«Es brauchte Diplomatie, Ausdauer und Härte»: Diese Hürden musste Thomas Strässle zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Frisch und Bachmann überwinden

Bei «Zürich liest» sprach Christine Lötscher mit Thomas Strässle, dem Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Die Besucher:innen erfuhren, wie es zur Veröffentlichung kam und welche Hindernisse es gab.

6. April 2011: Ein Tag, den Thomas Strässle nicht vergisst. Damals besuchte der Literaturwissenschaftler die UBS am Zürcher Bellevue. Er verfolgte, wie die historischen Dokumente aus der Dunkelheit des Safes von Frisch ans Licht geholt wurden. Welche Strapazen und Mühen ihn erwarten würden, konnte er noch nicht wissen. Es sollte ein langer Weg werden, bis der Briefwechsel sorgfältig ediert veröffentlich werden konnte.

Zwischen Neugier und Zweifeln

Für 20 Jahre waren die Briefe zwischen Frisch und Bachmann gesperrt. Seine Neugier zog Thomas Strässle direkt zum Briefwechsel. Beim Lesen seien ihm jedoch Zweifel gekommen: «Mich legitimiert eigentlich nichts, diese Briefe zu lesen.» Dazu kam aus dem Publikum eine kritische Frage: Woher er denn die Sicherheit genommen habe, die Briefe lesen und veröffentlichen zu dürfen. Thomas Strässle erklärte, er sei sich bewusst gewesen, dass er in eine Beziehungswelt eindrang, mit der er nichts zu tun hatte. Er habe die rund 300 Korrespondenzstücke als Vertreter des Max Frisch-Archivs lesen dürfen. Die Verantwortung, dass die Briefe von Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden durften, trage er jedoch nicht. Entschieden hätten dies ihre Geschwister.

Die Sperrfrist als Hinweis für Frischs Wille

Was sprach für eine Veröffentlichung der intimen Geheimnisse von Frisch und Bachmann? Thomas Strässle nennt vier Gründe. Wenn Frisch gewollt hätte, dass die Briefe nicht gelesen würden, dann hätte er sie vernichtet. Es sei kein Beweis, dass Frisch sie habe publizieren wollen, aber ein Hinweis. Zudem hätten sowohl Frisch als auch Bachmann ihre Beziehung literarisch verarbeitet. Einen ersten Schritt zur Veröffentlichung hätten die beiden also selbst getan. Die zwei Literat:innen seien zudem Personen öffentlichen Interesses. Darüber hinaus rankten sich um ihre Beziehung viele Mythen, die in den Briefen widerlegt würden. Max Frisch als alleinigen Täter zu sehen, greife zu kurz.

Beziehung wurde nicht «zu Literatur verwurstet»

Durch den Briefwechsel werden laut Thomas Strässle folgende Korrekturen ersichtlich: Das bisherige Narrativ, dass Frisch Bachmann für eine jüngere Frau verlassen hätte, stimme so nicht. Ausserdem könne man nicht mehr behaupten, dass in Mein Name sei Gantenbein intimste Details der Beziehung ohne Einverständnis von Bachmann ausgeschlachtet wurden. Die Schriftstellerin hat den gesamten Schreibprozess begleitet und auch die allerletzte Fassung abgesegnet.

Wichtig sei, dass man nun nicht in Anschuldigungen gegen Bachmann verfalle. Generell müsse man sich von der Vorwurfsrhetorik verabschieden.

Verhandlungen mit den Geschwistern Bachmann: «lang, herausfordernd und unangenehm»

Nach Ablauf der Sperrfrist begannen die Verhandlungen mit Ingeborg Bachmanns Geschwistern. Um auch ihre Briefe veröffentlichen zu können, brauchte es nämlich deren Einwilligung. Die Verhandlungen seien langwierig und herausfordernd gewesen, mehr noch: «Es war unangenehm.» Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschwister überhaupt zu einem Gespräch mit Strässle bereit waren. Zuerst wollten sie, dass nur Frischs Briefe veröffentlicht würden. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Schliesslich kam man zusammen mit dem Suhrkamp Verlag zum Beschluss, bis zu welchem Zeitpunkt der gesamte Briefwechsel erscheinen sollte.

«Ich liebe es, den Film von Margarethe von Trotta zu polemisieren»

Während des 1.5-stündigen Gesprächs teilte Thomas Strässle mehrfach gegen den neuen Film von Margarethe von Trotta aus. Vor zwei Wochen erschien der Spielfilm Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste. Er behandelt das Leben der Schriftstellerin und die Beziehung zu Max Frisch.

Strässle hatte mit dem Filmprojekt zu tun. Die Regisseurin wollte den Briefwechsel einsehen. Doch er erlaubte das nicht. Die Briefe waren noch streng geheim, und Stillschweigevereinbarungen mit 70 Leuten abzuschliessen, wäre ihm zu riskant gewesen. Es sei ein harter Kampf gewesen und auch um viel Geld gegangen. Ins Detail wollte Strässle nicht gehen. Er selbst habe den Film nicht gesehen und möchte dies auch nicht tun. Gespräche und Kritiken würden aber darauf hinweisen, dass der Film die alten Mythen, Klischees und Legenden reproduziere. Im veröffentlichten Buch sei die Korrektur zu finden.

Gegen Ende des Gesprächs kam eine Publikumsfrage zur zweiten Ehefrau von Max Frisch. Wie sie zur Veröffentlichung des Briefwechsels stehe. Strässle antwortete kurz und knapp: «entspannt». Dabei konnte er sich einen letzten Seitenhieb gegen den Film nicht verkneifen. Er habe Frischs Ehefrau versichert, dass sie vom Briefwechsel nichts zu befürchten habe. Beim Film sei das anders. Dort werde sie gar beim falschen Namen genannt.

Abgleiten in die Psychologie

Was lässt sich alles aus den Briefen herauslesen? Und wo läuft man Gefahr, zu viel hineininterpretieren zu wollen? Dem Briefwechsel steht ein umfangreicher Kommentar zur Seite. Es sei wichtig gewesen, alles zu erklären und historische Hintergrundinformationen zu geben, erklärte Thomas Strässle. So würden Lücken nicht willkürlich ausgefüllt.

Doch Thomas Strässle erlaubte sich auch psychologische Deutungen: «In der Beziehung war Frisch verzweifelter und hat mehr gelitten. Doch Bachmann ist mit mehr Beschädigungen herausgekommen.» Spricht hier der Literaturwissenschaftler oder ein Hobby-Psychologe? Inwiefern lässt sich aufgrund der Briefe auf die gesamte Liebesbeziehung zwischen Frisch und Bachmann schliessen? Sind sie nicht bloss ein kleiner Teil? Dass er sich hier fernab seines Fachbereiches bewegt, bemerkte der Literaturwissenschaftler und schloss sein Statement mit: «Ich bin kein Psychologe.»

Es blieb aber nicht die einzige Situation, in der er in die Psychologie abglitt. So etwa, als Strässle erzählte, wie Frisch auf das Geständnis reagierte, dass Bachmann eine Beziehung mit einem anderen Mann führte. Obwohl in ihm ein Gefühlschaos herrschte, habe Frisch glasklar formuliert. Das sei keine Reaktion eines «tobenden Eifersuchtsweltmeisters», sondern eines Menschen, der «den emotionalen Zustand rational zu durchdringen versucht». Christine Lötscher unterband diese Interpretationen nicht etwa, sondern fügte sogar noch eigene hinzu, wie zum Beispiel: «Wenn wir wieder zur Psychologie zurückkehren. Vielleicht war ja auch die Berühmtheit ein weiterer Grund für die psychische Verfassung gegen Ende von Bachmanns Leben.» Heikles Terrain.

Interessant war der Abend allemal: Das Publikum erhielt einen Einblick in die 10-jährige Arbeit bis zur Veröffentlichung und einen neuen Blick auf eine einzigartige Liebesgeschichte. Es bleibt jedoch die Frage, wie weit ein Briefwechsel eine Beziehung ausleuchten kann.

Say no to: Kätzchen, Schmetterling und Schneck! Vulva is the word we’re looking for!

20.25 Uhr – Fünf Minuten vor Beginn komme ich im Karl der Grosse an. Nach dem obligaten Toilettengang vor einer Lesung beeile ich mich, um es noch rechtzeitig in den Saal zu schaffen. 20.28 Uhr, ich setze mich auf den letzten freien Sitz! Die in Berlin lebende Fotografin und Stand-up-Comedienne Lisa Frischemeier und Gülsha Adilji, die Joiz-Moderatorin meiner Jugend – oder sogar meiner Kindheit?! – werden in Kürze die Bühne betreten, um über Frischemeiers I SEE VULVAS EVERYWHERE zu sprechen. Das Publikum: Zu Vierfünftel weiblich gelesene Personen. Dies sei weiter aber auch nicht überraschend, wie ich im Verlauf des Gesprächs erfahre. Kurze Prolepse: Es sind eben vor allem weiblich gelesene Personen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit weniger Vulven gesehen, gespürt, gerochen und und ge-[_____] haben. Also, weiter im Takt. Karl der Grosse ist ausverkauft. Die allgemeine Stimmung des Publikums im Saal setzt sich aus ‚ich möchte unbedingt neue Erkenntnisse gewinnen‘ und ‚bleib mal locker, ich bin hier um zu lachen‘ zusammen und trifft somit den Sweet Spot fürs gemeinsame Lernen. Letzteres wird in den bevorstehenden 90 Minuten auch zu Genüge getan.

Auf Adiljis Einstiegsfrage, wie Frischemeiers Mitmenschen auf ihr Vorhaben ein Buch über VULVEN zu konzipieren reagierten, antwortet die Autorin, die ihren gewöhnlichen Job hasst (ich berichte gleich warum), dass die weiblich gelesenen Personen die Relevanz des Themas auf Anhieb gecheckt haben, während sich die MÄNNERS wie bei vielem, was Frauen betrifft, unisono einig waren: Es schreit nach Redundanz. Nun zu ihrem Hassjob: Zu ihren Mitmenschen zählt eben auch ihr Chef, dem sie von ihrem ‚Nebenerwerb‘ erzählen musste. Und ja, Mann + Redundanz = ‹Sind in dem Buch auch Fotos von dir drin?› – An dieser Stelle: Shoutouts an den Chef: Für dich steht auf dem Cover in Majuskeln: 100% PORNOFREI.

Nun wird die Sprache ins Visier genommen und wir lernen, ohne zu lachen: Die Sprache ist unheimlich wichtig, wenn es um Geschlechtsteile geht. Wieso sprechen wir mit Kinder über Schmetterlinge, Kätzchen, Schnecken, SCHAMLIPPEN und nicht über Vulven und Vaginen? Wieso unterscheiden wir generell nicht zwischen Vulva und Vagina, oder: Sind ein Penis und Hoden dasselbe? – Die erste take-home-message ist klar: Erst wenn wir im Stande sind die richtigen Vokabeln zu verwenden, sind wir fähig, uns vernünftig und wertfrei zu unterhalten. (Kurzes bestätigendes Kopfnicken nach links, gefolgt von Schmunzeln ist seh- und hörbar)

Frischemeier fährt fort und erzählt über ihr befreiendes Erlebnis an einer naked tea party irgendwo in Berlin. – Genitalien sind halt einfach nur Genitalien, meint sie, wie ein Knie oder ein grosser Zeh – Stimmt, denke ich, schweife dabei ab und sage mir, dass man  den eigenen Körper tatsächlich nicht immer lieben muss, und als wäre Frischemeier in meinem Kopf gesessen, nimmt sie mir meine Gedanken ab und meint, dass man einfach lieb sein soll zu ihm, so wie man es zu Freunden oder Verwandten auch ist. #zweite #takehomemessage #erneuteskopfnickenundschmunzeln.

«In the western society though, and thankfully of course, that’s not the case, women and men are equal and have the same rights, as everyone should have.» (Marcos, ein in Wahrheit doch misogyner Fotograf)

Im letzten Drittel der Lesung lässt Frischemeier das Publikum hinter die Kulissen ihres Arbeitsprozesses blicken. I SEE VULVAS EVERYWHERE , das von Irene Schampaerts I see faces inspiriert ist, setzt sich aus Texten und vor allem Illustrationen zusammen, die von Hauswänden und Gebäcken über Gewässer im Golf von Mexiko, vulvenhaften Brunnen in der Pfalz und genitalischen Ballone in den Strassen Istanbuls reicht. Alle haben sie gemeinsam, dass sie die Vulva im Fokus haben. – Entstigmatisierung! – Frischemeier ist aber nicht um die ganze Welt und hat Fotos geknipst. Vielmehr habe sie zu ihren eigenen, auch Fotos von Menschen rund um den Globus erhalten. In diesem Zusammenhang erzählt sie, dass es aber auch Menschen wie Marcos gab, – wir nennen ihn auch hier bewusst explizit – die nicht bereit waren ihre Illustrationen in I SEE VULVAS EVERYHWERE abdrucken zu lassen, weil sie keinesfalls mit feministischen Arbeiten in Verbindung gebracht werden wollten, oder besser gesagt: Nicht mit feministischen Arbeiten aus dem Westen, denn dort lebten die Geschlechter ohnehin schon gleichberechtigt……..

«Wiggerl» – Vernichtung durch die Nazis 

Stimmengewirr. Donnerstagabend. Debattierhaus ‘Karl der Grosse’. Blaues Foyer. Genauer: Ein kleiner, heimeliger Raum zwischen zwei Treppenhäusern. Er ist um 17:45 Uhr bereits voll. Der Mann der Stunde – Andreas Pospischil – wirkt abgelenkt, als der Moderator Yves Schumacher die finalen Fragen durchgehen will, schaut sich um, muss allen, die er kennt, die Hand schütteln, Hallo sagen. 

18:00 Uhr. Schumacher: «Heute liest nicht Zürich, sondern Andreas Pospischil.» Es handle sich bei seinem Werk «Wiggerl» um eine akribisch recherchierte Tatsachengeschichte. Wie sich im Laufe der folgenden 60 Minuten herausstellen wird, hat Schumacher damit absolut Recht. Zunächst aber: Vorstellung Pospischils. Geboren in Wien, aufgewachsen in München. Später längere Zeit seines Lebens Professor und Direktor des Instituts für Veterinärpathologie an der Universität Zürich.

Das erste Kapitel «Spurensuche» handelt von der langwierigen Recherche nach Daten und Fakten über Ludwig S. – genannt «Wiggerl» – auf dessen frühere Existenz Pospischil zufällig beim Durchforsten einer Kiste der verstorbenen Schwiegermutter gestossen ist. Das Buch verbindet realhistorische Gegebenheiten mit fiktiven Handlungen sowie Stellen aus dem Lebenslauf von Wiggerl. Dabei wechselt Pospischil an den passenden Textstellen jeweils in den bayerischen oder schweizerdeutschen Dialekt. Ausserdem unterbricht er das Vorlesen immer wieder und gibt uns Kontextinfos zu den erwähnten geschichtlichen Ereignissen im Buch. Manch ein Exkurs sorgt trotz des ernsten Themas in Verbindung mit Pospischils ruhiger und offener Art für Lacher im Publikum. Geboren ist Wiggerl 1901 in München. Im Laufe seiner Kindheit wird bald klar, dass er vergleichsweise klein bleibt und von Albinismus betroffen ist. Seine Mutter stirbt früh, Familienprobleme sind die Folge. 

Zwischendurch ist das leise Flüstern einzelner Stimmen zu hören.

Am 16. September 1938 passiert das, was Pospischil als «Kern der Geschichte» beschreibt. Basis dafür bilden Protokolle der Gerichte, die den Fall Ludwig S. dokumentieren. Wiggerl ist inzwischen ein Landstreicher geworden und meldet sich für den Reichsarbeitsdienst «Arbeiten am Westwall». An besagtem Septembertag ruft er aus: «Pfui, das Dritte Reich! Es lebe Moskau!». Daraufhin bringt ihn die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes in das Gefängnis Neustadts an der Weinstrasse, um ihn zu verhören. Aus einem der Verhörprotokolle ist die Aussage Wiggerls «an den Tag kann ich mich nicht erinnern, war ziemlich besoffen» zu entnehmen. Aufenthalte in Untersuchungsgefängnissen folgen. Auf die Verhandlung des Falls im Januar 1939 folgt seine Verurteilung. Vorgeworfen werden ihm Staatsfeindlichkeit und Staatshetze. 1 Jahr und 3 Monate Gefängnisstrafe in einem Justizlager. Arbeiten verrichten. 1940 ist die Haftzeit von Wiggerl abgelaufen. Er schreibt seinem Vater einen Brief, dass er bald heimkommt. Am Tag seiner Entlassung erreicht ihn ein Schreiben: «Entlassung von politischen Strafgefangenen». Er wird in Schutzhaft genommen, muss in mehreren Konzentrationslagern arbeiten. Das letzte ist in Dachau. Es ist nicht geklärt, ob Ludwig S. eines natürlichen Todes stirbt oder von den Nationalsozialisten getötet wird. Letzteres ist jedoch sehr wahrscheinlich.

Zum Schluss werden die anfangs durchgegangenen Fragen besprochen. Pospischil antwortet angeregt. Das Buch sei mit viel Recherchearbeit verbunden. Es habe ihn sehr gereizt, den Fall des Ludwig S. aufzuklären. Das hänge mit seinem ehemaligen Pathologenberuf zusammen. Archivarbeit. Wiggerl wurde verschwiegen, der Grund dafür sei unbekannt. War er das schwarze Schaf der Familie? Alle Personen, die darüber hätten Auskunft geben können, waren zum Zeitpunkt der Recherchen bereits verstorben. Während des Krieges habe man wohl aus Angst vor den Nazis nicht über Wiggerl geredet und nach dem Krieg sei er vermutlich vergessen geworden. Ich denke mir, dass es gefährlich ist, dieses Vergessen.

Zwischen Erzählung und unterhaltsamem Irrsinn: Hannes Bajohrs «(Berlin, Miami)»

Hannes Bajohrs (Berlin, Miami) ist experimentell. In seinem Inhalt, aber vor allem in seiner Machart. Der Text entstand nämlich mithilfe eines Sprachmodells. Bajohr hat ein auf die deutsche Sprache trainiertes Sprachmodell mit vier zeitgenössischen Romanen, die sich mit der digitalen Gesellschaft befassen, gefüttert und ‹finegetuned›. Dann hat er Satz für Satz, Absatz für Absatz ein kleines «Etwas» vorgegeben – manchmal ein Wort, manchmal aber auch nur ein Satzzeichen –, was das Sprachmodell dann vervollständigt hat.

Er habe versucht möglichst wenig einzugreifen, sagt Bajohr, manchmal habe er etwas gelöscht, wenn die Richtung, die das Sprachmodell einschlug, gar nicht gepasst habe, oder er habe ein spezifisches Wort eingegeben, wenn er darüber mehr wissen wollte. Was dabei rauskommt, funktioniert auf den ersten Blick als Erzählung – auf den zweiten dann irgendwie doch nicht so richtig.

Die Welt ist in den letzten Tagen viel verändert worden; es gibt keine Regeln mehr für die Menschen auf der Straße. Der Lautsprecher spuckte das gesamte Wort aus: «Verfluchtes Zeug!» – weil er sich überall Unannehmlichkeiten zuzog: von der Frau mit dem Rucksack bis zum Mann, der seinen Körper anprobierte, um ihn abwertend bei uns im Haus hinterlegen zu lassen.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 22.

Bajohr selbst befindet die Erzählung für gescheitert. Es ginge ihm aber auch viel mehr darum, aus dem Text mehr über die Technik zu lernen, die dahinter steckt, als eine gelungene Erzählung zu kreieren. Darüber, was ein Sprachmodell aus den erhaltenen Daten zustande bringt, wie dies sprachlich umgesetzt wird und wo die Grenzen dieser Technik liegen.

Unterhaltend ist der Text auf jeden Fall. Das Publikum amüsiert sich köstlich, als Bajohr Ausschnitte aus dem Text vorliest. Die Inkongruenzen und Unvorhersehbarkeit des Textes erzeugen Komik.  

Jedenfalls, sie [die Mutter] machte sich über meinen Vater lustig und meinte, er trage immer genau dieselbe Sonnenbrille, die er bei meiner Entstehung getragen hatte, weshalb er die Gesichter seiner Kinder immer mit dieser Sonnenbrille betrachtete, also alle ohnehin braunhaarig erschienen nur ich hatte blondes Haar, aber das lag nicht an meinem Vater, das lag an mir.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 89.

Ein solcher Roman wie (Berlin, Miami) einer ist, wirft Fragen auf. Auf rechtlicher, aber auch auf moralischer und ethischer Ebene. Nur schon die Autorschaft ist nicht einfach zu identifizieren. Auf dem Buch steht nur Bajohrs Name. Er sei strikt dagegen, das Sprachmodell namentlich als Mitautor zu nennen, da dies der Maschine eine Subjektivität und Verantwortung zuspricht, der sie systembedingt nicht nachkommen kann.

Eine andere Möglichkeit wäre es alle zu nennen, die auf direkte und indirekte Art an der Entstehung des Textes beteiligt gewesen sind; über Autor:innen der eingespeisten Romane bis hin zu Entwickler:innen des Sprachmodels. Das seien aber viel zu viele, meint Bajohr, entsprechend stehe der Einfachheit wegen nur sein Name, stellvertretend für alle Beteiligten. (Fragt sich aber doch, warum Bajohrs Name dann so gross und ohne jeglichen Hinweis auf das Kollektiv dahinter auf dem Cover abgedruckt sein muss, während der Titel kaum halb so gross darunter sein Plätzchen finden muss…)

Ein Beispiel für ein Buch, das unter menschlicher Lenkung aber doch mehrheitlich von einer Maschine generiert wurde, haben wir mit (Berlin, Miami) vor uns. Mit der Frage, wie wir mit einem solchen Text umgehen – als Lesende, als Rezensierende und schlichtweg als Gesellschaft –, werden wir uns noch intensiv auseinandersetzen müssen.

I see Vulvas everywhere

Unter diesem klingenden Titel führt die deutsche Comedienne Lisa Frischemeier in ihrem Buch die Leser:innen durch eine Welt voller weiblicher Geschlechtsteile.

«Komplett ausverkauft» sei die Veranstaltung mit Lisa Frischemeier, so steht es auf der Website von Zürich liest. Das Interesse scheint gross, und der Saal im Karl der Grosse ist – wie zu erwarten – voll an diesem Donnerstagabend um 20 Uhr 30. Die Stimmung ist von Beginn an munter, dafür sorgen die zwei Frauen auf dem Podium, Autorin Lisa Frischemeier und Moderatorin Gülsha Adilji. Die zwei kennen sich schon länger, was gleich einen vertrauten Rahmen schafft – nicht ganz unwichtig bei dem einigermassen intimen Thema.

I see Vulvas everywhere, so lautet der Titel von Frischemeiers jüngst publizierten Buch. Und der Name ist Programm: Die Comedienne zeigt Fotos, auf denen das weibliche Geschlechtsteil, oder zumindest dessen Form, zu sehen ist, entdeckt von ihr oder anderen Menschen im Alltag. Sei es ein ellipsenförmiger, bröckelnder Verputz einer Häuserwand, ein kunstvoll gestalteter Brunnen in Landau, oder eine halbfertige Empanada.

Die Dinge beim Namen nennen
Inspiriert für diese Publikation haben Frischemeier die feministischen Comics von Liv Strömquist und ein Buch namens I see Faces, in welchem an ungewöhnlichen Orten Gesichter entdeckt werden. Das müsste man doch zusammenbringen können, dachte sich die Comedienne. Mehr aus Spass erwähnte sie die Idee für ein Vulva-Buch gegenüber einer Freundin, die bei einem Verlag arbeitet – und diese war sogleich dabei. Die Reaktionen in ihrem Umfeld fielen unterschiedlich aus: «Frauen haben sofort die Relevanz des Themas verstanden», erzählt Frischemeier. Männer seien oft weniger begeistert gewesen, und meinten, damit nichts zu tun zu haben. Ein Raunen geht durch den Saal.

«Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei und vernünftig über die Geschlechtsteile unterhalten.»

Lisa Frischemeier

Die Autorin konstatiert: «Auch wenn ich es als leichte Unterhaltung verkaufe, geht es um Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung.» Eine Sprache für das weibliche «Untenrum» zu finden und Begriffe zu normalisieren, ist ein wichtiger Bestandteil ihres Projekts. So verwendet Frischemeier auch konsequent den Begriff «Vulvalippen» statt «Schamlippen»: «Wir sollten die Dinge schamfrei und korrekt benennen.» Weshalb ist Sprache so wichtig, wenn es um die Geschlechtsteile geht? «Um zu formulieren, was man will oder nicht will. Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei, vernünftig darüber unterhalten.» Auch, dass man beim Arztbesuch zwischen Vulva und Vagina unterscheiden könne, sei essenziell.

Hass auf Social Media
Nebst den farbenfrohen Fotos gibt uns Frischemeier in einem begleitenden Essay Einblick in eine Kulturgeschichte der Klitoris und der Vulva, schildert, wie sie jahrhundertelang versteckt, die weibliche Lust verleumdet wurde. Und sie räumt mit dem Mythos des vaginalen Orgasmus auf. Bezeichnend ist auch, wie viel Hass ihr für dieses Buch entgegenschlug. Der SWR musste auf Social Media die Kommentarfunktion unter einem Beitrag zu Frischemeiers Buch sperren – zu viele Hasskommentare waren gepostet worden. Doch die Autorin lässt sich davon nicht einschüchtern. Sie packt einzelne Kommentare plus Namen der Verfasser auf ihre Powerpoint-Präsentation, stellt sie aus, macht sie sich zu eigen.

Unterfüttert ist das Buch, wie auch die Veranstaltung, mit Humor und einer guten Portion Selbstironie, beispielsweise wenn die Autorin von ihrem Besuch einer Naked Tea Party (die genau das ist, wonach es klingt) erzählt. Lisa Frischemeier schafft es, sich auf ungezwungene und spielerische Weise den weiblichen Genitalien zu nähern. Dabei hilft nicht zuletzt die glitzernde Vulva-Box, in welche die Zuhörer:innen zum Ende des Podiums Zettel mit Fragen werfen können.

Im Treibhaus übers Klima reden

Stadtgärtnerei Zürich, Donnerstagabend, regnerisch. Man läuft einmal durchs Grün der Anlage, um dann in einem Treibhaus mit zahlreichen Pflanzen an einer Vernissage der sowohl – und das im wörtlichen Sinne zu verstehen – heissesten als auch trockensten Neuerscheinung des Limmat-Verlages teilzunehmen, gemeint ist die erstmalige Übersetzung von C. F. Ramuz hundert Jahre altem Text «Sturz in die Sonne».

C. F. Ramuz entwirft mit seinem Roman eine Dystopie, in welcher die Erde durch einen Gravitationsfehler in die Sonne st¨ürzt und die Tage am Genfersee von da an wärmer werden, bis Gletscher schmelzen, Bäume verdorren und sich die Menschheit ihrem Ende bewusst wird. «Sturz in die Sonne» ist ein einhundert Jahre alter «Klimaroman», der eine ungeheure Aktualität birgt, so führt Simon Leuthold das Thema ein und bietet damit auch bereits Raum für eine kritische Befragung des Genres. Wie viel an Ramuz› «Sturz in die Sonne» ist tatsächlich Klima, wie viel ist Roman? Sein Gesprächspartner ist Steven Wyss, der genau einhundert Jahre nach der Veröffentlichung von Ramuz› Roman mit dem ursprünglichen Titel «Présence de la mort» den Text erstmalig vom Französischen ins Deutsche ¨übersetzte. Klar ist: Der Roman lässt sich nicht lesen, ohne an die gegenwärtige Klimakrise zu denken, dafür passt er einfach zu gut in die heutige Zeit. Es geht aber auch um die Ignoranz der Menschheit, die sich in diesem Endzeit-Szenario breitmacht. Ramuz selbst hätte auch über eine Eiszeit oder sonstige Katastrophen schreiben können, über den Klimawandel konnte er zur damaligen Zeit nichts wissen, weshalb das Gespräch zwischen Simon Leuthold und Steven Wyss seinen Fokus – zum Glück – auf die Übersetzungsarbeit legt und die Wirkungsästhetik diskutiert.

Letztere fiel zu Lebzeiten Ramuz› gar nicht positiv aus; der Roman war, so Steven Wyss, damals ein Flop. Denn «Sturz in die Sonne» ist gar kein wirklicher Roman: die Figuren machen keine Entwicklung durch, es gibt keine kohärente Handlung, viel eher liest sich «Sturz in die Sonne» wie eine Gemäldesammlung, ein Panorama aus dreissig visuellen Szenen, das wohl die zeitgenössischen Leser:innen überforderte. Dieses bildhafte, szenische und neutrale Erzählen Ramuz› wird durch Leseeinschübe von Klaus-Henner Russius mit einer kräftig alten und angenehm ruhigen Stimme untermalt. Leider liest dieser aber eher einmal zu viel als zu wenig aus dem Buch vor.

Trotzdem gibt es noch genügend Platz, um die Übersetzungsarbeit Steven Wyss› anzusprechen. Dieser übersetzte mit «Sturz in die Sonne» zum ersten Mal einen ganzen Roman. Die Schwierigkeiten im Übersetzen von Ramuz sieht er darin, dass dieser seine ganz eigene Sprache mit einem eigenen Rythmus hat. Ramuz› Sätze, so Wyss, sind irgendwie schräg, und das müssen sie beim Übersetzen auch bleiben, damit man sich nicht zu weit von dem:der Autor:in entferne; man darf daher beim Übersetzen die Sprache nicht glätten und korrigieren, und das hat Wyss auch nicht, wie man beim Lesen schnell merkt. Die Grammatik fällt bei Ramuz dem Rhythmus zum Opfer. Die daher naheliegende Frage, inwiefern sich Rythmus übersetzen lässt, blieb jedoch unbeantwortet. Steven Wyss wünscht sich dafür, dass die Rezeption von «Sturz in die Sonne» C. F. Ramuz als Autor generell wieder mehr Aufmerksamkeit geben soll. Für ihn ist der einst für den Literatur-Nobelpreis gehandelte Autor aus dem 20. Jahrhundert nach wie vor von grosser Bedeutung. Mit seiner Übersetzungsarbeit wünscht er sich, dass das Buch «Sturz in die Sonne» eine «Einstiegsdroge für Ramuz-Leser:innen» wird.

Wer hat, dem wird gegeben – Lesung mit Lukas Bärfuss

So wie Mario und Margherita in Bärfuss’ Roman «Die Krume Brot» an einem trüben und nassen Herbsttag nach Zürich gelangen, verschlägt es mich an einem solchen Tag nach Dielsdorf. Bärfuss, der nach einigen einleitenden Worten der Veranstaltenden die Bühne betritt, zeigt sich sichtlich erfreut (und zugegeben überrascht) über das rege Erscheinen im schmucken Bistro Philosophie. Ohne lange zu zögern, legt der Autor mit der Lesung seines neusten Romans los. Das Publikum ist gespannt, schmunzelt zwischendurch, auch stilles Nicken ist zu beobachten, zum Beispiel dann, wenn Bärfuss von Zuständen der Zeit während des Ersten Weltkrieges redet. Und wenn er da so erzählt, sich dem Text hingebend und alles um sich zu vergessen scheint, kann man nicht anders, als sich in den Bann ziehen zu lassen und sich zu denken: Das Buch brauche ich. Und ohne zu wissen, wie die weiteren beiden Teile dieser Trilogie sein werden, weiss man wohl: Auch die nächsten beiden finden ihren Platz in der Büchersammlung.

Nach fünfunddreissig Minuten setzt Bärfuss zum ersten Schluck Wasser an und führt sodann mit dem zweiten Teil seiner Lesung fort. Man wünschte sich, er erzähle den ganzen Abend weiter. Um kurz nach neun beendet der Autor sein Vorlesen und erhebt sich vom Stuhl. Zur Freude des Publikums nicht aber, um die Bühne zu verlassen, sondern um sich am Bühnenrand niederzulassen und für die anstehende Fragerunde näher bei diesem zu sein. Sympathisch, wie er da sitzt, denke ich mir.

Wir lernen in der nächsten halben Stunde, dass wohl alle Lukasse aus Lukatien kommen und dass wir von Bärfuss kein Kinderbuch lesen werden, so – das behauptet der Autor – erzähle er seine Geschichten für alle. Ob er sich denn auf der anderen Seite sehe, beispielsweise mit Sibylle Berg zusammen im Europaparlament, fragt eine neugierige Stimme im Publikum. Ungeachtet dessen, dass das aufgrund seiner Staatsbürgerschaft nicht möglich sei, verneint Bärfuss diese Frage nach einem Rückblick auf sein bisheriges Leben und die erfahrenen Repressionen in der Kindheit. Er wäre ein unbegabter Politiker mit zu wenig Frustrationstoleranz und nicht gemacht für Sitzungen oder die ewige Suche nach Kompromissen. 

«Them that’s got shall get, them that’s not shall lose» lauten die ersten Strophen von Billie Holidays God Bless The Child, das Bärfuss zu seinem Titel inspiriert hat. Wer hat, dem wird gegeben, das erfährt auch Bärfuss Protagonistin Adelina. Nicht weil sie hat, sondern weil sie um ihr Überleben kämpft.

BeHauptet: Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit – Lesung von Ayla Isik

Die Lesung von Ayla Isik aus ihrem autobiographischen Werk «BeHauptet» nahm die Zuhörer mit auf eine emotionale und inspirierende Reise durch ihr Leben. Aufgewachsen in einem streng religiösen Elternhaus, erzählt Isik dennoch von einer harmonischen Kindheit und einem herzlichen Familienverhältnis. Trotz der strengen religiösen Bindungen schien ihre Familie ein Ort der Liebe und des Verständnisses zu sein.

Ihr Weg der Selbstfindung begann früh. Mit nur 11 Jahren legte sie das Kopftuch an, weniger aus Überzeugung als aus Unkenntnis anderer Lebenswege. Ihre Heirat mit 18 Jahren und die Geburt ihrer drei Kinder folgten den erlernten traditionellen Mustern. Doch die Entscheidung ihrer Mutter, das Kopftuch abzulegen, wirkte wie ein Antrieb für Isiks eigenen Weg der Selbstfindung.

Es war keine einfache oder schnelle Entscheidung. Isik brauchte fünf Anläufe, um sich vom Kopftuch und symbolisch von den strengen religiösen Traditionen ihrer Gemeinschaft zu befreien. Die Befreiung war ein zweischneidiges Schwert. Sie führte zu tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Leben, einschliesslich der Unmöglichkeit, ihre Ehe fortzusetzen, und der herzzerreissenden Entscheidung, ihre Kinder zurückzulassen.

Indem sie ihre Geschichte erzählte, eröffnete Isik eine Diskussion über das Gleichgewicht zwischen traditionellen Glaubenssystemen und persönlicher Freiheit. Ihre Selbstbeschreibung als «Muslimin ohne Label» ist ein starkes Statement und eine Einladung, über die vielfältigen Wege des Glaubens und der persönlichen Identität nachzudenken.

Besonders berührend waren die Momente, in denen sie über die zahlreichen Abschiede von ihren Kindern sprach und aus ihrem Buch vorlas. Ihre emotionalen Worte faszinierten die Zuhörerinnen und Zuhörer und regten auch zum Denken an.

Alles in allem war die Lesung ein tief bewegendes Erlebnis, das das Publikum in ihren Bann zog.

Vom erstmaligen Kopflüften, Online-Imamen und Exil-Müttern

Das ist kein Buch über das Kopftuch, auch nicht über den Islam, betont die Autorin Ayla Işik hinsichtlich ihres Buches «BeHauptet: Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit». Ayla Işik ist 33, praktizierende Muslimin, verheiratet und Mutter von drei Kindern als sie beschliesst, nicht nur ihr Kopftuch abzulegen, sondern auch aus ihrem bisherigen Leben und Denken auszubrechen. Ihre Erfahrungen nach diesem Schritt hat sie in ihrem Buch festgehalten. In einem gleichermassen humorvollen wie bewegenden Gespräch mit der Moderatorin Helene Aecherli spricht die Autorin im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» über die enormen Herausforderungen und neuen Perspektiven eines selbstbestimmten Lebens.

Der Erkersaal des Debattierhauses Karl der Grosse ist bis auf einige wenige Plätze gefüllt, als Ayla Işik anfängt zu reden. Zürich würde ihr gut gefallen, vor allem die Pünktlichkeit der Gäste sei im Vergleich zu Köln vorbildlich. So locker wie das Gespräch angefangen hat, wird es, trotz der doch zu spät kommenden und nun die letzten freien Plätze suchenden Gäste, fortgeführt – vielleicht doch nicht so ein grosser Unterschied, denke ich mir.

Basierend auf den Gemeinsamkeiten menschlicher Erfahrungen erzählt sie im Verlauf des Gesprächs über ihr persönliches Leben und Schreiben. Dabei liest sie Passagen aus ihrem Buch vor, darunter ihre eigenen Tagebucheinträge über das erstmalige Abnehmen des Kopftuches sowie über die dritte, vierte und die endgültige Abnahme. Der Ausbruch aus alten Mustern ist ein langer Prozess. Sie teilt Auszüge aus den Briefen an ihre Familie, aus denen sowohl die Entschlossenheit als auch die Sorge beim Bekanntgeben ihrer Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, hervorgehen. Sie beschreibt ihre ersten Erfahrungen und bewussten Regelbrüche, darunter ihren ersten Schluck Mojito, den sie widerlich fand. Sie liest den schmerzerfüllten Bericht über die Trennung von ihren Kindern – denn Ehe gehe nur mit Kopftuch. Sie fühlt den Schmerz des Abschieds vor den zahlreichen Augen der gebannten Zuhörenden und wir fühlen mit, denn in diesem Schmerz wohnt etwas Universelles.  

«BeHauptet: Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit» ist kein Buch über das Kopftuch. Es ist ein Buch über den Ausbruch aus einem fest geregelten System, von dem die Ausprägung des Islams, in dem Antworten suchende Menschen online-Imame nach der einzig richtigen Lösung des korrekten McDonalds Konsums befragen, nur ein Beispiel abgibt. Die Befreiung aus diesen festen Mustern stellt den Verlust einer Sicherheit aber auch eine neu gewonnene Freiheit im Denken und Leben dar, denn:

«Nicht frei denken zu können, ist viel schlimmer als ein Stück Textil.»

«BeHauptet» – Lesung über die Freiheit und Selbstbestimmung von Musliminnen

In Ihrem Werk, «BeHauptet: Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit», setzt sich die Autorin Ayla Işik mit muslimischen Frauen, sich nach Freiheit sehnen, und deren sozialen Situationen auseinander, wobei vor allem ihre eigenen Erfahrungen im Fokus stehen. So praktizierte sie selbst bis zu ihrem 33. Lebensjahr die Religion des Islams, bis sie nach einer Phase von zahlreichen Konflikten und dem kritischen Hinterfragen ihrer Lebensweise einen Neuanfang und somit auch den Weg in ein selbstbestimmtes Leben wagte, der sich aber keineswegs einfach gestaltete.

Die Lesung und das Gespräch über den Roman fanden in einem altehrwürdigen Raum mit knarzigem Holzboden und gedimmtem Licht statt, was trotz der vielen BesucherInnen eine heimelige und lockere Stimmung schuf. Dazu trug ausserdem auch die Platzierung der Autorin und der Moderatorin Helene Aecherli auf grossen Sesseln vor dem Publikum bei, da auf diese Weise eine Art Wohnzimmersituation und somit auch ein vertrauter Gesprächsmodus entstand, der das aufmerksame Zuhören weitestgehend automatisierte.

Zu Beginn der Veranstaltung wurde Ayla Işik mit wenigen Sätzen durch die Moderatorin vorgestellt und das familiäre Verhältnis zwischen den beiden Frauen übertrug sich innert Kürze auf das Publikum. In einem unbeschwerten Gespräch wurden anschliessend die Lebenshintergründe der Autorin sowie einige der prägenden Erlebnisse ihres Lebenswandels aufgegriffen, wobei immer wieder prägnante Aussagen in den Raum gestellt wurden, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen.

So äussert sich Işik beispielsweise wie folgt zur Thematik der Akzeptanz in Bezug auf andere Meinungen und die grundlegende Bedingtheit von Werten:

«Eine gute Tat, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Respekt haben für mich heute erst einen Wert, wenn sie einer guten Absicht entspringen… Freundlichkeit ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit, so wie Liebe, Respekt und Toleranz»

Wie dieses Zitat bereits veranschaulicht, legt die Autorin grossen Wert auf gegenseitige Akzeptanz sowie Toleranz unter Andersdenkenden und möchte mit ihrem Buch nicht nur eine Anlaufstelle für Menschen bieten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, sondern auch ganz allgemein aufzeigen, wie wichtig es ist, sich stets auf Augenhöhe zu begegnen und keinen Menschen aufgrund seines Glaubens oder seiner Überzeugungen auszugrenzen oder nicht ernst zu nehmen. Passend dazu wurde an mehreren Stellen der Satz «meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit» aufgegriffen und die Wichtigkeit von Akzeptanz ins Zentrum gestellt.

Während der Lesung wurden somit eine Vielzahl an Themen angesprochen und mit persönlichen Erfahrungsberichten der Autorin unterlegt. Neben den bereits erwähnten Aspekten rund um die Toleranz stachen hierbei vor allem der Umgang mit Regeln, der Umgang mit der eigenen Freiheit, die Selbstbestimmung und der unbezahlbare Wert eigener Erfahrungen hervor.

Gegen Ende der Veranstaltung wurde das Ganze durch eine lockere Fragerunde abgerundet, in welcher die Autorin mehr oder weniger offen auf die Interessen der Anwesenden einging. Doch auch wenn in dieser kurzen Stunde bereits so viele spannende Gedanken und Erfahrungen diskutiert wurden, besteht für mich nach diesem Erlebnis und der durchwegs angenehmen sowie fesselnden Erzählweise kein Zweifel daran, dass der Roman von Ayla Işik noch viel mehr zu bieten hat und folglich im Rahmen der nächsten Wochen einen Platz in meinem Bücherregal finden wird.