Survivante – Lesung mit Julie Guinand und Aurelia Zanetti

Lavaterhaus, kurz vor 18.30 Uhr an einem Freitagabend. Die Sonne geht unter, während ich mich auf den Weltuntergang in «Die Überlebende» vorbereite. Als ich den Lesesaal betrete, empfängt mich eine gelassene und herzliche Atmosphäre: Menschen unterhalten sich miteinander und lachen. Die Stühle füllen sich nach und nach, bis alle Plätze besetzt sind. Alle blicken gespannt nach vorne, als Michael Frick, der Verleger und Moderator des Abends, das Wort ergreift. Mit Stolz stellt er Aurelia Zanetti, die Übersetzerin des Buches, und Julie Guinand, die Autorin von «Survivante», vor.

Die Zuschauer erfahren, dass die Lesung abwechselnd auf Deutsch und Französisch gehalten wird, wobei die Übersetzung der Passagen eingeblendet wird. Ich höre ein erleichtertes Aufatmen einiger Zuschauer und schätze die sorgfältige Organisation, um die sprachliche Hürde zu überwinden. Julie Guinand tritt vor das Mikrofon und liest den ersten Abschnitt ihres Werkes, das in Form eines Tagebuchs verfasst ist. Alle Augen sind auf sie gerichtet, und wir lauschen gebannt, wie sie von einem Stromausfall und dem daraus resultierenden apokalyptischen Szenario in ihrem Buch erzählt. Ich überprüfe, ob das elektrische Licht im Lavaterhaus noch brennt – es brennt noch.

Aurelia Zanetti setzt die Lesung mit der deutschen Übersetzung fort. Dieses Wechselspiel zwischen den Sprachen gibt uns abwechselnd Einblick in das Buch, und ich denke, was für ein harmonisches Duo die beiden bilden. Michael Frick unterbricht diese Wechsel an den richtigen Stellen und ermöglicht so ein Gespräch mit der Autorin, das anschliessend von der Übersetzerin ins Deutsche übertragen wird. Dabei erfahren wir nicht nur zentrale Aspekte des Buches, sondern auch die Kontexte, in denen Julie Guinand dieses Werk entstehen liess. Gelegentlich brach leichtes Gelächter aus, ausgelöst durch den Humor der Autorin.

Die Lesung setzte sich fort und wurde zwischendurch musikalisch von «Débranche!» von France Gall begleitet, das im Buch vorkommt und nun im Lavaterhaus ertönte, oder waren wir vielleicht gerade in die Welt des Buches transportiert worden?

Es folgten weitere Abschnitte, Gespräche und eine lebhafte Diskussion mit dem begeisterten Publikum, das interessierte Fragen stellte, die Julie Guinand bereitwillig beantwortete. Die Lesung endete pünktlich und wurde mit tosendem Applaus belohnt, meiner Meinung nach völlig verdient. Mein Fazit des Abends: abwechslungsreich, grenzüberschreitend und schlichtweg beeindruckend.

Wenn Pelzmäntel Geschichten erzählen

Nur zwölf Lesungen macht Uwe Timm jeweils mit einem neuen Buch. So ist es nicht ganz einfach, den Autor der Entdeckung der Currywurst für eine Lesung zu gewinnen, beginnt Festivalleiter Martin Walker seine Ansprache. Mit dem Roman Alle meine Geister hat es jetzt endlich geklappt: Monika Schärer moderiert heute Abend im Karl der Grosse das Gespräch mit dem gebürtigen Hamburger, der in Deutschland zu den meistgelesenen Autoren zählt.

Alle meine Geister erzählt von Uwe Timms Kürschnerlehre in den Fünfzigerjahren, von neuen Freundschaften, Geschichten der Mitarbeitenden und Büchern, die er heimlich bei der Arbeit liest. Er erkundet neue Ecken Hamburgs, entdeckt Jazz und politisiert sich zunehmend.

Eigentlich war ein anderes Buch geplant, Recherchereisen und Gespräche wären dazu notwendig gewesen. Doch dann kam der Lockdown. Ein neues Projekt musste her, das keine Nachforschungen erforderte. Das einzig verfügbare Material: Timms Erinnerungen. Mit Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde hat der Autor bereits zwei Abschnitte seines eigenen Lebens literarisch verarbeitet. Als er sich neu orientieren musste, wurde ihm bewusst, dass mit der Kürschnerlehre noch ein Stück fehlte.

Timm erzählt vom Prozess des Erinnerns während des Schreibens. Er hat viel mehr geträumt, wurde überrascht von ihm selbst unbekannten Erinnerungen. Die Arbeit am Buch wurde zur «Entdeckungsreise». Im Text scheint dann immer wieder eine Unsicherheit durch, etwa wenn der Erzähler nicht mehr weiss, ob die Krawatte grün oder blau gewesen ist. Diese Ungewissheit begleitet den ganzen Text, so Timm, und reflektiert den Vorgang des Erinnerns. 

An die Tätigkeit als Kürschner erinnert er sich aber noch ganz genau. Das liegt am Haptischen des Handwerks, die sinnliche Erfahrung bleibt. Die Mäntel erzählten Timm von deren Besitzer:innen, ebenso wie die Arbeit auch immer wieder die Möglichkeit bot, Geschichten auszutauschen. Und der ästhetische Anspruch der Kürschnerei verbindet Handwerk mit Schreiben: Kreativität und Präzision, das exakte, genaue Arbeiten, das auch beim Schreiben gefordert ist.

Timm betont aber auch: Das Pelzgeschäft ist nicht das zentrale Thema des Buchs. Glaubt man dem Klappentext, scheint vielmehr die Entwicklung zum angehenden Schriftsteller im Vordergrund zu stehen. Heute Abend dreht sich allerdings alles um Pelzmäntel. Schärer verpasst den Hinweis Timms und der Abend bleibt thematisch ziemlich einseitig. Ich weiss jetzt zwar sehr viel mehr über Pelze, laufe aber mit denselben Fragen raus, mit denen ich reingekommen bin.

Say no to: Kätzchen, Schmetterling und Schneck! Vulva is the word we’re looking for!

20.25 Uhr – Fünf Minuten vor Beginn komme ich im Karl der Grosse an. Nach dem obligaten Toilettengang vor einer Lesung beeile ich mich, um es noch rechtzeitig in den Saal zu schaffen. 20.28 Uhr, ich setze mich auf den letzten freien Sitz! Die in Berlin lebende Fotografin und Stand-up-Comedienne Lisa Frischemeier und Gülsha Adilji, die Joiz-Moderatorin meiner Jugend – oder sogar meiner Kindheit?! – werden in Kürze die Bühne betreten, um über Frischemeiers I SEE VULVAS EVERYWHERE zu sprechen. Das Publikum: Zu Vierfünftel weiblich gelesene Personen. Dies sei weiter aber auch nicht überraschend, wie ich im Verlauf des Gesprächs erfahre. Kurze Prolepse: Es sind eben vor allem weiblich gelesene Personen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit weniger Vulven gesehen, gespürt, gerochen und und ge-[_____] haben. Also, weiter im Takt. Karl der Grosse ist ausverkauft. Die allgemeine Stimmung des Publikums im Saal setzt sich aus ‚ich möchte unbedingt neue Erkenntnisse gewinnen‘ und ‚bleib mal locker, ich bin hier um zu lachen‘ zusammen und trifft somit den Sweet Spot fürs gemeinsame Lernen. Letzteres wird in den bevorstehenden 90 Minuten auch zu Genüge getan.

Auf Adiljis Einstiegsfrage, wie Frischemeiers Mitmenschen auf ihr Vorhaben ein Buch über VULVEN zu konzipieren reagierten, antwortet die Autorin, die ihren gewöhnlichen Job hasst (ich berichte gleich warum), dass die weiblich gelesenen Personen die Relevanz des Themas auf Anhieb gecheckt haben, während sich die MÄNNERS wie bei vielem, was Frauen betrifft, unisono einig waren: Es schreit nach Redundanz. Nun zu ihrem Hassjob: Zu ihren Mitmenschen zählt eben auch ihr Chef, dem sie von ihrem ‚Nebenerwerb‘ erzählen musste. Und ja, Mann + Redundanz = ‹Sind in dem Buch auch Fotos von dir drin?› – An dieser Stelle: Shoutouts an den Chef: Für dich steht auf dem Cover in Majuskeln: 100% PORNOFREI.

Nun wird die Sprache ins Visier genommen und wir lernen, ohne zu lachen: Die Sprache ist unheimlich wichtig, wenn es um Geschlechtsteile geht. Wieso sprechen wir mit Kinder über Schmetterlinge, Kätzchen, Schnecken, SCHAMLIPPEN und nicht über Vulven und Vaginen? Wieso unterscheiden wir generell nicht zwischen Vulva und Vagina, oder: Sind ein Penis und Hoden dasselbe? – Die erste take-home-message ist klar: Erst wenn wir im Stande sind die richtigen Vokabeln zu verwenden, sind wir fähig, uns vernünftig und wertfrei zu unterhalten. (Kurzes bestätigendes Kopfnicken nach links, gefolgt von Schmunzeln ist seh- und hörbar)

Frischemeier fährt fort und erzählt über ihr befreiendes Erlebnis an einer naked tea party irgendwo in Berlin. – Genitalien sind halt einfach nur Genitalien, meint sie, wie ein Knie oder ein grosser Zeh – Stimmt, denke ich, schweife dabei ab und sage mir, dass man  den eigenen Körper tatsächlich nicht immer lieben muss, und als wäre Frischemeier in meinem Kopf gesessen, nimmt sie mir meine Gedanken ab und meint, dass man einfach lieb sein soll zu ihm, so wie man es zu Freunden oder Verwandten auch ist. #zweite #takehomemessage #erneuteskopfnickenundschmunzeln.

«In the western society though, and thankfully of course, that’s not the case, women and men are equal and have the same rights, as everyone should have.» (Marcos, ein in Wahrheit doch misogyner Fotograf)

Im letzten Drittel der Lesung lässt Frischemeier das Publikum hinter die Kulissen ihres Arbeitsprozesses blicken. I SEE VULVAS EVERYWHERE , das von Irene Schampaerts I see faces inspiriert ist, setzt sich aus Texten und vor allem Illustrationen zusammen, die von Hauswänden und Gebäcken über Gewässer im Golf von Mexiko, vulvenhaften Brunnen in der Pfalz und genitalischen Ballone in den Strassen Istanbuls reicht. Alle haben sie gemeinsam, dass sie die Vulva im Fokus haben. – Entstigmatisierung! – Frischemeier ist aber nicht um die ganze Welt und hat Fotos geknipst. Vielmehr habe sie zu ihren eigenen, auch Fotos von Menschen rund um den Globus erhalten. In diesem Zusammenhang erzählt sie, dass es aber auch Menschen wie Marcos gab, – wir nennen ihn auch hier bewusst explizit – die nicht bereit waren ihre Illustrationen in I SEE VULVAS EVERYHWERE abdrucken zu lassen, weil sie keinesfalls mit feministischen Arbeiten in Verbindung gebracht werden wollten, oder besser gesagt: Nicht mit feministischen Arbeiten aus dem Westen, denn dort lebten die Geschlechter ohnehin schon gleichberechtigt……..

Was bedeutet grenzenloses Schreiben?

Auf dem Podium stehen vier runde Tische, geschmückt für die Protagonisten des Abends, die heute im Rahmen des Schweizer Projekts «Weiterschreiben» hier sind. Die runde Form der Tische spielt auf die Form der Planeten im Weltall an. Hier auf dem Planeten Erde gibt es verschiedene Welten, die, anstatt friedlich miteinander zu kommunizieren, durch Lebensbedingungen, Politik und Kultur getrennt und unterschieden sind.

Dank dieses Projekts, das 2017 zum ersten Mal in Deutschland konzipiert und durchgeführt wurde, finden Autorinnen und Autoren aus Ländern, in denen ihre Worte zensiert und zum Schweigen gebracht wurden, den Raum, um ihre Arbeit, ihr Schreiben fortzusetzen und ihren Werken eine Stimme zu geben. In der Schweiz wird das Projekt seit 2021 durchgeführt und hat einen grossen Einfluss auf die zeitgenössische Literaturproduktion. Beispielhaft ist die Begegnung und die Geschichte von Azad Şîmmos Schreiben im Vergleich zum Schreiben von Gianna Olinda Cadonau. Aber mehr als ein echter Vergleich ist es ein Kontakt, eine kontinuierliche Kommunikation, wenn auch auf eine etwas andere Art und Weise, von Gedanken und Visionen über das Leben in der Welt zwischen den Versen der Gedichte, die in Şîmmos Fall wegen der Sensibilität, die der Wortwahl gewidmet ist, und der starken Emotionalität, die den Tönen innewohnt, mitten ins Herz treffen; Verse, die von Gianna, die existenzielle Fragen nach sich ziehen und die jeden von uns Menschen in Frage stellen und uns ein wenig verunsichert zurücklassen. Şîmmo liest Gedichte aus den Sammlungen Belki Sensin Özlediğim (2015) und Avaşîn (2022) in der türkischen Originalfassung; Cadonau liest Gedichte aus den rätoromanisch/Sammlungen Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht (2016), pajais in uondas / wiegendes Land (2020) und aus seinem Roman Feuerlilie (2023).

In der Einführungsrede zur Lesung und Diskussion der Texte wird einer der schönsten Sätze Ludwig Wittgensteins zitiert: «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt» – der perfekte Satz, welcher sofort das problematische Bild des Verbots und das Fehlen des Rechts auf freie Meinungsäusserung wiedergibt. An diesem Abend trafen die Worte von Şîmmo, der nach einer schmerzhaften Vergangenheit in der Türkei in der Schweiz willkommen geheissen wurde, auf die Worte von Cadonau. Die beiden arbeiten an einem Tandem, auf dem ihre Zusammenarbeit beruht. Die Persönlichkeit von Şîmmo spiegelt sich in den Versen seiner Gedichte wider und wird in seinen Worten voller gemischter Gefühle erneut bestätigt. Das Glück und die Freude, im Projekt Weiter Schreiben Schweiz eine neue Familie gefunden zu haben, werden von Şîmmo immer wieder wortwörtlich hervorgehoben, der zugibt, in der Schweiz eine Möglichkeit gefunden zu haben, ohne Grenzen an seinem Schreiben zu arbeiten. Nicht einmal die Vielfalt der Sprachen, die bei den Kreativitäts- und Schreibtreffen aufeinandertreffen. Der Austausch zwischen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Nationen und Kulturen führt zu einem Werk, das nichts weniger ist als die richtige Mischung aus Sichtweisen und Charakteren, die in Prosatexten und Versen umgesetzt werden.

Für Cadonau bedeutet die Arbeit mit Weiter Schreiben Schweiz, dass wir über das nachdenken, was tief in uns steckt, und es nutzbar machen. Schreiben heisst also, sich zu fragen, was man aus dem, was man in sich trägt, mit seinem Innenleben machen kann. Für sie ist WSS ein «konkreter und kostbarer Ort», an dem Worte Gewicht haben und dieses Gewicht eine Spur hinterlässt. Was bleibt, ist sicherlich der Moment der Reflexion, der die Anwesenden am Ende eines jeden Textes beschäftigt. In seinen Gedichten ist Şîmmo er selbst, frei und voller weiblicher Figuren, voller Nostalgie, voller Traurigkeit über diejenigen, die nicht die gleichen Schritte wie er machen konnten, weil sie zurückgeblieben sind. Die Aufgabe seiner Poesie ist es, sich an diejenigen zu erinnern, die in seiner Heimat geblieben sind, und auf die Distanz zu reagieren, die die schweizerische Realität ausfüllt, indem sie ihm eine «Literatur-Mutter» schenkt, womit er von seiner ersten Leitfigur in Weiter Schreiben Schweiz spricht.

Erst später lernt Şîmmo Cadonau in der Projektgruppe kennen, und die Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt hat, geht weit über das hinaus, was man vermuten würde. Die beiden unterscheiden sich in ihren Schreibmethoden. Einerseits gelingt es Simmo, seine Gedanken in seinen langen Gedichten zu entladen, oft in anaphorischen Wendungen, die auch dem ins Deutsche übersetzten Text Musikalität verleihen. Das gleichzeitige Werk aus Lyrik und Roman umfasst auch Übersetzungen seiner türkischen Gedichtbände, die derzeit in Bearbeitung sind. An diesem Abend war es möglich, mehrere türkische Gedichte in deutscher Übersetzung zu hören, bevor sie offiziell veröffentlicht werden. Der Überraschungseffekt im Publikum war an den leuchtenden Augen und ernsten Gesichtern abzulesen. Ja, denn Şîmmo Gedichte lassen Szenen von Gewalt und Ungerechtigkeit lebendig werden, ohne sie wirklich zu beschreiben, sondern lediglich die Gefühle und Reflexionen zu beschreiben, die sie in den von ihm ausgewählten Personen hervorrufen.

Wenn Cadonau über die Reflexion nachdenkt, die den Ausgangspunkt seiner Arbeit bei Weiter Schrieben Schweiz bildet, spricht sie von einem «sich erfinden»: ein Fremder im Land des Wachstums zu sein, wie im Land der Herkunft und das Schreiben ist eine weitere Art, sich fremd zu fühlen, weil es bedeutet, zu arbeiten, zu entwerfen, ohne zu wissen, wo man ankommt und wo man für längere oder kürzere Zeit bleiben wird.

Materialismus, widerständiger Feminismus und historischer Evolutionismus stehen im Mittelpunkt von Şîmmos Poetik, in der der Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Angst und Schmerz geprägt ist. Şîmmo dankt seinem Mitarbeiter Cadonau mehrfach. Diese wiederum bedankt sich bei Simmo: Man braucht zwar Zeit, um sie sich zu verstehen, um vor allem die Texte von Şîmmo und ihre Botschaft zu verstehen und auch wenn die Kommunikation langsam erscheint, bei ihrer Arbeit sieht Cadonau keine gesetzten Grenzen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Literatur sowohl über sprachliche als auch über politisch-gesellschaftliche Grenzen hinausgeht.

Die Lesung endet mit einigen Vorschauen auf die Produktion von Cadonau und Şîmmo. Gianna Olinda Cadonau wartet auf den nächsten Sommer, um sich dem Schreiben neuer Gedichte zu widmen, während Azad Şîmmo derzeit an ihrem neuen Roman arbeitet. Das Publikum, bestehend aus Leuten unterschiedlichen Alters und einer grösseren Anzahl junger Leute, applaudiert lange als Zeichen des Dankes für das Wunderbare der Gegenwartsliteratur.

«X» von Valentina Mira oder: Das, was fehlt.

«Allora.» Eine tiefe Frauenstimme dringt aus den kleinen aber leistungsstarken Lautsprechern im Orell Füssli an der Europaallee. Es ist ein Freitagabend Ende Oktober, die Dunkelheit ist bereits über Zürich hereingebrochen. Der Raum jedoch ist hell, lebendig. Gebannt blicken die zirka zwanzig Zuhörerinnen und Zuhörer auf das Podium, hinter welchem der Hauptbahnhof durch eine überdimensional grosse Fensterscheibe zu sehen ist. Vier Frauen sitzen da, ausgestattet mit Mikrofonen und Exemplaren von Valentina Miras Roman «X».

Die Lesung, von der Moderatorin des Abends scherzhaft als «Vier Frauen und ein Buch» bezeichnet, beginnt mit der Erklärung, es werde sich um ein zweisprachiges Event handeln. Gelesen wird sowohl aus dem italienischen Originaltext von 2021 als auch aus der neuerschienenen deutschen Ausgabe. Jede Frage an Valentina und jede ihrer Antworten werden kompetent in Echtzeit übersetzt, um dem Publikum das Verständnis zu erleichtern, ohne die Authentizität des Ereignisses im Geringsten zu mindern.

«Allora», beginnt die Autorin ihre Antworten auf die Fragen zu ihrem Briefroman, und entschuldigt sich für ihr hohes Sprechtempo, ohne dieses artifiziell zu drosseln. Die Form des Briefromans sei ihr, nach einem gescheiterten Versuch, ihre schmerzhaften Erlebnisse in Sprache zu verwandeln, als einzig sinnvolles Gefäss für die Wörterflut erschienen. Nicht um Anklage gehe es, sondern um Dialog. Nicht mit dem Täter, sondern mit jenem, der keine Stellung bezieht. Dies, obgleich der Adressat ihrer Briefe, der aus dem Leben entschwundene Bruder und Freund des Täters G., sie möglicherweise niemals zu Gesicht bekommen wird.

Berührend und zugleich analytisch-sachlich ruft Valentina Szenen aus der Vergangenheit in Erinnerung, die der Bruder ohnehin bereits vergessen habe. Erinnerungen an das grüne Lego-Krokodil, das Symbol ihrer unschuldigen Kindheit. Erinnerungen an das gemeinsame Elternhaus und die Zeit der Unbeschwertheit. Die Zeit, bevor sie unfreiwillig in den «circolo vizioso» aus Gewalt und Selbstbestrafung gestossen wurde.

«Allora.» Unverblümt schildert Valentina die psychologischen Folgen des Erlebnisses, den Verlust der Selbstachtung, die wiederholte Verletzung des eigenen Körpers. Klösse bilden sich in den Hälsen des Publikums, als erzählt wird, wie Valentina sich dazu durchringt, den Täter bei der Polizei zu melden, worauf der zunächst höflich wirkende junge Polizist ihr nachts per SMS mitteilt: Sie habe ihm gefallen, ob sie sich mit ihm treffen wolle.

Das «X» repräsentiert eine Leerstelle. Neunzig Prozent der Vergewaltigungen werden in Italien, ähnlich wie hierzulande, nicht bei den Behörden gemeldet. Noch immer ist das Stigma zu stark, die Bestrafung, die gesellschaftliche Abwertung von Vergewaltigungsopfern. Für Valentina bildet gerade die sexuelle Schulbildung und die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema der «violenza carnale» einen Schritt in Richtung der Aufhebung des Stigmas. So werden sie und ihr Roman regelmässig zu Lesungen und Gesprächen in Schulen geladen, um der Unwirksamkeit des rechtlichen Apparates einen offenen Dialog entgegenzusetzen.

«Allora», sagt Valentina ein letztes Mal, bevor sie sich für den gelungenen Abend bei den Veranstalterinnen und der Zuhörerschaft bedankt, die allesamt, berührt und schwer beeindruckt, in tosenden Beifall ausbrechen.

Von Joshua Gutenberg

Viele Wege führen zur Autorschaft

Ein gemütlicher Infoabend über (Selbst-) Publikation

Wie komme ich von den literarischen Ergüssen in meiner Schreibtischschublade zur Publikation? Hobbyautorinnen, Verlags-Quereinsteiger, Sachbuchübersetzerinnen und Schreibfanatiker haben sich in dem kleinen Buchgeschäft am Predigerplatz eingefunden, um den Mittwochabend mit dieser Frage zu verbringen.

Hinter den grossen Schaufenstern der Geschichtenbäckerei summt leise die Gasheizung. In einer Runde aus knapp zehn Leuten wechselt Gabriela Kasperski zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch, um ihrem Publikum das Veröffentlichen eigener literarischer Werke nahezubringen.

Sie selbst hat Germanistik studiert und schreibt seit einigen Jahren Krimis, die in Zürich und der Bretagne spielen. Doch so weit nicht alles, denn der Weg dahin sei nicht ohne Umwege gewesen. Auch Autorin von Dramen und Synchronfassungen war sie schon und absolvierte eine Drehbuchausbildung. Mit dem Publizieren ihrer Bücher hat sie erst mit vierzig begonnen. Kasperski erzählt von einem steinigen Weg über Verlagsabsagen, Fusionen, ausstehende Lektorate und ständige Neuorientierung. Sie weiss: «Es gibt nicht nur den frühen, jungen, direkten Weg zur Autorschaft. Bei Weitem nicht.»

Ihr Tipp: Die Selbstveröffentlichung soll einem die erste Tür zur Etablierung als Schriftsteller*in öffnen, aber nicht ohne professionelles Lektorat und Coverdesign. Aus ihrem Publikum melden sich darauf auch skeptische Stimmen und fragen nach Aufwand und Selbstkosten. Gabriela Kasperski hält unverblümt fest: Es ist eine Wissenschaft für sich und mit viel Aufwand kann man es auf dem Buchmarkt auch zu was bringen. Aber vor allem ist es eins: «ein knallhartes Business.»

«Wiggerl» – Vernichtung durch die Nazis 

Stimmengewirr. Donnerstagabend. Debattierhaus ‘Karl der Grosse’. Blaues Foyer. Genauer: Ein kleiner, heimeliger Raum zwischen zwei Treppenhäusern. Er ist um 17:45 Uhr bereits voll. Der Mann der Stunde – Andreas Pospischil – wirkt abgelenkt, als der Moderator Yves Schumacher die finalen Fragen durchgehen will, schaut sich um, muss allen, die er kennt, die Hand schütteln, Hallo sagen. 

18:00 Uhr. Schumacher: «Heute liest nicht Zürich, sondern Andreas Pospischil.» Es handle sich bei seinem Werk «Wiggerl» um eine akribisch recherchierte Tatsachengeschichte. Wie sich im Laufe der folgenden 60 Minuten herausstellen wird, hat Schumacher damit absolut Recht. Zunächst aber: Vorstellung Pospischils. Geboren in Wien, aufgewachsen in München. Später längere Zeit seines Lebens Professor und Direktor des Instituts für Veterinärpathologie an der Universität Zürich.

Das erste Kapitel «Spurensuche» handelt von der langwierigen Recherche nach Daten und Fakten über Ludwig S. – genannt «Wiggerl» – auf dessen frühere Existenz Pospischil zufällig beim Durchforsten einer Kiste der verstorbenen Schwiegermutter gestossen ist. Das Buch verbindet realhistorische Gegebenheiten mit fiktiven Handlungen sowie Stellen aus dem Lebenslauf von Wiggerl. Dabei wechselt Pospischil an den passenden Textstellen jeweils in den bayerischen oder schweizerdeutschen Dialekt. Ausserdem unterbricht er das Vorlesen immer wieder und gibt uns Kontextinfos zu den erwähnten geschichtlichen Ereignissen im Buch. Manch ein Exkurs sorgt trotz des ernsten Themas in Verbindung mit Pospischils ruhiger und offener Art für Lacher im Publikum. Geboren ist Wiggerl 1901 in München. Im Laufe seiner Kindheit wird bald klar, dass er vergleichsweise klein bleibt und von Albinismus betroffen ist. Seine Mutter stirbt früh, Familienprobleme sind die Folge. 

Zwischendurch ist das leise Flüstern einzelner Stimmen zu hören.

Am 16. September 1938 passiert das, was Pospischil als «Kern der Geschichte» beschreibt. Basis dafür bilden Protokolle der Gerichte, die den Fall Ludwig S. dokumentieren. Wiggerl ist inzwischen ein Landstreicher geworden und meldet sich für den Reichsarbeitsdienst «Arbeiten am Westwall». An besagtem Septembertag ruft er aus: «Pfui, das Dritte Reich! Es lebe Moskau!». Daraufhin bringt ihn die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes in das Gefängnis Neustadts an der Weinstrasse, um ihn zu verhören. Aus einem der Verhörprotokolle ist die Aussage Wiggerls «an den Tag kann ich mich nicht erinnern, war ziemlich besoffen» zu entnehmen. Aufenthalte in Untersuchungsgefängnissen folgen. Auf die Verhandlung des Falls im Januar 1939 folgt seine Verurteilung. Vorgeworfen werden ihm Staatsfeindlichkeit und Staatshetze. 1 Jahr und 3 Monate Gefängnisstrafe in einem Justizlager. Arbeiten verrichten. 1940 ist die Haftzeit von Wiggerl abgelaufen. Er schreibt seinem Vater einen Brief, dass er bald heimkommt. Am Tag seiner Entlassung erreicht ihn ein Schreiben: «Entlassung von politischen Strafgefangenen». Er wird in Schutzhaft genommen, muss in mehreren Konzentrationslagern arbeiten. Das letzte ist in Dachau. Es ist nicht geklärt, ob Ludwig S. eines natürlichen Todes stirbt oder von den Nationalsozialisten getötet wird. Letzteres ist jedoch sehr wahrscheinlich.

Zum Schluss werden die anfangs durchgegangenen Fragen besprochen. Pospischil antwortet angeregt. Das Buch sei mit viel Recherchearbeit verbunden. Es habe ihn sehr gereizt, den Fall des Ludwig S. aufzuklären. Das hänge mit seinem ehemaligen Pathologenberuf zusammen. Archivarbeit. Wiggerl wurde verschwiegen, der Grund dafür sei unbekannt. War er das schwarze Schaf der Familie? Alle Personen, die darüber hätten Auskunft geben können, waren zum Zeitpunkt der Recherchen bereits verstorben. Während des Krieges habe man wohl aus Angst vor den Nazis nicht über Wiggerl geredet und nach dem Krieg sei er vermutlich vergessen geworden. Ich denke mir, dass es gefährlich ist, dieses Vergessen.

Zwischen Erzählung und unterhaltsamem Irrsinn: Hannes Bajohrs «(Berlin, Miami)»

Hannes Bajohrs (Berlin, Miami) ist experimentell. In seinem Inhalt, aber vor allem in seiner Machart. Der Text entstand nämlich mithilfe eines Sprachmodells. Bajohr hat ein auf die deutsche Sprache trainiertes Sprachmodell mit vier zeitgenössischen Romanen, die sich mit der digitalen Gesellschaft befassen, gefüttert und ‹finegetuned›. Dann hat er Satz für Satz, Absatz für Absatz ein kleines «Etwas» vorgegeben – manchmal ein Wort, manchmal aber auch nur ein Satzzeichen –, was das Sprachmodell dann vervollständigt hat.

Er habe versucht möglichst wenig einzugreifen, sagt Bajohr, manchmal habe er etwas gelöscht, wenn die Richtung, die das Sprachmodell einschlug, gar nicht gepasst habe, oder er habe ein spezifisches Wort eingegeben, wenn er darüber mehr wissen wollte. Was dabei rauskommt, funktioniert auf den ersten Blick als Erzählung – auf den zweiten dann irgendwie doch nicht so richtig.

Die Welt ist in den letzten Tagen viel verändert worden; es gibt keine Regeln mehr für die Menschen auf der Straße. Der Lautsprecher spuckte das gesamte Wort aus: «Verfluchtes Zeug!» – weil er sich überall Unannehmlichkeiten zuzog: von der Frau mit dem Rucksack bis zum Mann, der seinen Körper anprobierte, um ihn abwertend bei uns im Haus hinterlegen zu lassen.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 22.

Bajohr selbst befindet die Erzählung für gescheitert. Es ginge ihm aber auch viel mehr darum, aus dem Text mehr über die Technik zu lernen, die dahinter steckt, als eine gelungene Erzählung zu kreieren. Darüber, was ein Sprachmodell aus den erhaltenen Daten zustande bringt, wie dies sprachlich umgesetzt wird und wo die Grenzen dieser Technik liegen.

Unterhaltend ist der Text auf jeden Fall. Das Publikum amüsiert sich köstlich, als Bajohr Ausschnitte aus dem Text vorliest. Die Inkongruenzen und Unvorhersehbarkeit des Textes erzeugen Komik.  

Jedenfalls, sie [die Mutter] machte sich über meinen Vater lustig und meinte, er trage immer genau dieselbe Sonnenbrille, die er bei meiner Entstehung getragen hatte, weshalb er die Gesichter seiner Kinder immer mit dieser Sonnenbrille betrachtete, also alle ohnehin braunhaarig erschienen nur ich hatte blondes Haar, aber das lag nicht an meinem Vater, das lag an mir.

Hannes Bajohr, (Berlin, Miami), S. 89.

Ein solcher Roman wie (Berlin, Miami) einer ist, wirft Fragen auf. Auf rechtlicher, aber auch auf moralischer und ethischer Ebene. Nur schon die Autorschaft ist nicht einfach zu identifizieren. Auf dem Buch steht nur Bajohrs Name. Er sei strikt dagegen, das Sprachmodell namentlich als Mitautor zu nennen, da dies der Maschine eine Subjektivität und Verantwortung zuspricht, der sie systembedingt nicht nachkommen kann.

Eine andere Möglichkeit wäre es alle zu nennen, die auf direkte und indirekte Art an der Entstehung des Textes beteiligt gewesen sind; über Autor:innen der eingespeisten Romane bis hin zu Entwickler:innen des Sprachmodels. Das seien aber viel zu viele, meint Bajohr, entsprechend stehe der Einfachheit wegen nur sein Name, stellvertretend für alle Beteiligten. (Fragt sich aber doch, warum Bajohrs Name dann so gross und ohne jeglichen Hinweis auf das Kollektiv dahinter auf dem Cover abgedruckt sein muss, während der Titel kaum halb so gross darunter sein Plätzchen finden muss…)

Ein Beispiel für ein Buch, das unter menschlicher Lenkung aber doch mehrheitlich von einer Maschine generiert wurde, haben wir mit (Berlin, Miami) vor uns. Mit der Frage, wie wir mit einem solchen Text umgehen – als Lesende, als Rezensierende und schlichtweg als Gesellschaft –, werden wir uns noch intensiv auseinandersetzen müssen.

I see Vulvas everywhere

Unter diesem klingenden Titel führt die deutsche Comedienne Lisa Frischemeier in ihrem Buch die Leser:innen durch eine Welt voller weiblicher Geschlechtsteile.

«Komplett ausverkauft» sei die Veranstaltung mit Lisa Frischemeier, so steht es auf der Website von Zürich liest. Das Interesse scheint gross, und der Saal im Karl der Grosse ist – wie zu erwarten – voll an diesem Donnerstagabend um 20 Uhr 30. Die Stimmung ist von Beginn an munter, dafür sorgen die zwei Frauen auf dem Podium, Autorin Lisa Frischemeier und Moderatorin Gülsha Adilji. Die zwei kennen sich schon länger, was gleich einen vertrauten Rahmen schafft – nicht ganz unwichtig bei dem einigermassen intimen Thema.

I see Vulvas everywhere, so lautet der Titel von Frischemeiers jüngst publizierten Buch. Und der Name ist Programm: Die Comedienne zeigt Fotos, auf denen das weibliche Geschlechtsteil, oder zumindest dessen Form, zu sehen ist, entdeckt von ihr oder anderen Menschen im Alltag. Sei es ein ellipsenförmiger, bröckelnder Verputz einer Häuserwand, ein kunstvoll gestalteter Brunnen in Landau, oder eine halbfertige Empanada.

Die Dinge beim Namen nennen
Inspiriert für diese Publikation haben Frischemeier die feministischen Comics von Liv Strömquist und ein Buch namens I see Faces, in welchem an ungewöhnlichen Orten Gesichter entdeckt werden. Das müsste man doch zusammenbringen können, dachte sich die Comedienne. Mehr aus Spass erwähnte sie die Idee für ein Vulva-Buch gegenüber einer Freundin, die bei einem Verlag arbeitet – und diese war sogleich dabei. Die Reaktionen in ihrem Umfeld fielen unterschiedlich aus: «Frauen haben sofort die Relevanz des Themas verstanden», erzählt Frischemeier. Männer seien oft weniger begeistert gewesen, und meinten, damit nichts zu tun zu haben. Ein Raunen geht durch den Saal.

«Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei und vernünftig über die Geschlechtsteile unterhalten.»

Lisa Frischemeier

Die Autorin konstatiert: «Auch wenn ich es als leichte Unterhaltung verkaufe, geht es um Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung.» Eine Sprache für das weibliche «Untenrum» zu finden und Begriffe zu normalisieren, ist ein wichtiger Bestandteil ihres Projekts. So verwendet Frischemeier auch konsequent den Begriff «Vulvalippen» statt «Schamlippen»: «Wir sollten die Dinge schamfrei und korrekt benennen.» Weshalb ist Sprache so wichtig, wenn es um die Geschlechtsteile geht? «Um zu formulieren, was man will oder nicht will. Ohne das Vokabular können wir uns nicht wertfrei, vernünftig darüber unterhalten.» Auch, dass man beim Arztbesuch zwischen Vulva und Vagina unterscheiden könne, sei essenziell.

Hass auf Social Media
Nebst den farbenfrohen Fotos gibt uns Frischemeier in einem begleitenden Essay Einblick in eine Kulturgeschichte der Klitoris und der Vulva, schildert, wie sie jahrhundertelang versteckt, die weibliche Lust verleumdet wurde. Und sie räumt mit dem Mythos des vaginalen Orgasmus auf. Bezeichnend ist auch, wie viel Hass ihr für dieses Buch entgegenschlug. Der SWR musste auf Social Media die Kommentarfunktion unter einem Beitrag zu Frischemeiers Buch sperren – zu viele Hasskommentare waren gepostet worden. Doch die Autorin lässt sich davon nicht einschüchtern. Sie packt einzelne Kommentare plus Namen der Verfasser auf ihre Powerpoint-Präsentation, stellt sie aus, macht sie sich zu eigen.

Unterfüttert ist das Buch, wie auch die Veranstaltung, mit Humor und einer guten Portion Selbstironie, beispielsweise wenn die Autorin von ihrem Besuch einer Naked Tea Party (die genau das ist, wonach es klingt) erzählt. Lisa Frischemeier schafft es, sich auf ungezwungene und spielerische Weise den weiblichen Genitalien zu nähern. Dabei hilft nicht zuletzt die glitzernde Vulva-Box, in welche die Zuhörer:innen zum Ende des Podiums Zettel mit Fragen werfen können.

Im Treibhaus übers Klima reden

Stadtgärtnerei Zürich, Donnerstagabend, regnerisch. Man läuft einmal durchs Grün der Anlage, um dann in einem Treibhaus mit zahlreichen Pflanzen an einer Vernissage der sowohl – und das im wörtlichen Sinne zu verstehen – heissesten als auch trockensten Neuerscheinung des Limmat-Verlages teilzunehmen, gemeint ist die erstmalige Übersetzung von C. F. Ramuz hundert Jahre altem Text «Sturz in die Sonne».

C. F. Ramuz entwirft mit seinem Roman eine Dystopie, in welcher die Erde durch einen Gravitationsfehler in die Sonne st¨ürzt und die Tage am Genfersee von da an wärmer werden, bis Gletscher schmelzen, Bäume verdorren und sich die Menschheit ihrem Ende bewusst wird. «Sturz in die Sonne» ist ein einhundert Jahre alter «Klimaroman», der eine ungeheure Aktualität birgt, so führt Simon Leuthold das Thema ein und bietet damit auch bereits Raum für eine kritische Befragung des Genres. Wie viel an Ramuz› «Sturz in die Sonne» ist tatsächlich Klima, wie viel ist Roman? Sein Gesprächspartner ist Steven Wyss, der genau einhundert Jahre nach der Veröffentlichung von Ramuz› Roman mit dem ursprünglichen Titel «Présence de la mort» den Text erstmalig vom Französischen ins Deutsche ¨übersetzte. Klar ist: Der Roman lässt sich nicht lesen, ohne an die gegenwärtige Klimakrise zu denken, dafür passt er einfach zu gut in die heutige Zeit. Es geht aber auch um die Ignoranz der Menschheit, die sich in diesem Endzeit-Szenario breitmacht. Ramuz selbst hätte auch über eine Eiszeit oder sonstige Katastrophen schreiben können, über den Klimawandel konnte er zur damaligen Zeit nichts wissen, weshalb das Gespräch zwischen Simon Leuthold und Steven Wyss seinen Fokus – zum Glück – auf die Übersetzungsarbeit legt und die Wirkungsästhetik diskutiert.

Letztere fiel zu Lebzeiten Ramuz› gar nicht positiv aus; der Roman war, so Steven Wyss, damals ein Flop. Denn «Sturz in die Sonne» ist gar kein wirklicher Roman: die Figuren machen keine Entwicklung durch, es gibt keine kohärente Handlung, viel eher liest sich «Sturz in die Sonne» wie eine Gemäldesammlung, ein Panorama aus dreissig visuellen Szenen, das wohl die zeitgenössischen Leser:innen überforderte. Dieses bildhafte, szenische und neutrale Erzählen Ramuz› wird durch Leseeinschübe von Klaus-Henner Russius mit einer kräftig alten und angenehm ruhigen Stimme untermalt. Leider liest dieser aber eher einmal zu viel als zu wenig aus dem Buch vor.

Trotzdem gibt es noch genügend Platz, um die Übersetzungsarbeit Steven Wyss› anzusprechen. Dieser übersetzte mit «Sturz in die Sonne» zum ersten Mal einen ganzen Roman. Die Schwierigkeiten im Übersetzen von Ramuz sieht er darin, dass dieser seine ganz eigene Sprache mit einem eigenen Rythmus hat. Ramuz› Sätze, so Wyss, sind irgendwie schräg, und das müssen sie beim Übersetzen auch bleiben, damit man sich nicht zu weit von dem:der Autor:in entferne; man darf daher beim Übersetzen die Sprache nicht glätten und korrigieren, und das hat Wyss auch nicht, wie man beim Lesen schnell merkt. Die Grammatik fällt bei Ramuz dem Rhythmus zum Opfer. Die daher naheliegende Frage, inwiefern sich Rythmus übersetzen lässt, blieb jedoch unbeantwortet. Steven Wyss wünscht sich dafür, dass die Rezeption von «Sturz in die Sonne» C. F. Ramuz als Autor generell wieder mehr Aufmerksamkeit geben soll. Für ihn ist der einst für den Literatur-Nobelpreis gehandelte Autor aus dem 20. Jahrhundert nach wie vor von grosser Bedeutung. Mit seiner Übersetzungsarbeit wünscht er sich, dass das Buch «Sturz in die Sonne» eine «Einstiegsdroge für Ramuz-Leser:innen» wird.