Was für ein Blick!

Völlig unkonventionell ist die Ausstellung von Anna Sommers neuem Buch mit dem Titel Tinte (2023), die im Verlag Edition Moderne stattfindet, in dem das Buch erschienen ist. Keine Stühle, kein Podium, keine selektive Warteschlange: Umgangssprachlicher und dialektaler Ansatz bei der Präsentation; Die Ausstellung steht allen offen, und solange man drinnen ist, kann man die Worte der Künstlerin hören, welche dieses besondere stille Buch geschrieben hat.

Die Gesprächspartnerin Anna Sommers ist Julia Marti, die ein Drittel der Leitung der Edition Moderne ausmacht. Sie bittet das Publikum gleich zu Beginn um ein paar Minuten Aufmerksamkeit, denn die Anwesenden stehen dicht gedrängt. Doch die Besonderheit dieser kurzen Ausstellung einer Graphic Novel liegt eher in der Spontaneität als in der Präzision und Langatmigkeit.

Die Verlagsleitung besteht aus sehr jungen Leuten; Julia Marti möchte dem Publikum ihre beiden anderen Mitarbeiterin vorstellen, die angesichts der kleinen und beengten Räumlichkeiten draussen geblieben, sind, und fragt spontan: «Wo sind sie? Vielleicht draussen beim Rauchen?» Die Reaktion des Publikums ist ebenso spontan, angesichts der Situation der Präsentation der Autorin und des Buches, laut lachend und fast amüsiert. Danach wird die Atmosphäre ernster und konzentrierter, als Fragen an der Autorin des Buches gestellt werden, welche sich durch das Weinen eines Kindes nicht stören lässt.

Für ihre Bildergeschichte liess sich Anna Sommer von der Daruma-Figur, einem japanischen Glücksbringer, inspirieren. Diese Figur hat keine Augen, das linke Auge wird zu dieser Figur gezogen, wenn ein Wunsch beginnt, erfüllt zu werden; das rechte Auge wird gezogen, wenn der Wunsch erfüllt ist.

Die Protagonistin der illustrierten Geschichte bemalt ihr linkes Auge, während der Schimpanse die restliche Tinte trinkt, die sie zum Bemalen des linken Auges benötigt. Hier beginnt die Jagd nach Tinte, welche die Frau bei mehreren Abenteuern begleitet. Auf der Suche nach Tinte wird sie schliesslich fündig und es gelingt ihr, das rechte Auge auf ihr Gesicht zu pinseln, aber es ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.

Die Besonderheit der Materialumsetzung dieses Buches ist der Arbeit der Autorin zu verdanken, welche für ihre Figuren weder Bleistift noch Pinsel, sondern ein Messer zum Ausschneiden ihrer lebhaften Szenen verwendet hat. Mit Hilfe von Japanpapier, das weich und für diese Art von Arbeit geeignet ist, schneidet die Autorin die Formen ihrer Figuren buchstäblich aus und setzt sie dann auf dem gewählten Hintergrund zusammen. Das besondere Material des Werkes hat die Wahl der Erzählung in gewisser Weise beeinflusst, so dass es viele Elemente gibt, die sich auf die Natur mit ihren runden, klaren Formen und schönen Landschaften beziehen.

Julia Marti betont, dass jedes konstruierte Bild ein Kunstwerk für sich ist und hinterfragt die Beziehung zwischen der Geschichte und den einzelnen Sequenzen. Dazu sagt Anna Sommer, dass sie dank dieser Arbeitsweise mehr Freiheiten gehabt hat: Ohne Worte kann alles variieren, ohne eine abgegrenzte Storyboard kann alles eine andere Form annehmen. Es war eine ständige Überraschung für sie, und irgendwann hatte sie den Dreh raus.

Der schönste Teil der Ausstellung war sicherlich der letzte Teil, in dem man über das Produkt eines solchen besonderen Werks nachdenkt: Man kauft das Buch, blättert es durch und schaut sich jedes Detail genau an, um so viele Informationen wie nötig zu erfassen, um die Botschaft des Textes zu verstehen. Auch wenn es sich um ein Bild handelt, ist es ein Text, das sollte man nicht vergessen: ein Buch ist eine Form von Text und die Einzigartigkeit der Graphic Novel liegt wahrscheinlich darin, dass man seinen Gedanken freien Lauf lassen und geschlossene Schemata vermeiden kann. Es verändert sich auch die Sichtweise, je nachdem, was man erlebt hat. Das gilt auch für die Protagonistin von Tinte: Am Ende ihres Abenteuers hat sie es geschafft, ihr rechtes Auge zu malen, ein bisschen hart, aber sie hat es geschafft. Was ist wichtig, wie oder was wird die Erfüllung erreicht? Jedem und jeder seine eigene Vorstellung.