo il sistema binario associativo si passa dall’immagine del fiore di rosa facendo riferimento a momenti felici che inevitabilmente portano con sé momenti duri e di amarezza, per poi approdare a Sovrapposizioni a Berlino, in cui la bellezza e grandezza della capitale tedesca è accompagnata dall’«insensatezza» della mente umana attorno al Denkmal in memoria della Shoah. Si prosegue con il tema della colpa che l’uomo deve riconoscere dal passato storico caratterizzato da veri e propri volti di capri espiatori in una storia che ha avuto e avrà sempre un luogo e tempo definito nella memoria collettiva. Pusterla regala al pubblico la lettura di Sulcis: omaggio dedicato alla persona di Giovanni Orelli in occasione della scomparsa nel 2016; il poeta si alza in piedi per la lettura in onore al suo Maestro di vita ed è un momento in cui si stampa un sincero sorriso nel volto delle persone presenti, mentre al poeta luccicano gli occhi.

L’intensità raggiunta dai protagonisti lettori – e con ciò s’intendono non solo i poeti e autori dei testi, ma anche l’attore, Wolfram Schneider-Lastin, delle traduzioni dei testi in lingua tedesca – è premiata dal pubblico con un lungo applauso. Il piccolo pubblico, quasi esclusivamente di mezza età, è concorde ai temi trattati e ai rimandi storico-letterari che hanno accompagnato la serata. Eppure, i motivi delle poesie sono aperti anche al pubblico più giovane, proprio per il contatto che i versi permettono di instaurare tra un sentimento e l’altro di persona in persona, tra un paesaggio e l’altro di storia in storia.

Was verbirgt sich hinter Toni?

Als Alan Schweingruber zwischen hölzernen Deckenbalken und abstrakten Kunstwerken in der Galerie Reitz aus seinem neusten Roman vorliest, fühlt es sich an wie ein kalter Winterabend vor dem warmen Cheminée. «Die normale Geschichte des Toni Geiser» erzählt von einem etwas merkwürdig anmutenden Mann, der in einer Waldhütte lebt, und der Liebesgeschichte zweier junger Leute, die genau so schön wie kompliziert ist.

Schweingruber füttert uns mit Ausschnitten seiner Erzählung, die Einblick genug geben, um neugierig zu machen, die aber doch genug verborgen halten, um das Überraschungsspiel des Romans nicht zu ruinieren. Sara Wegmann, die wie Schweingruber beim Telegramme-Verlag ihre Bücher herausgibt, versichert, dass man die Brille, mit der man die Welt sehe, beim Lesen des Romans mehrmals hinterfragen werde.

Vom Journalisten zum Autor

Ursprünglich ist Schweingruber Experte darin, schnell und kurz zu schreiben. Als früherer Sportjournalist ist er sich gewohnt, im Rummel eines vollen Stadiums Bericht zu erstatten und Texte zu schreiben, die in 45 Minuten auf die Redaktion müssen. Das sei schön und gut gewesen, doch er habe Lust gehabt, etwas Langes zu schreiben, etwas, das dauert. Denn darin verstecke sich das Literarische. Trotzdem scheint diese Spontanität und Intuition auch in seinem jetzigen Schreiben durch. «Meine Figuren sind nicht am Reissbrett entworfen», sagt Schweingruber. Das Chaos brauche er ein bisschen, um kreativ zu sein.

Trotzdem geht dem Roman die Raffinesse nicht verloren. In den drei vorgelesenen Ausschnitten wird schnell ersichtlich, dass Schweingruber weiss, was er tut. Eine aufmerksame Zuhörerin bemerkt, dass bei einem vorgelesenen Ausschnitt in die Ich-Perspektive gewechselt wurde. Das sei schon Absicht, meint Schweingruber dazu. Das Schreiben in der Ich-Form habe einen anderen Drive und man sei näher an der Figur. Er wechsle dann aber auch wieder zurück. Dadurch entsteht ein Spiel der Nähe und Distanz zu den Figuren.

Was es mit dem Protagonisten des Romans Toni Geiser auf sich hat, verrät uns der Autor nicht. Schweingruber liest zwar den Beginn des Romans vor, bei dem sich Toni in einer einsamen Waldhütte aufhält und auf drei nervige Jugendliche stösst, wobei einer von einem Wildschwein angegriffen wird. Doch die nächste vorgelesene Passage handelt vom Schüler Richard und der Köchin Isabelle, die sich im Laufe der Geschichte unweigerlich ineinander verlieben werden. «Ich wollte, dass man am Anfang Toni kennenlernt und sich fragt, warum er so ist, wie er ist», sagt Schweingruber. Die Auflösung dazu folgt aber erst viel später. Der Grossteil des Romans handelt von der Liebesgeschichte zwischen Richard und Isabelle. Dabei kommen auch Themen wie Erwachsenwerden, Familie und Freundschaft zum Zug.

«Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.»

Alan Schweingruber

Sehr präsent in «Die normale Geschichte des Toni Geiser» ist der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben. Das hat auch etwas mit den persönlichen Erlebnissen des Autors zu tun. «Seit der Pandemie bin ich viel naturverbundener», so Schweingruber. Er gehe natürlich schon noch in die Stadt und unter die Menschen, aber früher hatte es nie genug sein können. «Ich wusste, dass mein nächster Roman irgendwo in der Abgeschiedenheit spielen würde.» Schlussendlich ist es zwar eine Waldhütte in der Nähe einer Stadt geworden, doch das ganze Buch spielt hauptsächlich an ruhigen Orten. Der Spannung tut dies keinen Abbruch, denn mit Schweingrubers detailgetreuem Erzählstil kann man sich sowohl die Figuren als auch die wechselnde Umgebung lebhaft vorstellen.

Als wir mit Liebeskummer, einer Kündigung und dem Wiedertreffen der Exfreundin konfrontiert worden sind, fühlt sich der Abend nicht mehr so wohlig warm wie am Cheminée an. Wir sind zwar in die Realität zurückgeholt worden, doch ohne eine Weisheit entlässt uns Schweingruber nicht auf den dunklen Heimweg. Schlechte Tage, wie es die Figuren in seinem Roman habe, gebe es immer. «Aber scheiss Tage können dazu führen, dass man Glück hat.» Wenn er den Zug verpasse, schaue er, was in der nächsten halben Stunde passiert. Denn hätte er den Zug nicht verpasst, hätte es diese 30 Minuten gar nicht gegeben. Vielleicht sollten wir in Zukunft alle mehr Schweingrubers Einstellung übernehmen und uns vom Leben wie auch von «Die normale Geschichte des Toni Geiser» überraschen lassen.

Sofalesung: Olga Lakritz – «Das Ampfermädchen»

Totgeburten, Maden, Eis und Schweigen.

Es ist Sonntag.

Gelesen werden drei Passagen aus der ersten Hälfte des Textes, die Lesungen durch zwei Gespräche mit der Moderatorin zur Makrostruktur des Abends segmentiert. Geendet wird mit dem Anfang, begonnen später.

Jaaa… Es ist eine Interpretationsfrage, glaube ich, ob es eine Geschichte ergibt.

Olga Lakritz auf eine Frage der Moderatorin Aleks Sekanić

Die ausgewählten Textstellen vermitteln Themen, Bilder und das strukturelle Prinzip des Gesamttextes, konkret: Einsamkeit als Gemeinsamkeit in der (Familien-)Gemeinschaft, Sprachlosig-/ und Unverständlichkeit, das Streicheln totgeborener Kühe und der vergebliche Versuch einer Lebensgeschichte in fortwährenden Kreisbewegungen, die vom Anfang weiter immer zum Anfang schreitet.

Wenn man fünfmal sagt: „Ich bin traurig“, dann bedeutet es irgendwie nichts mehr.

Olga Lakritz

Die dominierenden Bilder von toten Tieren, Blut und geschundenen Körpern kommen in einem der Gesprächssegmente zum Tragen, im Verlaufe dessen die verbildlichte Körperlichkeit als Möglichkeit des Ausdrucks von Emotion gegenüber dem blossen verblassenden Benennen eines Empfindungszustandes herausgehoben wird.

Davon abgeleitet wird auch ein weiterer Aspekt deutlich: Die sprachliche Akzentuierung eines stark figural-tropisch geprägten Stils lässt die Frage nach dem Poetischen in diesem weniger prosaischen Roman aufkommen.

An Genrekonventionen denke ich jetzt nicht per se.

Olga Lakritz

Wo nun die Prosa und die Geschichte stecken, kann aber auch gleich sein, wenn sich aus der Suche nach einer Lebensnarration eine unablässige Rückkehrbewegung und damit einhergehende Durchwirkung verschiedener Zeitebenen durch Totes und Mögliches ergeben, die eine Abfolge von Szenen ermöglichen, welche für den Rahmen einer Lesung in gebannter Stille geradezu geschaffen scheinen.

Survivante – Lesung mit Julie Guinand und Aurelia Zanetti

Lavaterhaus, kurz vor 18.30 Uhr an einem Freitagabend. Die Sonne geht unter, während ich mich auf den Weltuntergang in «Die Überlebende» vorbereite. Als ich den Lesesaal betrete, empfängt mich eine gelassene und herzliche Atmosphäre: Menschen unterhalten sich miteinander und lachen. Die Stühle füllen sich nach und nach, bis alle Plätze besetzt sind. Alle blicken gespannt nach vorne, als Michael Frick, der Verleger und Moderator des Abends, das Wort ergreift. Mit Stolz stellt er Aurelia Zanetti, die Übersetzerin des Buches, und Julie Guinand, die Autorin von «Survivante», vor.

Die Zuschauer erfahren, dass die Lesung abwechselnd auf Deutsch und Französisch gehalten wird, wobei die Übersetzung der Passagen eingeblendet wird. Ich höre ein erleichtertes Aufatmen einiger Zuschauer und schätze die sorgfältige Organisation, um die sprachliche Hürde zu überwinden. Julie Guinand tritt vor das Mikrofon und liest den ersten Abschnitt ihres Werkes, das in Form eines Tagebuchs verfasst ist. Alle Augen sind auf sie gerichtet, und wir lauschen gebannt, wie sie von einem Stromausfall und dem daraus resultierenden apokalyptischen Szenario in ihrem Buch erzählt. Ich überprüfe, ob das elektrische Licht im Lavaterhaus noch brennt – es brennt noch.

Aurelia Zanetti setzt die Lesung mit der deutschen Übersetzung fort. Dieses Wechselspiel zwischen den Sprachen gibt uns abwechselnd Einblick in das Buch, und ich denke, was für ein harmonisches Duo die beiden bilden. Michael Frick unterbricht diese Wechsel an den richtigen Stellen und ermöglicht so ein Gespräch mit der Autorin, das anschliessend von der Übersetzerin ins Deutsche übertragen wird. Dabei erfahren wir nicht nur zentrale Aspekte des Buches, sondern auch die Kontexte, in denen Julie Guinand dieses Werk entstehen liess. Gelegentlich brach leichtes Gelächter aus, ausgelöst durch den Humor der Autorin.

Die Lesung setzte sich fort und wurde zwischendurch musikalisch von «Débranche!» von France Gall begleitet, das im Buch vorkommt und nun im Lavaterhaus ertönte, oder waren wir vielleicht gerade in die Welt des Buches transportiert worden?

Es folgten weitere Abschnitte, Gespräche und eine lebhafte Diskussion mit dem begeisterten Publikum, das interessierte Fragen stellte, die Julie Guinand bereitwillig beantwortete. Die Lesung endete pünktlich und wurde mit tosendem Applaus belohnt, meiner Meinung nach völlig verdient. Mein Fazit des Abends: abwechslungsreich, grenzüberschreitend und schlichtweg beeindruckend.

Wenn Pelzmäntel Geschichten erzählen

Nur zwölf Lesungen macht Uwe Timm jeweils mit einem neuen Buch. So ist es nicht ganz einfach, den Autor der Entdeckung der Currywurst für eine Lesung zu gewinnen, beginnt Festivalleiter Martin Walker seine Ansprache. Mit dem Roman Alle meine Geister hat es jetzt endlich geklappt: Monika Schärer moderiert heute Abend im Karl der Grosse das Gespräch mit dem gebürtigen Hamburger, der in Deutschland zu den meistgelesenen Autoren zählt.

Alle meine Geister erzählt von Uwe Timms Kürschnerlehre in den Fünfzigerjahren, von neuen Freundschaften, Geschichten der Mitarbeitenden und Büchern, die er heimlich bei der Arbeit liest. Er erkundet neue Ecken Hamburgs, entdeckt Jazz und politisiert sich zunehmend.

Eigentlich war ein anderes Buch geplant, Recherchereisen und Gespräche wären dazu notwendig gewesen. Doch dann kam der Lockdown. Ein neues Projekt musste her, das keine Nachforschungen erforderte. Das einzig verfügbare Material: Timms Erinnerungen. Mit Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde hat der Autor bereits zwei Abschnitte seines eigenen Lebens literarisch verarbeitet. Als er sich neu orientieren musste, wurde ihm bewusst, dass mit der Kürschnerlehre noch ein Stück fehlte.

Timm erzählt vom Prozess des Erinnerns während des Schreibens. Er hat viel mehr geträumt, wurde überrascht von ihm selbst unbekannten Erinnerungen. Die Arbeit am Buch wurde zur «Entdeckungsreise». Im Text scheint dann immer wieder eine Unsicherheit durch, etwa wenn der Erzähler nicht mehr weiss, ob die Krawatte grün oder blau gewesen ist. Diese Ungewissheit begleitet den ganzen Text, so Timm, und reflektiert den Vorgang des Erinnerns. 

An die Tätigkeit als Kürschner erinnert er sich aber noch ganz genau. Das liegt am Haptischen des Handwerks, die sinnliche Erfahrung bleibt. Die Mäntel erzählten Timm von deren Besitzer:innen, ebenso wie die Arbeit auch immer wieder die Möglichkeit bot, Geschichten auszutauschen. Und der ästhetische Anspruch der Kürschnerei verbindet Handwerk mit Schreiben: Kreativität und Präzision, das exakte, genaue Arbeiten, das auch beim Schreiben gefordert ist.

Timm betont aber auch: Das Pelzgeschäft ist nicht das zentrale Thema des Buchs. Glaubt man dem Klappentext, scheint vielmehr die Entwicklung zum angehenden Schriftsteller im Vordergrund zu stehen. Heute Abend dreht sich allerdings alles um Pelzmäntel. Schärer verpasst den Hinweis Timms und der Abend bleibt thematisch ziemlich einseitig. Ich weiss jetzt zwar sehr viel mehr über Pelze, laufe aber mit denselben Fragen raus, mit denen ich reingekommen bin.

Was bedeutet grenzenloses Schreiben?

Auf dem Podium stehen vier runde Tische, geschmückt für die Protagonisten des Abends, die heute im Rahmen des Schweizer Projekts «Weiterschreiben» hier sind. Die runde Form der Tische spielt auf die Form der Planeten im Weltall an. Hier auf dem Planeten Erde gibt es verschiedene Welten, die, anstatt friedlich miteinander zu kommunizieren, durch Lebensbedingungen, Politik und Kultur getrennt und unterschieden sind.

Dank dieses Projekts, das 2017 zum ersten Mal in Deutschland konzipiert und durchgeführt wurde, finden Autorinnen und Autoren aus Ländern, in denen ihre Worte zensiert und zum Schweigen gebracht wurden, den Raum, um ihre Arbeit, ihr Schreiben fortzusetzen und ihren Werken eine Stimme zu geben. In der Schweiz wird das Projekt seit 2021 durchgeführt und hat einen grossen Einfluss auf die zeitgenössische Literaturproduktion. Beispielhaft ist die Begegnung und die Geschichte von Azad Şîmmos Schreiben im Vergleich zum Schreiben von Gianna Olinda Cadonau. Aber mehr als ein echter Vergleich ist es ein Kontakt, eine kontinuierliche Kommunikation, wenn auch auf eine etwas andere Art und Weise, von Gedanken und Visionen über das Leben in der Welt zwischen den Versen der Gedichte, die in Şîmmos Fall wegen der Sensibilität, die der Wortwahl gewidmet ist, und der starken Emotionalität, die den Tönen innewohnt, mitten ins Herz treffen; Verse, die von Gianna, die existenzielle Fragen nach sich ziehen und die jeden von uns Menschen in Frage stellen und uns ein wenig verunsichert zurücklassen. Şîmmo liest Gedichte aus den Sammlungen Belki Sensin Özlediğim (2015) und Avaşîn (2022) in der türkischen Originalfassung; Cadonau liest Gedichte aus den rätoromanisch/Sammlungen Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht (2016), pajais in uondas / wiegendes Land (2020) und aus seinem Roman Feuerlilie (2023).

In der Einführungsrede zur Lesung und Diskussion der Texte wird einer der schönsten Sätze Ludwig Wittgensteins zitiert: «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt» – der perfekte Satz, welcher sofort das problematische Bild des Verbots und das Fehlen des Rechts auf freie Meinungsäusserung wiedergibt. An diesem Abend trafen die Worte von Şîmmo, der nach einer schmerzhaften Vergangenheit in der Türkei in der Schweiz willkommen geheissen wurde, auf die Worte von Cadonau. Die beiden arbeiten an einem Tandem, auf dem ihre Zusammenarbeit beruht. Die Persönlichkeit von Şîmmo spiegelt sich in den Versen seiner Gedichte wider und wird in seinen Worten voller gemischter Gefühle erneut bestätigt. Das Glück und die Freude, im Projekt Weiter Schreiben Schweiz eine neue Familie gefunden zu haben, werden von Şîmmo immer wieder wortwörtlich hervorgehoben, der zugibt, in der Schweiz eine Möglichkeit gefunden zu haben, ohne Grenzen an seinem Schreiben zu arbeiten. Nicht einmal die Vielfalt der Sprachen, die bei den Kreativitäts- und Schreibtreffen aufeinandertreffen. Der Austausch zwischen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Nationen und Kulturen führt zu einem Werk, das nichts weniger ist als die richtige Mischung aus Sichtweisen und Charakteren, die in Prosatexten und Versen umgesetzt werden.

Für Cadonau bedeutet die Arbeit mit Weiter Schreiben Schweiz, dass wir über das nachdenken, was tief in uns steckt, und es nutzbar machen. Schreiben heisst also, sich zu fragen, was man aus dem, was man in sich trägt, mit seinem Innenleben machen kann. Für sie ist WSS ein «konkreter und kostbarer Ort», an dem Worte Gewicht haben und dieses Gewicht eine Spur hinterlässt. Was bleibt, ist sicherlich der Moment der Reflexion, der die Anwesenden am Ende eines jeden Textes beschäftigt. In seinen Gedichten ist Şîmmo er selbst, frei und voller weiblicher Figuren, voller Nostalgie, voller Traurigkeit über diejenigen, die nicht die gleichen Schritte wie er machen konnten, weil sie zurückgeblieben sind. Die Aufgabe seiner Poesie ist es, sich an diejenigen zu erinnern, die in seiner Heimat geblieben sind, und auf die Distanz zu reagieren, die die schweizerische Realität ausfüllt, indem sie ihm eine «Literatur-Mutter» schenkt, womit er von seiner ersten Leitfigur in Weiter Schreiben Schweiz spricht.

Erst später lernt Şîmmo Cadonau in der Projektgruppe kennen, und die Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt hat, geht weit über das hinaus, was man vermuten würde. Die beiden unterscheiden sich in ihren Schreibmethoden. Einerseits gelingt es Simmo, seine Gedanken in seinen langen Gedichten zu entladen, oft in anaphorischen Wendungen, die auch dem ins Deutsche übersetzten Text Musikalität verleihen. Das gleichzeitige Werk aus Lyrik und Roman umfasst auch Übersetzungen seiner türkischen Gedichtbände, die derzeit in Bearbeitung sind. An diesem Abend war es möglich, mehrere türkische Gedichte in deutscher Übersetzung zu hören, bevor sie offiziell veröffentlicht werden. Der Überraschungseffekt im Publikum war an den leuchtenden Augen und ernsten Gesichtern abzulesen. Ja, denn Şîmmo Gedichte lassen Szenen von Gewalt und Ungerechtigkeit lebendig werden, ohne sie wirklich zu beschreiben, sondern lediglich die Gefühle und Reflexionen zu beschreiben, die sie in den von ihm ausgewählten Personen hervorrufen.

Wenn Cadonau über die Reflexion nachdenkt, die den Ausgangspunkt seiner Arbeit bei Weiter Schrieben Schweiz bildet, spricht sie von einem «sich erfinden»: ein Fremder im Land des Wachstums zu sein, wie im Land der Herkunft und das Schreiben ist eine weitere Art, sich fremd zu fühlen, weil es bedeutet, zu arbeiten, zu entwerfen, ohne zu wissen, wo man ankommt und wo man für längere oder kürzere Zeit bleiben wird.

Materialismus, widerständiger Feminismus und historischer Evolutionismus stehen im Mittelpunkt von Şîmmos Poetik, in der der Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Angst und Schmerz geprägt ist. Şîmmo dankt seinem Mitarbeiter Cadonau mehrfach. Diese wiederum bedankt sich bei Simmo: Man braucht zwar Zeit, um sie sich zu verstehen, um vor allem die Texte von Şîmmo und ihre Botschaft zu verstehen und auch wenn die Kommunikation langsam erscheint, bei ihrer Arbeit sieht Cadonau keine gesetzten Grenzen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Literatur sowohl über sprachliche als auch über politisch-gesellschaftliche Grenzen hinausgeht.

Die Lesung endet mit einigen Vorschauen auf die Produktion von Cadonau und Şîmmo. Gianna Olinda Cadonau wartet auf den nächsten Sommer, um sich dem Schreiben neuer Gedichte zu widmen, während Azad Şîmmo derzeit an ihrem neuen Roman arbeitet. Das Publikum, bestehend aus Leuten unterschiedlichen Alters und einer grösseren Anzahl junger Leute, applaudiert lange als Zeichen des Dankes für das Wunderbare der Gegenwartsliteratur.

«X» von Valentina Mira oder: Das, was fehlt.

«Allora.» Eine tiefe Frauenstimme dringt aus den kleinen aber leistungsstarken Lautsprechern im Orell Füssli an der Europaallee. Es ist ein Freitagabend Ende Oktober, die Dunkelheit ist bereits über Zürich hereingebrochen. Der Raum jedoch ist hell, lebendig. Gebannt blicken die zirka zwanzig Zuhörerinnen und Zuhörer auf das Podium, hinter welchem der Hauptbahnhof durch eine überdimensional grosse Fensterscheibe zu sehen ist. Vier Frauen sitzen da, ausgestattet mit Mikrofonen und Exemplaren von Valentina Miras Roman «X».

Die Lesung, von der Moderatorin des Abends scherzhaft als «Vier Frauen und ein Buch» bezeichnet, beginnt mit der Erklärung, es werde sich um ein zweisprachiges Event handeln. Gelesen wird sowohl aus dem italienischen Originaltext von 2021 als auch aus der neuerschienenen deutschen Ausgabe. Jede Frage an Valentina und jede ihrer Antworten werden kompetent in Echtzeit übersetzt, um dem Publikum das Verständnis zu erleichtern, ohne die Authentizität des Ereignisses im Geringsten zu mindern.

«Allora», beginnt die Autorin ihre Antworten auf die Fragen zu ihrem Briefroman, und entschuldigt sich für ihr hohes Sprechtempo, ohne dieses artifiziell zu drosseln. Die Form des Briefromans sei ihr, nach einem gescheiterten Versuch, ihre schmerzhaften Erlebnisse in Sprache zu verwandeln, als einzig sinnvolles Gefäss für die Wörterflut erschienen. Nicht um Anklage gehe es, sondern um Dialog. Nicht mit dem Täter, sondern mit jenem, der keine Stellung bezieht. Dies, obgleich der Adressat ihrer Briefe, der aus dem Leben entschwundene Bruder und Freund des Täters G., sie möglicherweise niemals zu Gesicht bekommen wird.

Berührend und zugleich analytisch-sachlich ruft Valentina Szenen aus der Vergangenheit in Erinnerung, die der Bruder ohnehin bereits vergessen habe. Erinnerungen an das grüne Lego-Krokodil, das Symbol ihrer unschuldigen Kindheit. Erinnerungen an das gemeinsame Elternhaus und die Zeit der Unbeschwertheit. Die Zeit, bevor sie unfreiwillig in den «circolo vizioso» aus Gewalt und Selbstbestrafung gestossen wurde.

«Allora.» Unverblümt schildert Valentina die psychologischen Folgen des Erlebnisses, den Verlust der Selbstachtung, die wiederholte Verletzung des eigenen Körpers. Klösse bilden sich in den Hälsen des Publikums, als erzählt wird, wie Valentina sich dazu durchringt, den Täter bei der Polizei zu melden, worauf der zunächst höflich wirkende junge Polizist ihr nachts per SMS mitteilt: Sie habe ihm gefallen, ob sie sich mit ihm treffen wolle.

Das «X» repräsentiert eine Leerstelle. Neunzig Prozent der Vergewaltigungen werden in Italien, ähnlich wie hierzulande, nicht bei den Behörden gemeldet. Noch immer ist das Stigma zu stark, die Bestrafung, die gesellschaftliche Abwertung von Vergewaltigungsopfern. Für Valentina bildet gerade die sexuelle Schulbildung und die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema der «violenza carnale» einen Schritt in Richtung der Aufhebung des Stigmas. So werden sie und ihr Roman regelmässig zu Lesungen und Gesprächen in Schulen geladen, um der Unwirksamkeit des rechtlichen Apparates einen offenen Dialog entgegenzusetzen.

«Allora», sagt Valentina ein letztes Mal, bevor sie sich für den gelungenen Abend bei den Veranstalterinnen und der Zuhörerschaft bedankt, die allesamt, berührt und schwer beeindruckt, in tosenden Beifall ausbrechen.

Von Joshua Gutenberg

«Wiggerl» – Vernichtung durch die Nazis 

Stimmengewirr. Donnerstagabend. Debattierhaus ‘Karl der Grosse’. Blaues Foyer. Genauer: Ein kleiner, heimeliger Raum zwischen zwei Treppenhäusern. Er ist um 17:45 Uhr bereits voll. Der Mann der Stunde – Andreas Pospischil – wirkt abgelenkt, als der Moderator Yves Schumacher die finalen Fragen durchgehen will, schaut sich um, muss allen, die er kennt, die Hand schütteln, Hallo sagen. 

18:00 Uhr. Schumacher: «Heute liest nicht Zürich, sondern Andreas Pospischil.» Es handle sich bei seinem Werk «Wiggerl» um eine akribisch recherchierte Tatsachengeschichte. Wie sich im Laufe der folgenden 60 Minuten herausstellen wird, hat Schumacher damit absolut Recht. Zunächst aber: Vorstellung Pospischils. Geboren in Wien, aufgewachsen in München. Später längere Zeit seines Lebens Professor und Direktor des Instituts für Veterinärpathologie an der Universität Zürich.

Das erste Kapitel «Spurensuche» handelt von der langwierigen Recherche nach Daten und Fakten über Ludwig S. – genannt «Wiggerl» – auf dessen frühere Existenz Pospischil zufällig beim Durchforsten einer Kiste der verstorbenen Schwiegermutter gestossen ist. Das Buch verbindet realhistorische Gegebenheiten mit fiktiven Handlungen sowie Stellen aus dem Lebenslauf von Wiggerl. Dabei wechselt Pospischil an den passenden Textstellen jeweils in den bayerischen oder schweizerdeutschen Dialekt. Ausserdem unterbricht er das Vorlesen immer wieder und gibt uns Kontextinfos zu den erwähnten geschichtlichen Ereignissen im Buch. Manch ein Exkurs sorgt trotz des ernsten Themas in Verbindung mit Pospischils ruhiger und offener Art für Lacher im Publikum. Geboren ist Wiggerl 1901 in München. Im Laufe seiner Kindheit wird bald klar, dass er vergleichsweise klein bleibt und von Albinismus betroffen ist. Seine Mutter stirbt früh, Familienprobleme sind die Folge. 

Zwischendurch ist das leise Flüstern einzelner Stimmen zu hören.

Am 16. September 1938 passiert das, was Pospischil als «Kern der Geschichte» beschreibt. Basis dafür bilden Protokolle der Gerichte, die den Fall Ludwig S. dokumentieren. Wiggerl ist inzwischen ein Landstreicher geworden und meldet sich für den Reichsarbeitsdienst «Arbeiten am Westwall». An besagtem Septembertag ruft er aus: «Pfui, das Dritte Reich! Es lebe Moskau!». Daraufhin bringt ihn die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes in das Gefängnis Neustadts an der Weinstrasse, um ihn zu verhören. Aus einem der Verhörprotokolle ist die Aussage Wiggerls «an den Tag kann ich mich nicht erinnern, war ziemlich besoffen» zu entnehmen. Aufenthalte in Untersuchungsgefängnissen folgen. Auf die Verhandlung des Falls im Januar 1939 folgt seine Verurteilung. Vorgeworfen werden ihm Staatsfeindlichkeit und Staatshetze. 1 Jahr und 3 Monate Gefängnisstrafe in einem Justizlager. Arbeiten verrichten. 1940 ist die Haftzeit von Wiggerl abgelaufen. Er schreibt seinem Vater einen Brief, dass er bald heimkommt. Am Tag seiner Entlassung erreicht ihn ein Schreiben: «Entlassung von politischen Strafgefangenen». Er wird in Schutzhaft genommen, muss in mehreren Konzentrationslagern arbeiten. Das letzte ist in Dachau. Es ist nicht geklärt, ob Ludwig S. eines natürlichen Todes stirbt oder von den Nationalsozialisten getötet wird. Letzteres ist jedoch sehr wahrscheinlich.

Zum Schluss werden die anfangs durchgegangenen Fragen besprochen. Pospischil antwortet angeregt. Das Buch sei mit viel Recherchearbeit verbunden. Es habe ihn sehr gereizt, den Fall des Ludwig S. aufzuklären. Das hänge mit seinem ehemaligen Pathologenberuf zusammen. Archivarbeit. Wiggerl wurde verschwiegen, der Grund dafür sei unbekannt. War er das schwarze Schaf der Familie? Alle Personen, die darüber hätten Auskunft geben können, waren zum Zeitpunkt der Recherchen bereits verstorben. Während des Krieges habe man wohl aus Angst vor den Nazis nicht über Wiggerl geredet und nach dem Krieg sei er vermutlich vergessen geworden. Ich denke mir, dass es gefährlich ist, dieses Vergessen.

Zwischen Erzählung und unterhaltsamem Irrsinn: Hannes Bajohrs «(Berlin, Miami)»

Hannes Bajohrs (Berlin, Miami) ist experimentell. In seinem Inhalt, aber vor allem in seiner Machart. Der Text entstand nämlich mithilfe eines Sprachmodells. Bajohr hat ein auf die deutsche Sprache trainiertes Sprachmodell mit vier zeitgenössischen Romanen, die sich mit der digitalen Gesellschaft befassen, gefüttert und ‹finegetuned›. Dann hat er Satz für Satz, Absatz für Absatz ein kleines «Etwas» vorgegeben – manchmal ein Wort, manchmal aber auch nur ein Satzzeichen –, was das Sprachmodell dann vervollständigt hat.

Er habe versucht möglichst wenig einzugreifen, sagt Bajohr, manchmal habe er etwas gelöscht, wenn die Richtung, die das Sprachmodell einschlug, gar nicht gepasst habe, oder er habe ein spezifisches Wort eingegeben, wenn er darüber mehr wissen wollte. Was dabei rauskommt, funktioniert auf den ersten Blick als Erzählung – auf den zweiten dann irgendwie doch nicht so richtig.

Die Welt ist in den letzten Tagen viel verändert worden; es gibt keine Regeln mehr für die Menschen auf der Straße. Der Lautsprecher spuckte das gesamte Wort aus: «Verfluchtes Zeug!» – weil er sich überall Unannehmlichkeiten zuzog: von der Frau mit dem Rucksack bis zum Mann, der seinen Körper anprobierte, um ihn abwertend bei uns im Haus hinterlegen zu lassen.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 22.

Bajohr selbst befindet die Erzählung für gescheitert. Es ginge ihm aber auch viel mehr darum, aus dem Text mehr über die Technik zu lernen, die dahinter steckt, als eine gelungene Erzählung zu kreieren. Darüber, was ein Sprachmodell aus den erhaltenen Daten zustande bringt, wie dies sprachlich umgesetzt wird und wo die Grenzen dieser Technik liegen.

Unterhaltend ist der Text auf jeden Fall. Das Publikum amüsiert sich köstlich, als Bajohr Ausschnitte aus dem Text vorliest. Die Inkongruenzen und Unvorhersehbarkeit des Textes erzeugen Komik.  

Jedenfalls, sie [die Mutter] machte sich über meinen Vater lustig und meinte, er trage immer genau dieselbe Sonnenbrille, die er bei meiner Entstehung getragen hatte, weshalb er die Gesichter seiner Kinder immer mit dieser Sonnenbrille betrachtete, also alle ohnehin braunhaarig erschienen nur ich hatte blondes Haar, aber das lag nicht an meinem Vater, das lag an mir.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 89.

Ein solcher Roman wie (Berlin, Miami) einer ist, wirft Fragen auf. Auf rechtlicher, aber auch auf moralischer und ethischer Ebene. Nur schon die Autorschaft ist nicht einfach zu identifizieren. Auf dem Buch steht nur Bajohrs Name. Er sei strikt dagegen, das Sprachmodell namentlich als Mitautor zu nennen, da dies der Maschine eine Subjektivität und Verantwortung zuspricht, der sie systembedingt nicht nachkommen kann.

Eine andere Möglichkeit wäre es alle zu nennen, die auf direkte und indirekte Art an der Entstehung des Textes beteiligt gewesen sind; über Autor:innen der eingespeisten Romane bis hin zu Entwickler:innen des Sprachmodels. Das seien aber viel zu viele, meint Bajohr, entsprechend stehe der Einfachheit wegen nur sein Name, stellvertretend für alle Beteiligten. (Fragt sich aber doch, warum Bajohrs Name dann so gross und ohne jeglichen Hinweis auf das Kollektiv dahinter auf dem Cover abgedruckt sein muss, während der Titel kaum halb so gross darunter sein Plätzchen finden muss…)

Ein Beispiel für ein Buch, das unter menschlicher Lenkung aber doch mehrheitlich von einer Maschine generiert wurde, haben wir mit (Berlin, Miami) vor uns. Mit der Frage, wie wir mit einem solchen Text umgehen – als Lesende, als Rezensierende und schlichtweg als Gesellschaft –, werden wir uns noch intensiv auseinandersetzen müssen.