«Es brauchte Diplomatie, Ausdauer und Härte»: Diese Hürden musste Thomas Strässle zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Frisch und Bachmann überwinden

Bei «Zürich liest» sprach Christine Lötscher mit Thomas Strässle, dem Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Die Besucher:innen erfuhren, wie es zur Veröffentlichung kam und welche Hindernisse es gab.

6. April 2011: Ein Tag, den Thomas Strässle nicht vergisst. Damals besuchte der Literaturwissenschaftler die UBS am Zürcher Bellevue. Er verfolgte, wie die historischen Dokumente aus der Dunkelheit des Safes von Frisch ans Licht geholt wurden. Welche Strapazen und Mühen ihn erwarten würden, konnte er noch nicht wissen. Es sollte ein langer Weg werden, bis der Briefwechsel sorgfältig ediert veröffentlich werden konnte.

Zwischen Neugier und Zweifeln

Für 20 Jahre waren die Briefe zwischen Frisch und Bachmann gesperrt. Seine Neugier zog Thomas Strässle direkt zum Briefwechsel. Beim Lesen seien ihm jedoch Zweifel gekommen: «Mich legitimiert eigentlich nichts, diese Briefe zu lesen.» Dazu kam aus dem Publikum eine kritische Frage: Woher er denn die Sicherheit genommen habe, die Briefe lesen und veröffentlichen zu dürfen. Thomas Strässle erklärte, er sei sich bewusst gewesen, dass er in eine Beziehungswelt eindrang, mit der er nichts zu tun hatte. Er habe die rund 300 Korrespondenzstücke als Vertreter des Max Frisch-Archivs lesen dürfen. Die Verantwortung, dass die Briefe von Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden durften, trage er jedoch nicht. Entschieden hätten dies ihre Geschwister.

Die Sperrfrist als Hinweis für Frischs Wille

Was sprach für eine Veröffentlichung der intimen Geheimnisse von Frisch und Bachmann? Thomas Strässle nennt vier Gründe. Wenn Frisch gewollt hätte, dass die Briefe nicht gelesen würden, dann hätte er sie vernichtet. Es sei kein Beweis, dass Frisch sie habe publizieren wollen, aber ein Hinweis. Zudem hätten sowohl Frisch als auch Bachmann ihre Beziehung literarisch verarbeitet. Einen ersten Schritt zur Veröffentlichung hätten die beiden also selbst getan. Die zwei Literat:innen seien zudem Personen öffentlichen Interesses. Darüber hinaus rankten sich um ihre Beziehung viele Mythen, die in den Briefen widerlegt würden. Max Frisch als alleinigen Täter zu sehen, greife zu kurz.

Beziehung wurde nicht «zu Literatur verwurstet»

Durch den Briefwechsel werden laut Thomas Strässle folgende Korrekturen ersichtlich: Das bisherige Narrativ, dass Frisch Bachmann für eine jüngere Frau verlassen hätte, stimme so nicht. Ausserdem könne man nicht mehr behaupten, dass in Mein Name sei Gantenbein intimste Details der Beziehung ohne Einverständnis von Bachmann ausgeschlachtet wurden. Die Schriftstellerin hat den gesamten Schreibprozess begleitet und auch die allerletzte Fassung abgesegnet.

Wichtig sei, dass man nun nicht in Anschuldigungen gegen Bachmann verfalle. Generell müsse man sich von der Vorwurfsrhetorik verabschieden.

Verhandlungen mit den Geschwistern Bachmann: «lang, herausfordernd und unangenehm»

Nach Ablauf der Sperrfrist begannen die Verhandlungen mit Ingeborg Bachmanns Geschwistern. Um auch ihre Briefe veröffentlichen zu können, brauchte es nämlich deren Einwilligung. Die Verhandlungen seien langwierig und herausfordernd gewesen, mehr noch: «Es war unangenehm.» Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschwister überhaupt zu einem Gespräch mit Strässle bereit waren. Zuerst wollten sie, dass nur Frischs Briefe veröffentlicht würden. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Schliesslich kam man zusammen mit dem Suhrkamp Verlag zum Beschluss, bis zu welchem Zeitpunkt der gesamte Briefwechsel erscheinen sollte.

«Ich liebe es, den Film von Margarethe von Trotta zu polemisieren»

Während des 1.5-stündigen Gesprächs teilte Thomas Strässle mehrfach gegen den neuen Film von Margarethe von Trotta aus. Vor zwei Wochen erschien der Spielfilm Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste. Er behandelt das Leben der Schriftstellerin und die Beziehung zu Max Frisch.

Strässle hatte mit dem Filmprojekt zu tun. Die Regisseurin wollte den Briefwechsel einsehen. Doch er erlaubte das nicht. Die Briefe waren noch streng geheim, und Stillschweigevereinbarungen mit 70 Leuten abzuschliessen, wäre ihm zu riskant gewesen. Es sei ein harter Kampf gewesen und auch um viel Geld gegangen. Ins Detail wollte Strässle nicht gehen. Er selbst habe den Film nicht gesehen und möchte dies auch nicht tun. Gespräche und Kritiken würden aber darauf hinweisen, dass der Film die alten Mythen, Klischees und Legenden reproduziere. Im veröffentlichten Buch sei die Korrektur zu finden.

Gegen Ende des Gesprächs kam eine Publikumsfrage zur zweiten Ehefrau von Max Frisch. Wie sie zur Veröffentlichung des Briefwechsels stehe. Strässle antwortete kurz und knapp: «entspannt». Dabei konnte er sich einen letzten Seitenhieb gegen den Film nicht verkneifen. Er habe Frischs Ehefrau versichert, dass sie vom Briefwechsel nichts zu befürchten habe. Beim Film sei das anders. Dort werde sie gar beim falschen Namen genannt.

Abgleiten in die Psychologie

Was lässt sich alles aus den Briefen herauslesen? Und wo läuft man Gefahr, zu viel hineininterpretieren zu wollen? Dem Briefwechsel steht ein umfangreicher Kommentar zur Seite. Es sei wichtig gewesen, alles zu erklären und historische Hintergrundinformationen zu geben, erklärte Thomas Strässle. So würden Lücken nicht willkürlich ausgefüllt.

Doch Thomas Strässle erlaubte sich auch psychologische Deutungen: «In der Beziehung war Frisch verzweifelter und hat mehr gelitten. Doch Bachmann ist mit mehr Beschädigungen herausgekommen.» Spricht hier der Literaturwissenschaftler oder ein Hobby-Psychologe? Inwiefern lässt sich aufgrund der Briefe auf die gesamte Liebesbeziehung zwischen Frisch und Bachmann schliessen? Sind sie nicht bloss ein kleiner Teil? Dass er sich hier fernab seines Fachbereiches bewegt, bemerkte der Literaturwissenschaftler und schloss sein Statement mit: «Ich bin kein Psychologe.»

Es blieb aber nicht die einzige Situation, in der er in die Psychologie abglitt. So etwa, als Strässle erzählte, wie Frisch auf das Geständnis reagierte, dass Bachmann eine Beziehung mit einem anderen Mann führte. Obwohl in ihm ein Gefühlschaos herrschte, habe Frisch glasklar formuliert. Das sei keine Reaktion eines «tobenden Eifersuchtsweltmeisters», sondern eines Menschen, der «den emotionalen Zustand rational zu durchdringen versucht». Christine Lötscher unterband diese Interpretationen nicht etwa, sondern fügte sogar noch eigene hinzu, wie zum Beispiel: «Wenn wir wieder zur Psychologie zurückkehren. Vielleicht war ja auch die Berühmtheit ein weiterer Grund für die psychische Verfassung gegen Ende von Bachmanns Leben.» Heikles Terrain.

Interessant war der Abend allemal: Das Publikum erhielt einen Einblick in die 10-jährige Arbeit bis zur Veröffentlichung und einen neuen Blick auf eine einzigartige Liebesgeschichte. Es bleibt jedoch die Frage, wie weit ein Briefwechsel eine Beziehung ausleuchten kann.

Über Sprache, Quappen und Kinderbücher: Ein Nachmittag mit Elisa Shua Dusapin

Ich stehe vor dem Erkerzimmer im Karl und warte, dass ich zur Veranstaltung reingehen darf, da kommen Sandrine Charlot Zinsli und Ruth Gantert auch schon aus dem Raum und stellen sich als Moderatorin des Nachmittags und Übersetzerin vor. Die Autorin sei noch nicht da, sie komme direkt aus Paris und vielleicht sei der Zug verspätet. Kaum zwei Minuten später steht Elisa Shua Dusapin (das Shua spricht man Sua, wie sie uns erklärt) auch schon da. Der Raum füllt sich nur langsam und bleibt bis zum Schluss halbleer an diesem Sonntagnachmittag. Selbst schuld, wer sich so eine Autorin entgehen lässt – denn in Frankreich ist Dusapin bereits eine der ganz Grossen. Mit ihrem neuen Roman Le vieil incendie aktuell nominiert für den prix médecis, werden ihre Bücher mittlerweile in 38 Sprachen übersetzt. Sie reist den grössten Teil des Jahres, um ihre Bücher in verschiedensten Ländern vorzustellen, lebt aber eigentlich in Frankreich. Zum Schreiben komme sie nur, wenn sie sich die Zeit dazu bewusst nehme, sagt sie.

Kurz darauf bin ich froh um unsere kleine Gruppe. Die Atmosphäre im Raum ist ruhig und doch knisternd, vorgespannt. Denn sobald Elisa Shua Dusapin über Kinderbücher, und vor allem ihren Comic le Colibri spricht, dann leuchten ihre Augen – es ist ein Herzensprojekt, dass sie damit realisiert hat.

Ursprünglich wurde Duspain angefragt, um die Theateradaption zu schreiben – sie wollte aber nicht einfach eine Vorlage umsetzen, sondern etwas Eigenes schaffen. Neben dem Theater gibt es auch noch den Comic, ein Audiobuch und eine musikalische Umsetzung. Die Musik hat das Orchestre de la Suisse Romande komponiert. Musik und Theater waren schon vor der Literatur wichtige Teile in Dusapins Leben. Und auch die Kinderliteratur hat einen festen Platz in ihrem Schaffen – zwischen ihren Romanen schreibe sie immer ein Kinderbuch, das gebe ihr mehr Freiheit beim Schreiben.

In le Colibri geht es um einen Jungen, Céléstin, dessen älterer Bruder Himmelsforscher (explorateur du ciel) geworden ist. Céléstin lernt Lotte (das E muss man aussprechen, ansonsten ist es im Französischen ein schrecklicher Fisch, eine Quappe) kennen, die ihm einen Colibri gibt. Der Colibri, zu Beginn starr und unbeweglich, wird zur Metapher für Céléstins verstorbenen Bruder. So schreibt Dusapin am liebsten in florierenden Metaphern, sodass sie Leser:innen den Raum gibt, selbst zu interpretieren.

Die Sprache ist immer zentral in Dusapins Werken – sie selbst ist Tochter eines Franzosen und einer Südkoreanerin, wuchs unter anderem im Jura auf und studierte dann in Biel. Als Kind sei sie in der Familie oft diejenige gewesen, die übersetzt habe. So geht es in ihren Büchern immer darum, wie verschiedene Menschen miteinander kommunizieren, obwohl sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Passend dazu ist die Veranstaltung auf Französisch mit Übersetzung auf Deutsch, Moderatorin und Übersetzerin harmonieren miteinander – die eingeschobenen deutschen Passagen tun der Stimmung keinen Abbruch.

Dusapin wirkt sehr überlegt, manchmal nachdenklich, aber immer mit einem Funkeln in den Augen, mit einer Neugierde, neue Ideen zu finden und so lauscht das comité intime, wie Sandrine Zinsli unseren Kreis passend bezeichnet, die ganze Zeit gebannt auf Deutsch und auf Französisch den Geschichten von Elisa Shua Dusapin, denn die erzählt sie wunderbar.

«Das letzte Buch» – ein Gespräch über das Sterben

Ich schlage mich bei Karl*a durch das lebendige Gewühl im Erdgeschoss zum Barockzimmer hoch, in den schwarzen Stuhlreihen sind noch ein paar Plätze frei. Gleich fällt mir auf, dass die meisten im Publikum ebenfalls schwarz gekleidet sind – sehr passend, wie ich finde. Die Stimmung ist spürbar konzentriert, alle haben sich auf die schwierige Thematik des Abends eingestellt.

Im neonpinken Blazer tritt die Moderatorin des Abends, Anne Rüffer, gemeinsam mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff, ein. Das Gespräch wird eröffnet und der Blick auf das Werk und Thema des heutigen Abends, ebenfalls in pinkem Umschlag, gelenkt: «Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben».

Herausgegeben von Caduff und erschienen bei Rüffers Verlag wird bereits zu Beginn klar, wie viel persönliche Sorgfalt und Hingabe in diesem Projekt stecken. Das Buch stellt eine Sammlung von Auszügen aus neun Sterbebüchern, vorwiegend aus den 2010er Jahren, dar. Ist es auch dieser Zeitraum, welchem das Genre dieser autobiographischen Sterbeliteratur entstammt, so Caduffs These.

«Im Sterben sind wir alle Anfänger*innen.»

Corina Caduff

Sterben und der Tod sind gleichsam universale wie auch persönliche Erfahrungen, zeitlos und zeitspezifisch zugleich. Jede*r stirbt, abhängig von Kultur, Alter und Umfeld, anders. Fragen und Aspekte wie gesellschaftlicher Erwartungsdruck, Verfall des eigenen Körpers, Angst und Sprachlosigkeit, beschäftigen uns dennoch alle gleichermassen. Gerade durch den letzten Punkt wird sichtbar, dass eine solche Extremsituation eine neue Art von Sprache erfordert: Was soll man zu einem Zustand sagen, der nicht verbalisiert werden kann?

Auch das Publikum ist ruhig, alle Blicke sind nach vorne gerichtet und eine beinahe andächtige Atmosphäre hat sich ausgebreitet. Besonders bei den Stellen, an welchen vorgelesen wird, ist Empathie und Anerkennung zu spüren. Das pointierte Greifen einer unbegreifbaren Situation durch die Autor*innen, sei es via Humor oder Wut, berührt sehr. Es ist überraschend befreiend über das Sterben lesen und sprechen zu können.

Wem ist die Lektüre also zu empfehlen? Besonders den Palliativpflegekräften, meint Caduff, und natürlich auch Angehörigen und Betroffenen. Aber schlussendlich uns Allen: «Für mehr Empathie dem eigenen zukünftigen Ich gegenüber».

Say no to: Kätzchen, Schmetterling und Schneck! Vulva is the word we’re looking for!

20.25 Uhr – Fünf Minuten vor Beginn komme ich im Karl der Grosse an. Nach dem obligaten Toilettengang vor einer Lesung beeile ich mich, um es noch rechtzeitig in den Saal zu schaffen. 20.28 Uhr, ich setze mich auf den letzten freien Sitz! Die in Berlin lebende Fotografin und Stand-up-Comedienne Lisa Frischemeier und Gülsha Adilji, die Joiz-Moderatorin meiner Jugend – oder sogar meiner Kindheit?! – werden in Kürze die Bühne betreten, um über Frischemeiers I SEE VULVAS EVERYWHERE zu sprechen. Das Publikum: Zu Vierfünftel weiblich gelesene Personen. Dies sei weiter aber auch nicht überraschend, wie ich im Verlauf des Gesprächs erfahre. Kurze Prolepse: Es sind eben vor allem weiblich gelesene Personen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit weniger Vulven gesehen, gespürt, gerochen und und ge-[_____] haben. Also, weiter im Takt. Karl der Grosse ist ausverkauft. Die allgemeine Stimmung des Publikums im Saal setzt sich aus ‚ich möchte unbedingt neue Erkenntnisse gewinnen‘ und ‚bleib mal locker, ich bin hier um zu lachen‘ zusammen und trifft somit den Sweet Spot fürs gemeinsame Lernen. Letzteres wird in den bevorstehenden 90 Minuten auch zu Genüge getan.

Auf Adiljis Einstiegsfrage, wie Frischemeiers Mitmenschen auf ihr Vorhaben ein Buch über VULVEN zu konzipieren reagierten, antwortet die Autorin, die ihren gewöhnlichen Job hasst (ich berichte gleich warum), dass die weiblich gelesenen Personen die Relevanz des Themas auf Anhieb gecheckt haben, während sich die MÄNNERS wie bei vielem, was Frauen betrifft, unisono einig waren: Es schreit nach Redundanz. Nun zu ihrem Hassjob: Zu ihren Mitmenschen zählt eben auch ihr Chef, dem sie von ihrem ‚Nebenerwerb‘ erzählen musste. Und ja, Mann + Redundanz = ‹Sind in dem Buch auch Fotos von dir drin?› – An dieser Stelle: Shoutouts an den Chef: Für dich steht auf dem Cover in Majuskeln: 100% PORNOFREI.

Nun wird die Sprache ins Visier genommen und wir lernen, ohne zu lachen: Die Sprache ist unheimlich wichtig, wenn es um Geschlechtsteile geht. Wieso sprechen wir mit Kinder über Schmetterlinge, Kätzchen, Schnecken, SCHAMLIPPEN und nicht über Vulven und Vaginen? Wieso unterscheiden wir generell nicht zwischen Vulva und Vagina, oder: Sind ein Penis und Hoden dasselbe? – Die erste take-home-message ist klar: Erst wenn wir im Stande sind die richtigen Vokabeln zu verwenden, sind wir fähig, uns vernünftig und wertfrei zu unterhalten. (Kurzes bestätigendes Kopfnicken nach links, gefolgt von Schmunzeln ist seh- und hörbar)

Frischemeier fährt fort und erzählt über ihr befreiendes Erlebnis an einer naked tea party irgendwo in Berlin. – Genitalien sind halt einfach nur Genitalien, meint sie, wie ein Knie oder ein grosser Zeh – Stimmt, denke ich, schweife dabei ab und sage mir, dass man  den eigenen Körper tatsächlich nicht immer lieben muss, und als wäre Frischemeier in meinem Kopf gesessen, nimmt sie mir meine Gedanken ab und meint, dass man einfach lieb sein soll zu ihm, so wie man es zu Freunden oder Verwandten auch ist. #zweite #takehomemessage #erneuteskopfnickenundschmunzeln.

«In the western society though, and thankfully of course, that’s not the case, women and men are equal and have the same rights, as everyone should have.» (Marcos, ein in Wahrheit doch misogyner Fotograf)

Im letzten Drittel der Lesung lässt Frischemeier das Publikum hinter die Kulissen ihres Arbeitsprozesses blicken. I SEE VULVAS EVERYWHERE , das von Irene Schampaerts I see faces inspiriert ist, setzt sich aus Texten und vor allem Illustrationen zusammen, die von Hauswänden und Gebäcken über Gewässer im Golf von Mexiko, vulvenhaften Brunnen in der Pfalz und genitalischen Ballone in den Strassen Istanbuls reicht. Alle haben sie gemeinsam, dass sie die Vulva im Fokus haben. – Entstigmatisierung! – Frischemeier ist aber nicht um die ganze Welt und hat Fotos geknipst. Vielmehr habe sie zu ihren eigenen, auch Fotos von Menschen rund um den Globus erhalten. In diesem Zusammenhang erzählt sie, dass es aber auch Menschen wie Marcos gab, – wir nennen ihn auch hier bewusst explizit – die nicht bereit waren ihre Illustrationen in I SEE VULVAS EVERYHWERE abdrucken zu lassen, weil sie keinesfalls mit feministischen Arbeiten in Verbindung gebracht werden wollten, oder besser gesagt: Nicht mit feministischen Arbeiten aus dem Westen, denn dort lebten die Geschlechter ohnehin schon gleichberechtigt……..

«Wiggerl» – Vernichtung durch die Nazis 

Stimmengewirr. Donnerstagabend. Debattierhaus ‘Karl der Grosse’. Blaues Foyer. Genauer: Ein kleiner, heimeliger Raum zwischen zwei Treppenhäusern. Er ist um 17:45 Uhr bereits voll. Der Mann der Stunde – Andreas Pospischil – wirkt abgelenkt, als der Moderator Yves Schumacher die finalen Fragen durchgehen will, schaut sich um, muss allen, die er kennt, die Hand schütteln, Hallo sagen. 

18:00 Uhr. Schumacher: «Heute liest nicht Zürich, sondern Andreas Pospischil.» Es handle sich bei seinem Werk «Wiggerl» um eine akribisch recherchierte Tatsachengeschichte. Wie sich im Laufe der folgenden 60 Minuten herausstellen wird, hat Schumacher damit absolut Recht. Zunächst aber: Vorstellung Pospischils. Geboren in Wien, aufgewachsen in München. Später längere Zeit seines Lebens Professor und Direktor des Instituts für Veterinärpathologie an der Universität Zürich.

Das erste Kapitel «Spurensuche» handelt von der langwierigen Recherche nach Daten und Fakten über Ludwig S. – genannt «Wiggerl» – auf dessen frühere Existenz Pospischil zufällig beim Durchforsten einer Kiste der verstorbenen Schwiegermutter gestossen ist. Das Buch verbindet realhistorische Gegebenheiten mit fiktiven Handlungen sowie Stellen aus dem Lebenslauf von Wiggerl. Dabei wechselt Pospischil an den passenden Textstellen jeweils in den bayerischen oder schweizerdeutschen Dialekt. Ausserdem unterbricht er das Vorlesen immer wieder und gibt uns Kontextinfos zu den erwähnten geschichtlichen Ereignissen im Buch. Manch ein Exkurs sorgt trotz des ernsten Themas in Verbindung mit Pospischils ruhiger und offener Art für Lacher im Publikum. Geboren ist Wiggerl 1901 in München. Im Laufe seiner Kindheit wird bald klar, dass er vergleichsweise klein bleibt und von Albinismus betroffen ist. Seine Mutter stirbt früh, Familienprobleme sind die Folge. 

Zwischendurch ist das leise Flüstern einzelner Stimmen zu hören.

Am 16. September 1938 passiert das, was Pospischil als «Kern der Geschichte» beschreibt. Basis dafür bilden Protokolle der Gerichte, die den Fall Ludwig S. dokumentieren. Wiggerl ist inzwischen ein Landstreicher geworden und meldet sich für den Reichsarbeitsdienst «Arbeiten am Westwall». An besagtem Septembertag ruft er aus: «Pfui, das Dritte Reich! Es lebe Moskau!». Daraufhin bringt ihn die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes in das Gefängnis Neustadts an der Weinstrasse, um ihn zu verhören. Aus einem der Verhörprotokolle ist die Aussage Wiggerls «an den Tag kann ich mich nicht erinnern, war ziemlich besoffen» zu entnehmen. Aufenthalte in Untersuchungsgefängnissen folgen. Auf die Verhandlung des Falls im Januar 1939 folgt seine Verurteilung. Vorgeworfen werden ihm Staatsfeindlichkeit und Staatshetze. 1 Jahr und 3 Monate Gefängnisstrafe in einem Justizlager. Arbeiten verrichten. 1940 ist die Haftzeit von Wiggerl abgelaufen. Er schreibt seinem Vater einen Brief, dass er bald heimkommt. Am Tag seiner Entlassung erreicht ihn ein Schreiben: «Entlassung von politischen Strafgefangenen». Er wird in Schutzhaft genommen, muss in mehreren Konzentrationslagern arbeiten. Das letzte ist in Dachau. Es ist nicht geklärt, ob Ludwig S. eines natürlichen Todes stirbt oder von den Nationalsozialisten getötet wird. Letzteres ist jedoch sehr wahrscheinlich.

Zum Schluss werden die anfangs durchgegangenen Fragen besprochen. Pospischil antwortet angeregt. Das Buch sei mit viel Recherchearbeit verbunden. Es habe ihn sehr gereizt, den Fall des Ludwig S. aufzuklären. Das hänge mit seinem ehemaligen Pathologenberuf zusammen. Archivarbeit. Wiggerl wurde verschwiegen, der Grund dafür sei unbekannt. War er das schwarze Schaf der Familie? Alle Personen, die darüber hätten Auskunft geben können, waren zum Zeitpunkt der Recherchen bereits verstorben. Während des Krieges habe man wohl aus Angst vor den Nazis nicht über Wiggerl geredet und nach dem Krieg sei er vermutlich vergessen geworden. Ich denke mir, dass es gefährlich ist, dieses Vergessen.