Mehrstimmigkeit

Ond was machsch du eigentlech?

Ich sitze im heissen und vollen Kino im Uferbau. Auf der Bühne steht ein Mikrofon, eine Loop Station, ein Kontrabass und zwei Künstlerinnen: Amina Abdulkadir und Stefanie Kunckler.

Stefanie Kunckler entlockt dem Kontrabass einen schnellen Rhythmus und gewollt unsaubere Doppelgriffe – ein vielstimmiger Klang. Eine weitere, menschliche Stimme tritt hinzu: die von Amina Abdulkadir. Worte fliessen, die Mehrstimmigkeit der Kontrabassmelodie verwandelt sich in ein pochendes Pizzicato. «Öpper…Öpper het emol gseit…» zögert die Stimme. «Nüt isch me wie früehner!» Die Stimme wiederholt sich, weitere Aussprüche schalten sich ein – die Loops werden zum Gespräch, zum Geschwätz.

Die Kontrabass-Stimme nimmt viele Gestalten an: Sie wird bald zur Gesprächspartnerin, bald zum Herzschlag, bald zum Zweifel, der sich sogleich auch auf die menschliche Stimme überträgt. Es is ein Neben-, In- und Aneinander von Stimmen und Stimmungen, das sich weit ab von jeder einschläfernden, mit Musik begleiteten Lesung bewegt.

Im dunklen Saal treten durch dieses Arrangement viele Zweifel, viele Fragen und viel Kritik ans Licht. Das Duo bringt eingeschliffene Floskeln zum Missklang, so dass sie sich selbst entlarven.

 

„Nicht irgendwelche Wörter…“ Die 41. Solothurner Literaturtage sind eröffnet.

Andächtig still war es im Landhaussaal, als die Singer-Songwriterin Pink Spider mit melancholischen Klängen am 30.05. die 41. Solothurner Literaturtage einleitete. Eher gesetzt und bedachtsam schloss sich die Eröffnungsrede der Geschäftsführerin Reina Gehrig an. Ihr emphatisches Konzept von Literatur als Ort der Freiheit, Weltoffenheit und Gleichheit ebnete der Veranstaltung den Weg.

Literatur habe eine Aufgabe, lautete das einstimmige Statement des Festivalauftaktes: Nicht allein um Wörter und nicht allein um „irgendwelche Wörter“ solle es nach der Autorin Amina Abdulkadir im diesjährigen Festival gehen, sondern um eine engagierte und gelebte Literatur.

Einen ersten Beweis erbrachten die Veranstaltenden performativ: Denn mit Reina Gehrig, der Nationalpräsidentin Marina Carobbio Guscetti, der Musikerin Valerie Koloszar und fünf Autorinnen führten ausschließlich Frauen durch das Abendprogramm. Mittendrin 988 Wörter in elf Absätzen der US-amerikanischen Schriftstellerin Nell Zink. Mit Charme, Witz und Ironie verband sie Reflexionen über benachteiligte, depressive weibliche Romanfiguren zu einem feministischen Plädoyer jenseits aller Opferdiskurse. Ganz nebenbei verhandelte sie außerdem gesellschaftliche Großkonzepte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Nationalismus und Demokratie, worauf die Autorinnen Laura Di Corcia, Rinny Gremaud, Leontina Lergier-Caviezel und Amina Abdulkadir jeweils in ihrer Muttersprache literarisch antworteten.

Bis Sonntag werden über hundert Autor*innen in den vier Landesprachen der Schweiz lesen, performen und diskutieren. Es bleibt mit Carobbio Guscetti zu hoffen, dass die Literaturtage nicht nur einen Anlass bieten, den „inneren Bücherschrank“ zu füllen, sondern auch neu zu sortieren.