Lyrik essen: Ein Bericht aus dem Inneren

«Wo gutes Essen ist, sind auch Liebe und Poesie nicht weit.» Mit diesen archaischen Worten bewirbt das Restaurant Münsterhof seinen lyrisch-erotischen Abend, an dem René Grüninger, der Mitbegründer des internationalen Literaturfestivals Leukerbad, lesend durch die Welt der Liebeslyrik führt. Ein «Dîner Littéraire» begleitet die Texte mit vier Gängen, Wein und einer Unzahl Hors d’Oeuvres.

Mehr als ein Dutzend Bücher liegen auf dem Tisch mit dem Mikrofon im 1. Stock des Restaurant Münsterhof. Davor sitzt René Grüninger. In den nächsten dreieinhalb Stunden wird er im Unterschied zu den rund 20 Besuchern statt Besteck und Stoffserviette, abwechselnd rund zwei Dutzend Gedichtbände in der Hand halten. Die Gäste sind chic gekleidet, tragen teure Uhren am Handgelenk und passen formgenau ins Interieur des ersten Stocks. In Alter und Geschlecht durchmischt, gehören sie zum Grossteil einer gehobenen Mittelschicht an. Auf den Tischen brennen Kerzen, die Wände zieren ein abstraktes Aktbild und eine Secco-Malerei aus dem 14. Jahrhundert, die «Lustgarten» heisst. Flotte Kellner bringen Gläser mit sprudelndem Prosecco. Die Stimmung für den Abend ist gesetzt: Man ist bereit, zu konsumieren und man tut dies sichtlich wohl.

Nach eigenem Gutdünken hat René Grüninger eine stattliche Auswahl der Liebeslyrik der letzten Jahrhunderte zusammengestellt. Er rezitiert sowohl Klassiker wie Erich Fried, Kurt Tucholsky, als auch Salomons «Hohelied» oder zeitgenössische Lyrikerinnen wie Ulla Hahn, Pedro Lenz oder Hilde Domin. Obwohl eine solche Zusammenstellung niemals abschliessend sein kann, ist es schade, dass gerade die Liebeslyrik des Mittelalters – die angesichts der Secco-Malerei an der Wand geradezu eine Steilvorlage erhalten hat – in seiner Auswahl keine Erwähnung findet. Die im Titel angepriesene Erotik wird in Ansätzen gestreift und beschränkt sich im Wesentlichen auf Kurt Tucholskys Gedicht «Versunkene Träume», das darüber spricht, den Busen von Jungfrauen besser fernzubleiben, und Peter Turrinis plastischen Beschreibung einer Mundwanderung zu den Brüsten einer Geliebten. «Es ist was es ist», möchte man Erich Fried hier zitieren.

Die Lyrik kommt immer in den Pausen zu Wort, die zwischen den Gängen des «Dîner Littéraire» von Küchenchef Karim Schumann und Sous-Chef Emanuel Della Pietra liegen. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, was die beiden exzellenten Chefs auf den Tellern anrichten, sind Gedichte in kulinarisches Form. Den Beginn ihres Menüs bilden gebeizte Tranchen von Schweizer Lachs, dann folgen Basilikumravioli mit Hummerbique und Grillierte Rindsentrecôte mit Parmesanschaum. «Meine Liebe nährt sich von deiner Liebe», rezitiert Grüninger das bekannte Gedicht von Pablo Neruda. Dann kommt das anmutige Dessert in der übergrossen Keramikschale und man möchte die Zeilen umschreiben zu «Meine Liebe nährt sich von diesem Duett von Felchin Schokoloade, Quitte und Chili».

V.l.n.r. Sous-Chef Emanuel Della Pietra und Küchenchef Karim Schumann

Das Konzept des Abends verlockt zum Zurücklehnen, zum Abschalten und zum Geniessen. Doch.. darf man das denn? Lyrik ist doch Arbeit. Sie eckt an, ist inkommensurabel und fordert Analyse. In einer Form, wie heute Abend im Münsterhof, wird sie plötzlich leicht und zu einem Konsumgut, an dem man sich so einfach satt hören kann. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man sie – mit der Gabel Entrecôte in der Hand und dem perlenden Prosecco im Kerzenschein – einfach zu warmem Sing-Sang werden lässt, der die Pausen zwischen den Gängen füllt. Doch wie verwerflich wäre es denn, einfach abzutauchen in gutes Essen, Wein und die Texte Füller werden zu lassen? Einige Besuchende schliessen die Augen, wenn Grüninger rezitiert und schwelgen blind. Ein älteres Ehepaar wirft sich bei den Zeilen Else Lasker-Schülers Gedicht «Heimlich zur Nacht» und den Verszeilen «Ich habe dich gewählt unter allen Sternen» von entgegengesetzten Tischkanten feurige Blicke zu; Eine Mittvierzigerin googelt hingebungsvoll nach diesem einen Gedicht von Nietzsche, an das sie sich plötzlich wieder erinnert; und ein junger Mann stöbert nach der Lesung gedankenverloren in den Grüningers verlassenen Lyrikbänden, als fände er darin die Antwort auf eine Frage, die ihn schon lange beschäftigt hat.

Kritische Zungen könnten an einem solchen Abend auch ein fertig geschnürtes Päckchen für eine ausgewählte Gruppe von Menschen sehen, die bereits auf Themen der Lyrik sensibilisiert sind, da sie über die intellektuellen wie auch die finanziellen Mittel dazu verfügen. Und sie hätten vermutlich Recht mit dieser Beobachtung. Es bleibt die Tatsache, dass ein solcher Abend eine ökonomisch stärkere Gruppe gegenüber der schwächeren privilegiert. Doch ist dies eine Figur, die dem Kultursystem, in dem wir leben, inhärent ist. Die Problematik ist eine strukturelle und kann den Veranstaltern nur unter Vorbehalten angekreidet werden. Es ist, was es ist, sagt die Beobachterin mit Blick auf den Abend und findet es legitim, hin und wieder eine Lanze für den kleinen Luxus zu brechen. Schöner als der Abend im Münsterhof bleibt ohnehin das Vorlesen zu zweit, das in Gänze unbezahlbar ist.

Wer sich entschliesst, 90 CHF für Liebesgedichte, Hors d’Oeuvres, 4-Gang-Menü, Prosecco und Espresso auszugeben, der hat die Chance, am Samstag an der nächsten Lesung teilzunehmen und kann hier reservieren. Meine Kollegin Elisa Weinkötz war auch begeistert, sah den Abend aber durchaus vom anderen Tellerrand. Ihren Bericht kann man hier nachlesen.

Für uns bei «Zürich liest»: Elisa Weinkötz

Elisa kommt aus Berlin und verbringt zur Zeit ein ERASMUS-Semester in Zürich. Sie kommt grade mit dem fehlenden scharfen S klar und erkundet die Schweizer Literaturszene. Dabei ist sie erstaunt, wie wenig sie bisher mitbekommen hat und freut sich über Entdeckungen wie den Verlag die brotsuppe und die Autorin Zsuzsanna Gahse.

Bei „Zürich liest“ beginnt sie im Münsterhof, wo sie ein dekadentes Zusammentreffen von Kulinarik und Liebesgedicht erwartet – sie ist gespannt auf das Mehrgängemenü. Dann wird sie sich beim Spaziergang im Stadtkreis vier Buchorte erlaufen, wieder einmal guten alten Grimm’schen Wortschatz bestaunen – und die „Grenzenlosigkeit der Sprache“ im Angesicht der Lyrik. Schließlich wird sie sich im „Kein Museum“ auf Kies betten, um die Lage zu checken: poetisch, praktisch und hoffentlich gut.