Ein Mord im Tram: Saskia Gauthier liest im Krimitram

Das Tram rumpelt und rauscht vertraut, während vor dem Fenster ein herbstliches Zürich vorbeizieht. Fast so, als würde man zur Arbeit fahren. Doch im Ohr hat man die Stimme einer Frau, die von einem Mord im Glarnerland erzählt. Saskia Gauthier stellt im Krimitram ihren neuen Roman «Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli» vor. Um dies zu erleben stehen die Leute bereits vor dem Tram Schlange. Beim Betreten geht man an der Autorin vorbei, kann kurz grüssen und setzt sich danach auf die gewohnten holzigen Plätze.

Die Fachärztin für Rechtsmedizin liest drei Passagen aus ihrem neuen Roman vor und erzählt dazu Anekdoten aus ihrem Leben. Gaunthier ist nicht nur Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin in Aargau. Sie arbeitet zusammen mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft an Todesfällen und lässt ihre Expertise seit zwei Jahren in Bücher fliessen.

Der zweite Fall ihrer Ermittlerin Lisa Klee spielt in den Glarner Alpen. Ein Junge wird tot in einem Bergsee gefunden, das Dorf wird durch einen Bergrutsch von der Aussenwelt abgeschnitten. Lisa ist wie ihre Erschafferin Rechtsmedizinerin und widmet sich den Ermittlungen im kleinen Glarner Dorf. Fröhlich liest Gauthier von der Auswahl der Messer für die Obduktion und einer runzligen Milz, während das Tram vom Central den Berg hoch fährt. Als dann das Kunsthaus erreicht wird, wird erörtert, wie der Junge ermordet wurde. Gauthier hofft, dass niemandem schlecht werde bei diesen Ausführungen, für sie sei dies eben Alltag.

Nach dem zweiten Leseteil werden Fragen gestellt. Es ist so laut, dass sie jedoch im hinteren Teil des Trams kaum zu hören sind. Darf man im Krimi Kinder sterben lassen? Der Verlag habe genauso viel Mühe gehabt mit dem toten Kind im Buch wie sie, entgegnet Gauthier. Sie persönlich könne sich gut abgrenzen von den Fällen, die sie untersucht, doch Kinder seien immer schwierig. Ihr sei es ausserdem wichtig zu sagen, dass die Fälle aus ihren Büchern keine realen Todesfälle darstellen, aber aus rechtsmedizinischer Sicht korrekt dargestellt seien. So legt das Buch auch sehr viel Wert darauf, diesen Aspekt herauszustreichen.

Im Seefeld liest Gauthier eine dritte Passage des Buches und eine zweite Leiche wird gefunden. Die Ermittlungen von Lisa Klee gehen weiter, doch der*die Täter*in wird während der Fahrt natürlich noch nicht gefunden.

Die Fragen der Gäste sind etwas spärlich, was vermutlich auch durch die Tram-Situation gegeben ist. Eine Moderation fehlt aber dennoch nicht. Gauthier erzählt viel. Auch davon, dass ihre Romane bereits bei der Entstehung einen roten Faden haben und das Ende bereits zu Beginn feststeht. Als das Tram sich langsam wieder dem Bellevue nähert, spoilert Gauthier ihren dritten Band: die Rechtsmedizinerin Lisa zieht in den Aargau und löst dort einen neuen Fall.

Über Sprache, Quappen und Kinderbücher: Ein Nachmittag mit Elisa Shua Dusapin

Ich stehe vor dem Erkerzimmer im Karl und warte, dass ich zur Veranstaltung reingehen darf, da kommen Sandrine Charlot Zinsli und Ruth Gantert auch schon aus dem Raum und stellen sich als Moderatorin des Nachmittags und Übersetzerin vor. Die Autorin sei noch nicht da, sie komme direkt aus Paris und vielleicht sei der Zug verspätet. Kaum zwei Minuten später steht Elisa Shua Dusapin (das Shua spricht man Sua, wie sie uns erklärt) auch schon da. Der Raum füllt sich nur langsam und bleibt bis zum Schluss halbleer an diesem Sonntagnachmittag. Selbst schuld, wer sich so eine Autorin entgehen lässt – denn in Frankreich ist Dusapin bereits eine der ganz Grossen. Mit ihrem neuen Roman Le vieil incendie aktuell nominiert für den prix médecis, werden ihre Bücher mittlerweile in 38 Sprachen übersetzt. Sie reist den grössten Teil des Jahres, um ihre Bücher in verschiedensten Ländern vorzustellen, lebt aber eigentlich in Frankreich. Zum Schreiben komme sie nur, wenn sie sich die Zeit dazu bewusst nehme, sagt sie.

Kurz darauf bin ich froh um unsere kleine Gruppe. Die Atmosphäre im Raum ist ruhig und doch knisternd, vorgespannt. Denn sobald Elisa Shua Dusapin über Kinderbücher, und vor allem ihren Comic le Colibri spricht, dann leuchten ihre Augen – es ist ein Herzensprojekt, dass sie damit realisiert hat.

Ursprünglich wurde Duspain angefragt, um die Theateradaption zu schreiben – sie wollte aber nicht einfach eine Vorlage umsetzen, sondern etwas Eigenes schaffen. Neben dem Theater gibt es auch noch den Comic, ein Audiobuch und eine musikalische Umsetzung. Die Musik hat das Orchestre de la Suisse Romande komponiert. Musik und Theater waren schon vor der Literatur wichtige Teile in Dusapins Leben. Und auch die Kinderliteratur hat einen festen Platz in ihrem Schaffen – zwischen ihren Romanen schreibe sie immer ein Kinderbuch, das gebe ihr mehr Freiheit beim Schreiben.

In le Colibri geht es um einen Jungen, Céléstin, dessen älterer Bruder Himmelsforscher (explorateur du ciel) geworden ist. Céléstin lernt Lotte (das E muss man aussprechen, ansonsten ist es im Französischen ein schrecklicher Fisch, eine Quappe) kennen, die ihm einen Colibri gibt. Der Colibri, zu Beginn starr und unbeweglich, wird zur Metapher für Céléstins verstorbenen Bruder. So schreibt Dusapin am liebsten in florierenden Metaphern, sodass sie Leser:innen den Raum gibt, selbst zu interpretieren.

Die Sprache ist immer zentral in Dusapins Werken – sie selbst ist Tochter eines Franzosen und einer Südkoreanerin, wuchs unter anderem im Jura auf und studierte dann in Biel. Als Kind sei sie in der Familie oft diejenige gewesen, die übersetzt habe. So geht es in ihren Büchern immer darum, wie verschiedene Menschen miteinander kommunizieren, obwohl sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Passend dazu ist die Veranstaltung auf Französisch mit Übersetzung auf Deutsch, Moderatorin und Übersetzerin harmonieren miteinander – die eingeschobenen deutschen Passagen tun der Stimmung keinen Abbruch.

Dusapin wirkt sehr überlegt, manchmal nachdenklich, aber immer mit einem Funkeln in den Augen, mit einer Neugierde, neue Ideen zu finden und so lauscht das comité intime, wie Sandrine Zinsli unseren Kreis passend bezeichnet, die ganze Zeit gebannt auf Deutsch und auf Französisch den Geschichten von Elisa Shua Dusapin, denn die erzählt sie wunderbar.

Sofalesung: Olga Lakritz – «Das Ampfermädchen»

Totgeburten, Maden, Eis und Schweigen.

Es ist Sonntag.

Gelesen werden drei Passagen aus der ersten Hälfte des Textes, die Lesungen durch zwei Gespräche mit der Moderatorin zur Makrostruktur des Abends segmentiert. Geendet wird mit dem Anfang, begonnen später.

Jaaa… Es ist eine Interpretationsfrage, glaube ich, ob es eine Geschichte ergibt.

Olga Lakritz auf eine Frage der Moderatorin Aleks Sekanić

Die ausgewählten Textstellen vermitteln Themen, Bilder und das strukturelle Prinzip des Gesamttextes, konkret: Einsamkeit als Gemeinsamkeit in der (Familien-)Gemeinschaft, Sprachlosig-/ und Unverständlichkeit, das Streicheln totgeborener Kühe und der vergebliche Versuch einer Lebensgeschichte in fortwährenden Kreisbewegungen, die vom Anfang weiter immer zum Anfang schreitet.

Wenn man fünfmal sagt: „Ich bin traurig“, dann bedeutet es irgendwie nichts mehr.

Olga Lakritz

Die dominierenden Bilder von toten Tieren, Blut und geschundenen Körpern kommen in einem der Gesprächssegmente zum Tragen, im Verlaufe dessen die verbildlichte Körperlichkeit als Möglichkeit des Ausdrucks von Emotion gegenüber dem blossen verblassenden Benennen eines Empfindungszustandes herausgehoben wird.

Davon abgeleitet wird auch ein weiterer Aspekt deutlich: Die sprachliche Akzentuierung eines stark figural-tropisch geprägten Stils lässt die Frage nach dem Poetischen in diesem weniger prosaischen Roman aufkommen.

An Genrekonventionen denke ich jetzt nicht per se.

Olga Lakritz

Wo nun die Prosa und die Geschichte stecken, kann aber auch gleich sein, wenn sich aus der Suche nach einer Lebensnarration eine unablässige Rückkehrbewegung und damit einhergehende Durchwirkung verschiedener Zeitebenen durch Totes und Mögliches ergeben, die eine Abfolge von Szenen ermöglichen, welche für den Rahmen einer Lesung in gebannter Stille geradezu geschaffen scheinen.