Mehrstimmigkeit

Ond was machsch du eigentlech?

Ich sitze im heissen und vollen Kino im Uferbau. Auf der Bühne steht ein Mikrofon, eine Loop Station, ein Kontrabass und zwei Künstlerinnen: Amina Abdulkadir und Stefanie Kunckler.

Stefanie Kunckler entlockt dem Kontrabass einen schnellen Rhythmus und gewollt unsaubere Doppelgriffe – ein vielstimmiger Klang. Eine weitere, menschliche Stimme tritt hinzu: die von Amina Abdulkadir. Worte fliessen, die Mehrstimmigkeit der Kontrabassmelodie verwandelt sich in ein pochendes Pizzicato. «Öpper…Öpper het emol gseit…» zögert die Stimme. «Nüt isch me wie früehner!» Die Stimme wiederholt sich, weitere Aussprüche schalten sich ein – die Loops werden zum Gespräch, zum Geschwätz.

Die Kontrabass-Stimme nimmt viele Gestalten an: Sie wird bald zur Gesprächspartnerin, bald zum Herzschlag, bald zum Zweifel, der sich sogleich auch auf die menschliche Stimme überträgt. Es is ein Neben-, In- und Aneinander von Stimmen und Stimmungen, das sich weit ab von jeder einschläfernden, mit Musik begleiteten Lesung bewegt.

Im dunklen Saal treten durch dieses Arrangement viele Zweifel, viele Fragen und viel Kritik ans Licht. Das Duo bringt eingeschliffene Floskeln zum Missklang, so dass sie sich selbst entlarven.

 

Träume und andere alltägliche Dinge

Viele gutgelaunt glucksende Menschen sammeln sich im Kino im Uferbau, um Michelle Steinbecks Lesung aus ihrem Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr zu lauschen. Ihre Verse haben eine «Treffsicherheit, die immer wieder sprachlos macht». Damit lässt Pablo Haller, der selber schreibend und performend tätig ist und hier durch das Gespräch führt, den Lockvogel gleich zu Beginn aus dem Käfig. Michelle Steinbeck meint, sie wäre wohl auch sprachlos, wenn sie jetzt nicht lesen würde. Sie schlägt eine Reise quer durchs Buch vor, und ich nehme die Einladung gerne an.

Sie beginnt zu lesen, von ihren Liebesgedichten, wie sie später durchblicken lässt. Ihre Gedichte haben etwas angenehm Unemotionales, Ungekünsteltes. Nach der Liebe kämen nun die Babies, meint sie. Es folgen traumartige Gedichte und Alltagsüberlegungen.

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

«Wollen wir mal ein bisschen reden?», fragt sie ihren Moderator nach einigen Gedichten freundlich – und stellt auf liebenswerte Art und Weise klar, wer hier durchs Gespräch führt. Also reden sie. Darüber, wie sie früher sicher war, dass sie keine Lyrik schreiben würde und sich nach dem ersten, in einem Weihnachtsband der Berner Kunsthochschule publizierten Gedicht geschworen habe, nie wieder ein Gedicht zu veröffentlichen. Darüber, wie sie es dann doch getan hat. Und darüber, wie sie über das Tagebuch- und Traumbuchschreiben zu ihren Gedichten kommt. Das Notieren der Träume sei aber auch mühsam. Manchmal passiere es, dass sie schon im Traum ans Aufschreiben denke und deshalb dann nicht mehr viel anderes träume.

Ihre Gedichte bleiben aber nicht im Traum stehen und sie selbst wirkt sehr wach und freudig angekommen im Gebiet der Lyrik, als sie bemerkt, dass die Form der Lyrik ihr die Freiheit gebe, ihr nahe stehende Dinge leichter zu verarbeiten. So kann sie auch mit Gefühlen arbeiten, ohne dass es je sentimental klingt. Sie verrät, warum sie dieses Jahr zu den Solothurner Literaturtagen eingeladen wurde: wegen einem ihrer Gedichte. Darin schreibt sie, dass sie die Solothurner Literaturtage hasse, weil sie sich die Birne verbrannt habe und weil sie nicht eingeladen sei, aber alle anderen schon. Et la voilà, hier ist sie also in Solothurn, an ihren verhassten Literaturtagen. Eine gute Entscheidung.

Die Poesiereise nimmt ihr Ende in italienisch angehauchten Fernbeziehungs-Gedichten, von denen eines nach einem italienischen Lied benannt ist: «Ich nehm ein Gelato mit deinem Geschmack». Auf Deutsch klinge das wirklich hässlich, meint sie. Und um den Hauch von Kitsch ein für allemal zu vertreiben, kommt sie auf die Tauben zu sprechen, die sie in Rom am Bahnhof beobachtet: «Am Boden immer so bemitleidenswert, sind sie dort oben ziemliche Player.»

Nach der Lesung schlägt mir das Licht, das die Aare vor dem Kino im Uferbau eifrig bescheint, ins Gesicht und holt mich noch stärker auf den Boden der Realität zurück. Das war eine Traum- und Alltagsreise der besonderen Art.