«Es brauchte Diplomatie, Ausdauer und Härte»: Diese Hürden musste Thomas Strässle zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Frisch und Bachmann überwinden

Bei «Zürich liest» sprach Christine Lötscher mit Thomas Strässle, dem Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Die Besucher:innen erfuhren, wie es zur Veröffentlichung kam und welche Hindernisse es gab.

6. April 2011: Ein Tag, den Thomas Strässle nicht vergisst. Damals besuchte der Literaturwissenschaftler die UBS am Zürcher Bellevue. Er verfolgte, wie die historischen Dokumente aus der Dunkelheit des Safes von Frisch ans Licht geholt wurden. Welche Strapazen und Mühen ihn erwarten würden, konnte er noch nicht wissen. Es sollte ein langer Weg werden, bis der Briefwechsel sorgfältig ediert veröffentlich werden konnte.

Zwischen Neugier und Zweifeln

Für 20 Jahre waren die Briefe zwischen Frisch und Bachmann gesperrt. Seine Neugier zog Thomas Strässle direkt zum Briefwechsel. Beim Lesen seien ihm jedoch Zweifel gekommen: «Mich legitimiert eigentlich nichts, diese Briefe zu lesen.» Dazu kam aus dem Publikum eine kritische Frage: Woher er denn die Sicherheit genommen habe, die Briefe lesen und veröffentlichen zu dürfen. Thomas Strässle erklärte, er sei sich bewusst gewesen, dass er in eine Beziehungswelt eindrang, mit der er nichts zu tun hatte. Er habe die rund 300 Korrespondenzstücke als Vertreter des Max Frisch-Archivs lesen dürfen. Die Verantwortung, dass die Briefe von Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden durften, trage er jedoch nicht. Entschieden hätten dies ihre Geschwister.

Die Sperrfrist als Hinweis für Frischs Wille

Was sprach für eine Veröffentlichung der intimen Geheimnisse von Frisch und Bachmann? Thomas Strässle nennt vier Gründe. Wenn Frisch gewollt hätte, dass die Briefe nicht gelesen würden, dann hätte er sie vernichtet. Es sei kein Beweis, dass Frisch sie habe publizieren wollen, aber ein Hinweis. Zudem hätten sowohl Frisch als auch Bachmann ihre Beziehung literarisch verarbeitet. Einen ersten Schritt zur Veröffentlichung hätten die beiden also selbst getan. Die zwei Literat:innen seien zudem Personen öffentlichen Interesses. Darüber hinaus rankten sich um ihre Beziehung viele Mythen, die in den Briefen widerlegt würden. Max Frisch als alleinigen Täter zu sehen, greife zu kurz.

Beziehung wurde nicht «zu Literatur verwurstet»

Durch den Briefwechsel werden laut Thomas Strässle folgende Korrekturen ersichtlich: Das bisherige Narrativ, dass Frisch Bachmann für eine jüngere Frau verlassen hätte, stimme so nicht. Ausserdem könne man nicht mehr behaupten, dass in Mein Name sei Gantenbein intimste Details der Beziehung ohne Einverständnis von Bachmann ausgeschlachtet wurden. Die Schriftstellerin hat den gesamten Schreibprozess begleitet und auch die allerletzte Fassung abgesegnet.

Wichtig sei, dass man nun nicht in Anschuldigungen gegen Bachmann verfalle. Generell müsse man sich von der Vorwurfsrhetorik verabschieden.

Verhandlungen mit den Geschwistern Bachmann: «lang, herausfordernd und unangenehm»

Nach Ablauf der Sperrfrist begannen die Verhandlungen mit Ingeborg Bachmanns Geschwistern. Um auch ihre Briefe veröffentlichen zu können, brauchte es nämlich deren Einwilligung. Die Verhandlungen seien langwierig und herausfordernd gewesen, mehr noch: «Es war unangenehm.» Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschwister überhaupt zu einem Gespräch mit Strässle bereit waren. Zuerst wollten sie, dass nur Frischs Briefe veröffentlicht würden. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Schliesslich kam man zusammen mit dem Suhrkamp Verlag zum Beschluss, bis zu welchem Zeitpunkt der gesamte Briefwechsel erscheinen sollte.

«Ich liebe es, den Film von Margarethe von Trotta zu polemisieren»

Während des 1.5-stündigen Gesprächs teilte Thomas Strässle mehrfach gegen den neuen Film von Margarethe von Trotta aus. Vor zwei Wochen erschien der Spielfilm Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste. Er behandelt das Leben der Schriftstellerin und die Beziehung zu Max Frisch.

Strässle hatte mit dem Filmprojekt zu tun. Die Regisseurin wollte den Briefwechsel einsehen. Doch er erlaubte das nicht. Die Briefe waren noch streng geheim, und Stillschweigevereinbarungen mit 70 Leuten abzuschliessen, wäre ihm zu riskant gewesen. Es sei ein harter Kampf gewesen und auch um viel Geld gegangen. Ins Detail wollte Strässle nicht gehen. Er selbst habe den Film nicht gesehen und möchte dies auch nicht tun. Gespräche und Kritiken würden aber darauf hinweisen, dass der Film die alten Mythen, Klischees und Legenden reproduziere. Im veröffentlichten Buch sei die Korrektur zu finden.

Gegen Ende des Gesprächs kam eine Publikumsfrage zur zweiten Ehefrau von Max Frisch. Wie sie zur Veröffentlichung des Briefwechsels stehe. Strässle antwortete kurz und knapp: «entspannt». Dabei konnte er sich einen letzten Seitenhieb gegen den Film nicht verkneifen. Er habe Frischs Ehefrau versichert, dass sie vom Briefwechsel nichts zu befürchten habe. Beim Film sei das anders. Dort werde sie gar beim falschen Namen genannt.

Abgleiten in die Psychologie

Was lässt sich alles aus den Briefen herauslesen? Und wo läuft man Gefahr, zu viel hineininterpretieren zu wollen? Dem Briefwechsel steht ein umfangreicher Kommentar zur Seite. Es sei wichtig gewesen, alles zu erklären und historische Hintergrundinformationen zu geben, erklärte Thomas Strässle. So würden Lücken nicht willkürlich ausgefüllt.

Doch Thomas Strässle erlaubte sich auch psychologische Deutungen: «In der Beziehung war Frisch verzweifelter und hat mehr gelitten. Doch Bachmann ist mit mehr Beschädigungen herausgekommen.» Spricht hier der Literaturwissenschaftler oder ein Hobby-Psychologe? Inwiefern lässt sich aufgrund der Briefe auf die gesamte Liebesbeziehung zwischen Frisch und Bachmann schliessen? Sind sie nicht bloss ein kleiner Teil? Dass er sich hier fernab seines Fachbereiches bewegt, bemerkte der Literaturwissenschaftler und schloss sein Statement mit: «Ich bin kein Psychologe.»

Es blieb aber nicht die einzige Situation, in der er in die Psychologie abglitt. So etwa, als Strässle erzählte, wie Frisch auf das Geständnis reagierte, dass Bachmann eine Beziehung mit einem anderen Mann führte. Obwohl in ihm ein Gefühlschaos herrschte, habe Frisch glasklar formuliert. Das sei keine Reaktion eines «tobenden Eifersuchtsweltmeisters», sondern eines Menschen, der «den emotionalen Zustand rational zu durchdringen versucht». Christine Lötscher unterband diese Interpretationen nicht etwa, sondern fügte sogar noch eigene hinzu, wie zum Beispiel: «Wenn wir wieder zur Psychologie zurückkehren. Vielleicht war ja auch die Berühmtheit ein weiterer Grund für die psychische Verfassung gegen Ende von Bachmanns Leben.» Heikles Terrain.

Interessant war der Abend allemal: Das Publikum erhielt einen Einblick in die 10-jährige Arbeit bis zur Veröffentlichung und einen neuen Blick auf eine einzigartige Liebesgeschichte. Es bleibt jedoch die Frage, wie weit ein Briefwechsel eine Beziehung ausleuchten kann.

Frieden dem Unfrieden – warum Gotthelf immer aktuell ist

Jeremias Gotthelfs Werk erhält eine «Zürcher Ausgabe»! Die ersten drei Bände sind seit dem 25. Oktober beim Diogenes Verlag erhältlich. Zu diesem Anlass trafen sich Literaturprofessor Philipp Theisohn (Disclaimer: Herausgeber auch des Schweizer Buchjahrs), welcher die Neuauflage herausgibt, und die bekannte Autorin Monika Helfer, die als «Gotthelf-affine» Autorin ein Nachwort für «Uli der Pächter» verfasst hat. Die Frage, die sie gemeinsam zu beantworten suchen: Kann man Gotthelf heute überhaupt noch lesen? Die Vielzahl der Anwesenden am Freitagabend deutet an – ja, kann man!


Gastgeber ist an diesem Abend ein Salon. Und sehr gemütlich ist es im Salon zum Rehböckli! Man fühlt sich, als ob man bei jemandem zu einem Abendessen eingeladen ist und vor dem Essen noch ein wenig über Literatur spricht. Der Holzboden, das gedimmte Licht und eine Katze, die sich auf dem Sofa ausbreitet und streicheln lässt, haben einen entspannenden Effekt auf das Publikum.


Die Veranstaltung startet mit der Autobiographie von Jeremias Gotthelf, dessen Leben auf ein paar wenigen Seiten zusammengefasst werden kann, wenn man sich an die Eckdaten hält. Aber er habe trotzdem genügend Stoff für seine Werke gefunden, merkt Herausgeber Theisohn an. Gotthelf, der bürgerlich eigentlich Bitzius hiess, musste für seine Vorgesetzten häufig Berichte über die Ereignisse und Missstände in seiner Pfarreigemeinde anfertigen. Seine Erzählungen, besonders auch die «Uli»-Bücher, erben diese Feinfühligkeit für ihre Figuren.


Diese Sorgfalt und Empathie für Figuren, die nicht immer perfekt sind, sondern auch Schwächen haben, zieht auch Monika Helfer schon seit langem zu Jeremias Gotthelfs Werk. Als Kind habe sie oft Gotthelf-Hörbücher gehört. Die österreichische Autorin ist auch in ihrem eigenen Schreiben von solchen Charakteren fasziniert. «Ist nicht deine Gloria ein wenig wie Gotthelfs Elisi?», fragt Theisohn schmunzelnd. Damit ist eine Figur in Helfers neuem Roman «Die Jungfrau» gemeint, der gerade dieses Jahr erschienen ist und von einer jahrelangen Freundschaft zwischen zwei Frauen handelt.


Schliesslich kommen die beiden auf die Bedeutung des Geldes in Gotthelfs Romanen zu sprechen. Geld vor allem im Sinn vom richtigen Umgehen damit, wie sowohl Gier als auch Faulheit für Uli Konsequenzen haben. Helfer greift im Nachwort zu «Uli der Pächter» diesen Aspekt ebenfalls auf. In einer kurzen Erzählung wird Uli zum Hotelier in einem Ausflugsgebiet und muss sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen wie als Knecht und Pächter. Der Beweis also, dass die Uli-Geschichten kaum an Aktualität verloren haben.

«Sovrapposizioni» a Zurigo: poetica della realtà

In una piccola stanza adibita a mo› di caffè letterario ha luogo una tra le più speciali «riunioni di scrittori appartenenti a due generazioni»: così inizia la moderatrice Jecqueline Aerne ad introdurre gli ospiti di questa sera presso la Kulturhaus Helferei di Zurigo. Accomodati su un divanetto elegante ci sono Fabio Pusterla e Yari Bernasconi a leggere poesie estratte dalle loro raccolte bilingui: Nella quiete provvisoria del volo/In der vorläufigen Ruhe des Flugs (2021) rispettivamente Nuovi giorni di polvere/Neue staubige Tage (2021). A fasi alternate, tra una serie di lettura e l’altra, il violinista Matthias Lincke, suonando ad occhi chiusi, regala momenti di riflessione al pubblico, che apprezza molto la sua bravura.

La discussione dei testi è preceduta dall’intervento della moderazione, con cui si traccia un percorso storico-formativo che unisce i due poeti svizzeri. Si tratta di due personaggi distinti accomunati dalla profondità delle parole messe insieme e in versi.

Fabio Pusterla è stato docente di Yari Bernasconi al Liceo Cantonale di Lugano e da allora le loro strade si sono incrociate, fino a poter oggi parlare di un’amicizia che non è soltanto legata all’impegno poetico. Il giovane poeta afferma di aver compreso soltanto negli ultimi anni di liceo quanto fosse importante la letteratura e di aver maturato in sé il pensiero che custodisce ancora gelosamente: «la letteratura può cambiare il mondo», perché portatrice di un linguaggio in grado di superare qualsiasi tipo di barriera. Che l’acceso entusiasmo di allora oggi si sia un po’ scolorito è del tutto naturale, come accade ad ognuno di noi diventando adulti e più maturi. Col trascorrere del tempo si cambia e cambia anche il modo in cui si comunica e la modalità con cui si vuole trasmettere un messaggio.

Nella crescita personale e professionale assume grande importanza l’immagine del «Maestro con la ‘m’ maiuscola», che per Pusterla è stato per primo Giovanni Orelli; figura importante nella letteratura di lingua italiana in Svizzera. Per Bernasconi il Maestro è colui che permette «l’incontro e lo scontro con il suo interlocutore». Non si parla, quindi, di modello di ispirazione quanto di un insegnamento che ha reso possibile quel cambiamento necessario per dare slancio alla produzione di testi.

Dalla loro lettura emergono diversi temi cari sia ad uno che all’altro poeta. La loro produzione in versi è accomunata dall’intenzione di voler rendere in maniera trasparente e realistica tutte quelle immagini e tutti quegli eventi tratti dalla vita quotidiana, dalla storia dell’umanità e, quindi, dall’esistenza nel mondo. Se per Pusterla la poesia nasce da un motivo di ispirazione preciso dovuto sostanzialmente a «l’incontro di due cose», per Bernasconi è fonte di ispirazione la realtà allo stato puro, in cui dei «microscopici momenti di scrittura» bastano per poter riflettere su versi abbozzati o per scriverne di nuovi. Da un lato la scrittura di Bernasconi si caratterizza per la sua natura spontanea, chiaramente meditata, ma concisa e immediata e allo stesso tempo in grado di farsi carico di significati profondi che potrebbero essere dettati dalla bocca di chiunque amasse riflettere sulla realtà. Dall’altro lato è del tutto disinvolta e profusa la scrittura di Pusterla, che spesso riesce a racchiudere in un testo due varianti distinte per ogni scontro di verità nella vita. Nelle sue poesie la riflessione si estende su due linee parallele che si intersecano soltanto in un punto: quello in cui le sensazioni contrastanti si scontrano letteralmente e condividono le une l’aspetto poco consono alla natura delle altre.

Dalla lettura di Bernasconi ci si sposta dal fatto di cronaca nera con Cartolina notturna, alla «vena identitaria» che caratterizza le poesie ambientate in diversi luoghi visitati, come in Connemara; dalla nostalgia di un paesaggio nella poesia Conosci il mare, ai «monologhi interiori» dettati dalla notte, il momento in cui tutto tace e i pensieri prendono forma, in Cartolina notturna n. 3 ed è facile immedesimarsi nei versi di una storia che potrebbe essere quella di tutti coloro i quali siano ancora in grado di guardare in faccia alla realtà senza indossare alcuna maschera:

Ora che […] | mi ricordi | chi sono (il tanto e il poco che sono), | non riesco ancora a dirti che farò | del mio meglio, ma che non basterà. | Ora che torni col braccio arrossato, | qualche graffio e due lacrime già secche, | cercando un segno sul mio viso,| non riesco a dirti: non succederà più.

Yari Bernasconi, poesia «Altre discese e risalite» dalla raccolta «La casa vuota» (2021)

Nel viaggio guidato da Pusterla si parte da La storia della lingua che rappresenta l’«incarnarsi della storia dentro le parole» per giungere a parole dialettali della valle del Moesa (regione Mesolcina) che sono il lascia passare di un paesaggio naturale spettacolare portatore di speranza, che a sua volta può essere motivo di minaccia, di pericolo per se stessi; sempre secondo il sistema binario associativo si passa dall’immagine del fiore di rosa facendo riferimento a momenti felici che inevitabilmente portano con sé momenti duri e di amarezza, per poi approdare a Sovrapposizioni a Berlino, in cui la bellezza e grandezza della capitale tedesca è accompagnata dall’«insensatezza» della mente umana attorno al Denkmal in memoria della Shoah. Si prosegue con il tema della colpa che l’uomo deve riconoscere dal passato storico caratterizzato da veri e propri volti di capri espiatori in una storia che ha avuto e avrà sempre un luogo e tempo definito nella memoria collettiva. Pusterla regala al pubblico la lettura di Sulcis: omaggio dedicato alla persona di Giovanni Orelli in occasione della scomparsa nel 2016; il poeta si alza in piedi per la lettura in onore al suo Maestro di vita ed è un momento in cui si stampa un sincero sorriso nel volto delle persone presenti, mentre al poeta luccicano gli occhi.

L’intensità raggiunta dai protagonisti lettori – e con ciò s’intendono non solo i poeti e autori dei testi, ma anche l’attore, Wolfram Schneider-Lastin, delle traduzioni dei testi in lingua tedesca – è premiata dal pubblico con un lungo applauso. Il piccolo pubblico, quasi esclusivamente di mezza età, è concorde ai temi trattati e ai rimandi storico-letterari che hanno accompagnato la serata. Eppure, i motivi delle poesie sono aperti anche al pubblico più giovane, proprio per il contatto che i versi permettono di instaurare tra un sentimento e l’altro di persona in persona, tra un paesaggio e l’altro di storia in storia.

Über Sprache, Quappen und Kinderbücher: Ein Nachmittag mit Elisa Shua Dusapin

Ich stehe vor dem Erkerzimmer im Karl und warte, dass ich zur Veranstaltung reingehen darf, da kommen Sandrine Charlot Zinsli und Ruth Gantert auch schon aus dem Raum und stellen sich als Moderatorin des Nachmittags und Übersetzerin vor. Die Autorin sei noch nicht da, sie komme direkt aus Paris und vielleicht sei der Zug verspätet. Kaum zwei Minuten später steht Elisa Shua Dusapin (das Shua spricht man Sua, wie sie uns erklärt) auch schon da. Der Raum füllt sich nur langsam und bleibt bis zum Schluss halbleer an diesem Sonntagnachmittag. Selbst schuld, wer sich so eine Autorin entgehen lässt – denn in Frankreich ist Dusapin bereits eine der ganz Grossen. Mit ihrem neuen Roman Le vieil incendie aktuell nominiert für den prix médecis, werden ihre Bücher mittlerweile in 38 Sprachen übersetzt. Sie reist den grössten Teil des Jahres, um ihre Bücher in verschiedensten Ländern vorzustellen, lebt aber eigentlich in Frankreich. Zum Schreiben komme sie nur, wenn sie sich die Zeit dazu bewusst nehme, sagt sie.

Kurz darauf bin ich froh um unsere kleine Gruppe. Die Atmosphäre im Raum ist ruhig und doch knisternd, vorgespannt. Denn sobald Elisa Shua Dusapin über Kinderbücher, und vor allem ihren Comic le Colibri spricht, dann leuchten ihre Augen – es ist ein Herzensprojekt, dass sie damit realisiert hat.

Ursprünglich wurde Duspain angefragt, um die Theateradaption zu schreiben – sie wollte aber nicht einfach eine Vorlage umsetzen, sondern etwas Eigenes schaffen. Neben dem Theater gibt es auch noch den Comic, ein Audiobuch und eine musikalische Umsetzung. Die Musik hat das Orchestre de la Suisse Romande komponiert. Musik und Theater waren schon vor der Literatur wichtige Teile in Dusapins Leben. Und auch die Kinderliteratur hat einen festen Platz in ihrem Schaffen – zwischen ihren Romanen schreibe sie immer ein Kinderbuch, das gebe ihr mehr Freiheit beim Schreiben.

In le Colibri geht es um einen Jungen, Céléstin, dessen älterer Bruder Himmelsforscher (explorateur du ciel) geworden ist. Céléstin lernt Lotte (das E muss man aussprechen, ansonsten ist es im Französischen ein schrecklicher Fisch, eine Quappe) kennen, die ihm einen Colibri gibt. Der Colibri, zu Beginn starr und unbeweglich, wird zur Metapher für Céléstins verstorbenen Bruder. So schreibt Dusapin am liebsten in florierenden Metaphern, sodass sie Leser:innen den Raum gibt, selbst zu interpretieren.

Die Sprache ist immer zentral in Dusapins Werken – sie selbst ist Tochter eines Franzosen und einer Südkoreanerin, wuchs unter anderem im Jura auf und studierte dann in Biel. Als Kind sei sie in der Familie oft diejenige gewesen, die übersetzt habe. So geht es in ihren Büchern immer darum, wie verschiedene Menschen miteinander kommunizieren, obwohl sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Passend dazu ist die Veranstaltung auf Französisch mit Übersetzung auf Deutsch, Moderatorin und Übersetzerin harmonieren miteinander – die eingeschobenen deutschen Passagen tun der Stimmung keinen Abbruch.

Dusapin wirkt sehr überlegt, manchmal nachdenklich, aber immer mit einem Funkeln in den Augen, mit einer Neugierde, neue Ideen zu finden und so lauscht das comité intime, wie Sandrine Zinsli unseren Kreis passend bezeichnet, die ganze Zeit gebannt auf Deutsch und auf Französisch den Geschichten von Elisa Shua Dusapin, denn die erzählt sie wunderbar.

«Das letzte Buch» – ein Gespräch über das Sterben

Ich schlage mich bei Karl*a durch das lebendige Gewühl im Erdgeschoss zum Barockzimmer hoch, in den schwarzen Stuhlreihen sind noch ein paar Plätze frei. Gleich fällt mir auf, dass die meisten im Publikum ebenfalls schwarz gekleidet sind – sehr passend, wie ich finde. Die Stimmung ist spürbar konzentriert, alle haben sich auf die schwierige Thematik des Abends eingestellt.

Im neonpinken Blazer tritt die Moderatorin des Abends, Anne Rüffer, gemeinsam mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff, ein. Das Gespräch wird eröffnet und der Blick auf das Werk und Thema des heutigen Abends, ebenfalls in pinkem Umschlag, gelenkt: «Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben».

Herausgegeben von Caduff und erschienen bei Rüffers Verlag wird bereits zu Beginn klar, wie viel persönliche Sorgfalt und Hingabe in diesem Projekt stecken. Das Buch stellt eine Sammlung von Auszügen aus neun Sterbebüchern, vorwiegend aus den 2010er Jahren, dar. Ist es auch dieser Zeitraum, welchem das Genre dieser autobiographischen Sterbeliteratur entstammt, so Caduffs These.

«Im Sterben sind wir alle Anfänger*innen.»

Corina Caduff

Sterben und der Tod sind gleichsam universale wie auch persönliche Erfahrungen, zeitlos und zeitspezifisch zugleich. Jede*r stirbt, abhängig von Kultur, Alter und Umfeld, anders. Fragen und Aspekte wie gesellschaftlicher Erwartungsdruck, Verfall des eigenen Körpers, Angst und Sprachlosigkeit, beschäftigen uns dennoch alle gleichermassen. Gerade durch den letzten Punkt wird sichtbar, dass eine solche Extremsituation eine neue Art von Sprache erfordert: Was soll man zu einem Zustand sagen, der nicht verbalisiert werden kann?

Auch das Publikum ist ruhig, alle Blicke sind nach vorne gerichtet und eine beinahe andächtige Atmosphäre hat sich ausgebreitet. Besonders bei den Stellen, an welchen vorgelesen wird, ist Empathie und Anerkennung zu spüren. Das pointierte Greifen einer unbegreifbaren Situation durch die Autor*innen, sei es via Humor oder Wut, berührt sehr. Es ist überraschend befreiend über das Sterben lesen und sprechen zu können.

Wem ist die Lektüre also zu empfehlen? Besonders den Palliativpflegekräften, meint Caduff, und natürlich auch Angehörigen und Betroffenen. Aber schlussendlich uns Allen: «Für mehr Empathie dem eigenen zukünftigen Ich gegenüber».

Was für ein Blick!

Völlig unkonventionell ist die Ausstellung von Anna Sommers neuem Buch mit dem Titel Tinte (2023), die im Verlag Edition Moderne stattfindet, in dem das Buch erschienen ist. Keine Stühle, kein Podium, keine selektive Warteschlange: Umgangssprachlicher und dialektaler Ansatz bei der Präsentation; Die Ausstellung steht allen offen, und solange man drinnen ist, kann man die Worte der Künstlerin hören, welche dieses besondere stille Buch geschrieben hat.

Die Gesprächspartnerin Anna Sommers ist Julia Marti, die ein Drittel der Leitung der Edition Moderne ausmacht. Sie bittet das Publikum gleich zu Beginn um ein paar Minuten Aufmerksamkeit, denn die Anwesenden stehen dicht gedrängt. Doch die Besonderheit dieser kurzen Ausstellung einer Graphic Novel liegt eher in der Spontaneität als in der Präzision und Langatmigkeit.

Die Verlagsleitung besteht aus sehr jungen Leuten; Julia Marti möchte dem Publikum ihre beiden anderen Mitarbeiterin vorstellen, die angesichts der kleinen und beengten Räumlichkeiten draussen geblieben, sind, und fragt spontan: «Wo sind sie? Vielleicht draussen beim Rauchen?» Die Reaktion des Publikums ist ebenso spontan, angesichts der Situation der Präsentation der Autorin und des Buches, laut lachend und fast amüsiert. Danach wird die Atmosphäre ernster und konzentrierter, als Fragen an der Autorin des Buches gestellt werden, welche sich durch das Weinen eines Kindes nicht stören lässt.

Für ihre Bildergeschichte liess sich Anna Sommer von der Daruma-Figur, einem japanischen Glücksbringer, inspirieren. Diese Figur hat keine Augen, das linke Auge wird zu dieser Figur gezogen, wenn ein Wunsch beginnt, erfüllt zu werden; das rechte Auge wird gezogen, wenn der Wunsch erfüllt ist.

Die Protagonistin der illustrierten Geschichte bemalt ihr linkes Auge, während der Schimpanse die restliche Tinte trinkt, die sie zum Bemalen des linken Auges benötigt. Hier beginnt die Jagd nach Tinte, welche die Frau bei mehreren Abenteuern begleitet. Auf der Suche nach Tinte wird sie schliesslich fündig und es gelingt ihr, das rechte Auge auf ihr Gesicht zu pinseln, aber es ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.

Die Besonderheit der Materialumsetzung dieses Buches ist der Arbeit der Autorin zu verdanken, welche für ihre Figuren weder Bleistift noch Pinsel, sondern ein Messer zum Ausschneiden ihrer lebhaften Szenen verwendet hat. Mit Hilfe von Japanpapier, das weich und für diese Art von Arbeit geeignet ist, schneidet die Autorin die Formen ihrer Figuren buchstäblich aus und setzt sie dann auf dem gewählten Hintergrund zusammen. Das besondere Material des Werkes hat die Wahl der Erzählung in gewisser Weise beeinflusst, so dass es viele Elemente gibt, die sich auf die Natur mit ihren runden, klaren Formen und schönen Landschaften beziehen.

Julia Marti betont, dass jedes konstruierte Bild ein Kunstwerk für sich ist und hinterfragt die Beziehung zwischen der Geschichte und den einzelnen Sequenzen. Dazu sagt Anna Sommer, dass sie dank dieser Arbeitsweise mehr Freiheiten gehabt hat: Ohne Worte kann alles variieren, ohne eine abgegrenzte Storyboard kann alles eine andere Form annehmen. Es war eine ständige Überraschung für sie, und irgendwann hatte sie den Dreh raus.

Der schönste Teil der Ausstellung war sicherlich der letzte Teil, in dem man über das Produkt eines solchen besonderen Werks nachdenkt: Man kauft das Buch, blättert es durch und schaut sich jedes Detail genau an, um so viele Informationen wie nötig zu erfassen, um die Botschaft des Textes zu verstehen. Auch wenn es sich um ein Bild handelt, ist es ein Text, das sollte man nicht vergessen: ein Buch ist eine Form von Text und die Einzigartigkeit der Graphic Novel liegt wahrscheinlich darin, dass man seinen Gedanken freien Lauf lassen und geschlossene Schemata vermeiden kann. Es verändert sich auch die Sichtweise, je nachdem, was man erlebt hat. Das gilt auch für die Protagonistin von Tinte: Am Ende ihres Abenteuers hat sie es geschafft, ihr rechtes Auge zu malen, ein bisschen hart, aber sie hat es geschafft. Was ist wichtig, wie oder was wird die Erfüllung erreicht? Jedem und jeder seine eigene Vorstellung.

Was bedeutet grenzenloses Schreiben?

Auf dem Podium stehen vier runde Tische, geschmückt für die Protagonisten des Abends, die heute im Rahmen des Schweizer Projekts «Weiterschreiben» hier sind. Die runde Form der Tische spielt auf die Form der Planeten im Weltall an. Hier auf dem Planeten Erde gibt es verschiedene Welten, die, anstatt friedlich miteinander zu kommunizieren, durch Lebensbedingungen, Politik und Kultur getrennt und unterschieden sind.

Dank dieses Projekts, das 2017 zum ersten Mal in Deutschland konzipiert und durchgeführt wurde, finden Autorinnen und Autoren aus Ländern, in denen ihre Worte zensiert und zum Schweigen gebracht wurden, den Raum, um ihre Arbeit, ihr Schreiben fortzusetzen und ihren Werken eine Stimme zu geben. In der Schweiz wird das Projekt seit 2021 durchgeführt und hat einen grossen Einfluss auf die zeitgenössische Literaturproduktion. Beispielhaft ist die Begegnung und die Geschichte von Azad Şîmmos Schreiben im Vergleich zum Schreiben von Gianna Olinda Cadonau. Aber mehr als ein echter Vergleich ist es ein Kontakt, eine kontinuierliche Kommunikation, wenn auch auf eine etwas andere Art und Weise, von Gedanken und Visionen über das Leben in der Welt zwischen den Versen der Gedichte, die in Şîmmos Fall wegen der Sensibilität, die der Wortwahl gewidmet ist, und der starken Emotionalität, die den Tönen innewohnt, mitten ins Herz treffen; Verse, die von Gianna, die existenzielle Fragen nach sich ziehen und die jeden von uns Menschen in Frage stellen und uns ein wenig verunsichert zurücklassen. Şîmmo liest Gedichte aus den Sammlungen Belki Sensin Özlediğim (2015) und Avaşîn (2022) in der türkischen Originalfassung; Cadonau liest Gedichte aus den rätoromanisch/Sammlungen Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht (2016), pajais in uondas / wiegendes Land (2020) und aus seinem Roman Feuerlilie (2023).

In der Einführungsrede zur Lesung und Diskussion der Texte wird einer der schönsten Sätze Ludwig Wittgensteins zitiert: «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt» – der perfekte Satz, welcher sofort das problematische Bild des Verbots und das Fehlen des Rechts auf freie Meinungsäusserung wiedergibt. An diesem Abend trafen die Worte von Şîmmo, der nach einer schmerzhaften Vergangenheit in der Türkei in der Schweiz willkommen geheissen wurde, auf die Worte von Cadonau. Die beiden arbeiten an einem Tandem, auf dem ihre Zusammenarbeit beruht. Die Persönlichkeit von Şîmmo spiegelt sich in den Versen seiner Gedichte wider und wird in seinen Worten voller gemischter Gefühle erneut bestätigt. Das Glück und die Freude, im Projekt Weiter Schreiben Schweiz eine neue Familie gefunden zu haben, werden von Şîmmo immer wieder wortwörtlich hervorgehoben, der zugibt, in der Schweiz eine Möglichkeit gefunden zu haben, ohne Grenzen an seinem Schreiben zu arbeiten. Nicht einmal die Vielfalt der Sprachen, die bei den Kreativitäts- und Schreibtreffen aufeinandertreffen. Der Austausch zwischen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Nationen und Kulturen führt zu einem Werk, das nichts weniger ist als die richtige Mischung aus Sichtweisen und Charakteren, die in Prosatexten und Versen umgesetzt werden.

Für Cadonau bedeutet die Arbeit mit Weiter Schreiben Schweiz, dass wir über das nachdenken, was tief in uns steckt, und es nutzbar machen. Schreiben heisst also, sich zu fragen, was man aus dem, was man in sich trägt, mit seinem Innenleben machen kann. Für sie ist WSS ein «konkreter und kostbarer Ort», an dem Worte Gewicht haben und dieses Gewicht eine Spur hinterlässt. Was bleibt, ist sicherlich der Moment der Reflexion, der die Anwesenden am Ende eines jeden Textes beschäftigt. In seinen Gedichten ist Şîmmo er selbst, frei und voller weiblicher Figuren, voller Nostalgie, voller Traurigkeit über diejenigen, die nicht die gleichen Schritte wie er machen konnten, weil sie zurückgeblieben sind. Die Aufgabe seiner Poesie ist es, sich an diejenigen zu erinnern, die in seiner Heimat geblieben sind, und auf die Distanz zu reagieren, die die schweizerische Realität ausfüllt, indem sie ihm eine «Literatur-Mutter» schenkt, womit er von seiner ersten Leitfigur in Weiter Schreiben Schweiz spricht.

Erst später lernt Şîmmo Cadonau in der Projektgruppe kennen, und die Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt hat, geht weit über das hinaus, was man vermuten würde. Die beiden unterscheiden sich in ihren Schreibmethoden. Einerseits gelingt es Simmo, seine Gedanken in seinen langen Gedichten zu entladen, oft in anaphorischen Wendungen, die auch dem ins Deutsche übersetzten Text Musikalität verleihen. Das gleichzeitige Werk aus Lyrik und Roman umfasst auch Übersetzungen seiner türkischen Gedichtbände, die derzeit in Bearbeitung sind. An diesem Abend war es möglich, mehrere türkische Gedichte in deutscher Übersetzung zu hören, bevor sie offiziell veröffentlicht werden. Der Überraschungseffekt im Publikum war an den leuchtenden Augen und ernsten Gesichtern abzulesen. Ja, denn Şîmmo Gedichte lassen Szenen von Gewalt und Ungerechtigkeit lebendig werden, ohne sie wirklich zu beschreiben, sondern lediglich die Gefühle und Reflexionen zu beschreiben, die sie in den von ihm ausgewählten Personen hervorrufen.

Wenn Cadonau über die Reflexion nachdenkt, die den Ausgangspunkt seiner Arbeit bei Weiter Schrieben Schweiz bildet, spricht sie von einem «sich erfinden»: ein Fremder im Land des Wachstums zu sein, wie im Land der Herkunft und das Schreiben ist eine weitere Art, sich fremd zu fühlen, weil es bedeutet, zu arbeiten, zu entwerfen, ohne zu wissen, wo man ankommt und wo man für längere oder kürzere Zeit bleiben wird.

Materialismus, widerständiger Feminismus und historischer Evolutionismus stehen im Mittelpunkt von Şîmmos Poetik, in der der Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Angst und Schmerz geprägt ist. Şîmmo dankt seinem Mitarbeiter Cadonau mehrfach. Diese wiederum bedankt sich bei Simmo: Man braucht zwar Zeit, um sie sich zu verstehen, um vor allem die Texte von Şîmmo und ihre Botschaft zu verstehen und auch wenn die Kommunikation langsam erscheint, bei ihrer Arbeit sieht Cadonau keine gesetzten Grenzen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Literatur sowohl über sprachliche als auch über politisch-gesellschaftliche Grenzen hinausgeht.

Die Lesung endet mit einigen Vorschauen auf die Produktion von Cadonau und Şîmmo. Gianna Olinda Cadonau wartet auf den nächsten Sommer, um sich dem Schreiben neuer Gedichte zu widmen, während Azad Şîmmo derzeit an ihrem neuen Roman arbeitet. Das Publikum, bestehend aus Leuten unterschiedlichen Alters und einer grösseren Anzahl junger Leute, applaudiert lange als Zeichen des Dankes für das Wunderbare der Gegenwartsliteratur.

Viele Wege führen zur Autorschaft

Ein gemütlicher Infoabend über (Selbst-) Publikation

Wie komme ich von den literarischen Ergüssen in meiner Schreibtischschublade zur Publikation? Hobbyautorinnen, Verlags-Quereinsteiger, Sachbuchübersetzerinnen und Schreibfanatiker haben sich in dem kleinen Buchgeschäft am Predigerplatz eingefunden, um den Mittwochabend mit dieser Frage zu verbringen.

Hinter den grossen Schaufenstern der Geschichtenbäckerei summt leise die Gasheizung. In einer Runde aus knapp zehn Leuten wechselt Gabriela Kasperski zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch, um ihrem Publikum das Veröffentlichen eigener literarischer Werke nahezubringen.

Sie selbst hat Germanistik studiert und schreibt seit einigen Jahren Krimis, die in Zürich und der Bretagne spielen. Doch so weit nicht alles, denn der Weg dahin sei nicht ohne Umwege gewesen. Auch Autorin von Dramen und Synchronfassungen war sie schon und absolvierte eine Drehbuchausbildung. Mit dem Publizieren ihrer Bücher hat sie erst mit vierzig begonnen. Kasperski erzählt von einem steinigen Weg über Verlagsabsagen, Fusionen, ausstehende Lektorate und ständige Neuorientierung. Sie weiss: «Es gibt nicht nur den frühen, jungen, direkten Weg zur Autorschaft. Bei Weitem nicht.»

Ihr Tipp: Die Selbstveröffentlichung soll einem die erste Tür zur Etablierung als Schriftsteller*in öffnen, aber nicht ohne professionelles Lektorat und Coverdesign. Aus ihrem Publikum melden sich darauf auch skeptische Stimmen und fragen nach Aufwand und Selbstkosten. Gabriela Kasperski hält unverblümt fest: Es ist eine Wissenschaft für sich und mit viel Aufwand kann man es auf dem Buchmarkt auch zu was bringen. Aber vor allem ist es eins: «ein knallhartes Business.»

Zwischen Erzählung und unterhaltsamem Irrsinn: Hannes Bajohrs «(Berlin, Miami)»

Hannes Bajohrs (Berlin, Miami) ist experimentell. In seinem Inhalt, aber vor allem in seiner Machart. Der Text entstand nämlich mithilfe eines Sprachmodells. Bajohr hat ein auf die deutsche Sprache trainiertes Sprachmodell mit vier zeitgenössischen Romanen, die sich mit der digitalen Gesellschaft befassen, gefüttert und ‹finegetuned›. Dann hat er Satz für Satz, Absatz für Absatz ein kleines «Etwas» vorgegeben – manchmal ein Wort, manchmal aber auch nur ein Satzzeichen –, was das Sprachmodell dann vervollständigt hat.

Er habe versucht möglichst wenig einzugreifen, sagt Bajohr, manchmal habe er etwas gelöscht, wenn die Richtung, die das Sprachmodell einschlug, gar nicht gepasst habe, oder er habe ein spezifisches Wort eingegeben, wenn er darüber mehr wissen wollte. Was dabei rauskommt, funktioniert auf den ersten Blick als Erzählung – auf den zweiten dann irgendwie doch nicht so richtig.

Die Welt ist in den letzten Tagen viel verändert worden; es gibt keine Regeln mehr für die Menschen auf der Straße. Der Lautsprecher spuckte das gesamte Wort aus: «Verfluchtes Zeug!» – weil er sich überall Unannehmlichkeiten zuzog: von der Frau mit dem Rucksack bis zum Mann, der seinen Körper anprobierte, um ihn abwertend bei uns im Haus hinterlegen zu lassen.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 22.

Bajohr selbst befindet die Erzählung für gescheitert. Es ginge ihm aber auch viel mehr darum, aus dem Text mehr über die Technik zu lernen, die dahinter steckt, als eine gelungene Erzählung zu kreieren. Darüber, was ein Sprachmodell aus den erhaltenen Daten zustande bringt, wie dies sprachlich umgesetzt wird und wo die Grenzen dieser Technik liegen.

Unterhaltend ist der Text auf jeden Fall. Das Publikum amüsiert sich köstlich, als Bajohr Ausschnitte aus dem Text vorliest. Die Inkongruenzen und Unvorhersehbarkeit des Textes erzeugen Komik.  

Jedenfalls, sie [die Mutter] machte sich über meinen Vater lustig und meinte, er trage immer genau dieselbe Sonnenbrille, die er bei meiner Entstehung getragen hatte, weshalb er die Gesichter seiner Kinder immer mit dieser Sonnenbrille betrachtete, also alle ohnehin braunhaarig erschienen nur ich hatte blondes Haar, aber das lag nicht an meinem Vater, das lag an mir.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 89.

Ein solcher Roman wie (Berlin, Miami) einer ist, wirft Fragen auf. Auf rechtlicher, aber auch auf moralischer und ethischer Ebene. Nur schon die Autorschaft ist nicht einfach zu identifizieren. Auf dem Buch steht nur Bajohrs Name. Er sei strikt dagegen, das Sprachmodell namentlich als Mitautor zu nennen, da dies der Maschine eine Subjektivität und Verantwortung zuspricht, der sie systembedingt nicht nachkommen kann.

Eine andere Möglichkeit wäre es alle zu nennen, die auf direkte und indirekte Art an der Entstehung des Textes beteiligt gewesen sind; über Autor:innen der eingespeisten Romane bis hin zu Entwickler:innen des Sprachmodels. Das seien aber viel zu viele, meint Bajohr, entsprechend stehe der Einfachheit wegen nur sein Name, stellvertretend für alle Beteiligten. (Fragt sich aber doch, warum Bajohrs Name dann so gross und ohne jeglichen Hinweis auf das Kollektiv dahinter auf dem Cover abgedruckt sein muss, während der Titel kaum halb so gross darunter sein Plätzchen finden muss…)

Ein Beispiel für ein Buch, das unter menschlicher Lenkung aber doch mehrheitlich von einer Maschine generiert wurde, haben wir mit (Berlin, Miami) vor uns. Mit der Frage, wie wir mit einem solchen Text umgehen – als Lesende, als Rezensierende und schlichtweg als Gesellschaft –, werden wir uns noch intensiv auseinandersetzen müssen.

I see Vulvas everywhere

Unter diesem klingenden Titel führt die deutsche Comedienne Lisa Frischemeier in ihrem Buch die Leser:innen durch eine Welt voller weiblicher Geschlechtsteile.

«Komplett ausverkauft» sei die Veranstaltung mit Lisa Frischemeier, so steht es auf der Website von Zürich liest. Das Interesse scheint gross, und der Saal im Karl der Grosse ist – wie zu erwarten – voll an diesem Donnerstagabend um 20 Uhr 30. Die Stimmung ist von Beginn an munter, dafür sorgen die zwei Frauen auf dem Podium, Autorin Lisa Frischemeier und Moderatorin Gülsha Adilji. Die zwei kennen sich schon länger, was gleich einen vertrauten Rahmen schafft – nicht ganz unwichtig bei dem einigermassen intimen Thema.

I see Vulvas everywhere, so lautet der Titel von Frischemeiers jüngst publizierten Buch. Und der Name ist Programm: Die Comedienne zeigt Fotos, auf denen das weibliche Geschlechtsteil, oder zumindest dessen Form, zu sehen ist, entdeckt von ihr oder anderen Menschen im Alltag. Sei es ein ellipsenförmiger, bröckelnder Verputz einer Häuserwand, ein kunstvoll gestalteter Brunnen in Landau, oder eine halbfertige Empanada.

Die Dinge beim Namen nennen
Inspiriert für diese Publikation haben Frischemeier die feministischen Comics von Liv Strömquist und ein Buch namens I see Faces, in welchem an ungewöhnlichen Orten Gesichter entdeckt werden. Das müsste man doch zusammenbringen können, dachte sich die Comedienne. Mehr aus Spass erwähnte sie die Idee für ein Vulva-Buch gegenüber einer Freundin, die bei einem Verlag arbeitet – und diese war sogleich dabei. Die Reaktionen in ihrem Umfeld fielen unterschiedlich aus: «Frauen haben sofort die Relevanz des Themas verstanden», erzählt Frischemeier. Männer seien oft weniger begeistert gewesen, und meinten, damit nichts zu tun zu haben. Ein Raunen geht durch den Saal.

«Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei und vernünftig über die Geschlechtsteile unterhalten.»

Lisa Frischemeier

Die Autorin konstatiert: «Auch wenn ich es als leichte Unterhaltung verkaufe, geht es um Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung.» Eine Sprache für das weibliche «Untenrum» zu finden und Begriffe zu normalisieren, ist ein wichtiger Bestandteil ihres Projekts. So verwendet Frischemeier auch konsequent den Begriff «Vulvalippen» statt «Schamlippen»: «Wir sollten die Dinge schamfrei und korrekt benennen.» Weshalb ist Sprache so wichtig, wenn es um die Geschlechtsteile geht? «Um zu formulieren, was man will oder nicht will. Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei, vernünftig darüber unterhalten.» Auch, dass man beim Arztbesuch zwischen Vulva und Vagina unterscheiden könne, sei essenziell.

Hass auf Social Media
Nebst den farbenfrohen Fotos gibt uns Frischemeier in einem begleitenden Essay Einblick in eine Kulturgeschichte der Klitoris und der Vulva, schildert, wie sie jahrhundertelang versteckt, die weibliche Lust verleumdet wurde. Und sie räumt mit dem Mythos des vaginalen Orgasmus auf. Bezeichnend ist auch, wie viel Hass ihr für dieses Buch entgegenschlug. Der SWR musste auf Social Media die Kommentarfunktion unter einem Beitrag zu Frischemeiers Buch sperren – zu viele Hasskommentare waren gepostet worden. Doch die Autorin lässt sich davon nicht einschüchtern. Sie packt einzelne Kommentare plus Namen der Verfasser auf ihre Powerpoint-Präsentation, stellt sie aus, macht sie sich zu eigen.

Unterfüttert ist das Buch, wie auch die Veranstaltung, mit Humor und einer guten Portion Selbstironie, beispielsweise wenn die Autorin von ihrem Besuch einer Naked Tea Party (die genau das ist, wonach es klingt) erzählt. Lisa Frischemeier schafft es, sich auf ungezwungene und spielerische Weise den weiblichen Genitalien zu nähern. Dabei hilft nicht zuletzt die glitzernde Vulva-Box, in welche die Zuhörer:innen zum Ende des Podiums Zettel mit Fragen werfen können.