Von Siegertypen und Wortrückseiten

Schnell lockert sich die Stimmung im Solothurner Stadttheater, als der Kulturjournalist Pablo Haller mit einem wohlkalkulierten Versprecher über Gion Mathias Caveltys Genese der Menge ein kollektives, schockiert-belustigtes Glucksen abschmeicheln kann: «…isch 1974 gebore, hät in Fribourg studiert – italienischi und rätoromanischi Gschicht, äh, Sproch. Rätoromanischi Gschicht, wohrschinli gäbs nideso vill.»

Der im weissgestreiften, schwarzen Anzug sitzende Metalfan Gion Mathias Cavelty reagiert daraufhin mit vorgeblicher Entrüstung, indem er, das Mikrofon in der Hand, eine ausholende Geste gen Haller andeutet.

Gewiss, dies ist eine Vorstellung sondergleichen, einzig die beiden Scheinwerfer und vielleicht die kleine Bühne bewahren die belustigten Zuschauer vor dem Eindruck, sie wohnten einem gemütlichen Plauderstündchen bei. Gewidmet ist die Lesung jedoch Gion Mathias Caveltys neustem Schelmenstück, äh, Buch – Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Mit väterlich-jovialer Erzählstimme trägt Cavelty Kapitel für Kapitel aus seinem «höchst fiktiven Roman» vor und blickt dann und wann mit einem verschwörerischen Blick ins Publikum, das betört an seinen Lippen hängt. Es ist vornehmlich Cavelty selbst, der nebst all den wunderlichen Abenteuern Franz Klammers – dem Zufallsmord an Jesus Christus, Ausführungen über Templer, Nationalsozialisten und die endgültige Absurdität der Welt – massgeblich das Kolorit der Veranstaltung bestimmt. Kunstgerecht trifft Cavelty all die Höhen und Intonationen des österreichischen Dialekts seiner Figuren, eine humoristische Kulmination überholt die andere, bis – und da huscht nahezu unmerklich ein schelmisches Grienen über Caveltys Gesicht – er bedächtig das letzte Wort seiner Lesung vorliest.

Da zaubert Haller schon seinen nächsten Gag aus dem Hut, oder besser gesagt ein Replikat von Franz Klammers Goldmedaille und überreicht sie dem Autor. Man lacht, Cavelty beisst ins Gold.

(Cavelty im Genuss eines Goldstücks.)

Wie einnehmend Cavelty auch sein kann, dergestalt ernst spricht er auch darüber, was ihn literarisch bewegt. Nonsens sei für Cavelty die höchste Kunst der Literatur: ein «hermetisches Prinzip, das eigentlich besagt, das Obere ist das Untere», führt Cavelty aus. Und auch spezifisch auf seinen Roman bezogen offenbart er dem Publikum, er habe sich seit Langem schon intensiv mit dem «Geist» der Gnosis auseinandergesetzt. Einem festgefahrenen, doktrinistischen System das Gegenteil aufzuzeigen, das sei immerzu Caveltys Drang gewesen.

Franz Klammer sei wahrhaftig ein Idol für Cavelty und sein Buch verlangte nach einem absoluten Siegertyp, es endet ja schliesslich auch im «Totaltriumph von Franz Klammer», verrät uns der Autor. Eine Figur, sagt Cavelty, die ihm zwar am weitesten entfernt ist (er selbst behauptet ja, er sei das Gegenteil eines Sportlers), ist auch die Leitfigur, die ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Franz habe nämlich etwas Unfassbares geschafft – er reduzierte sein Leben auf einen einzigen Satz: «Schifoan und sunst nix».

Das Wort beinhalte, so fabuliert Cavelty achtungsvoll und allmählich raunend, eine Magie, nach der man nicht einfach so greifen kann; das Wort werde lebendig. Und da zeigt sich vielleicht doch eine Parallele zu Franz Klammer, denn wie seinen Skirennfahrer, so interessierte Cavelty auch im Grunde eines. Für ihn ist es die Frage:

«Was befindet sich auf der Rückseite des Wortes?»

Dans les jardins d’Albertine et de Germano Zullo

« On a commencé par être amoureux puis on a réuni nos deux univers » explique Germano Zullo ; deux univers qui fusionnent et portent une idée surgie au milieu d’eux, « comme un troisième personnage ». Leur travail consiste à la servir au mieux, grâce au dialogue maîtrisé entre le texte de Germano et l’image d’Albertine. La co-création se poursuit étape par étape, du scénario à l’illustration, entre indépendance et consultation mutuelle. Ce qui n’empêche pas les imprévus, nuance Albertine : « C’est toujours une surprise. Il doit accepter ma propre image. On se surprend dans la vie mais aussi dans l’art, en tant que créateurs. »
Au centre de leur travail se trouve un processus constant d’adaptation à l’autre. Alors que Germano, plus introspectif, a besoin de temps, il arrive qu’Albertine s’emporte, mue par « l’exaltation du livre, du faire ». Les discussions permettent alors de trouver une voie commune, mais aussi d’équilibrer les approches. Dans l’universalisme de Germano, pour qui « tout est essentiel », les dessins d’Albertine aident à faire le tri. Il s’agit d’encourager l’autre tout en le tempérant, dans l’ambition commune de raconter.
Raconter, certes, mais pas expliquer. Ils ne font pas de pédagogie, « ne jouent pas les démiurges, ne dominent par leur propos ». Albertine et Germano acceptent et revendiquent même le fait qu’une partie du sens leur échappe. Chaque œuvre, phrase ou image ne porte pas de message mais se veut au contraire une proposition à partir de laquelle chacun peut réfléchir et construire du sens. Au public de s’approprier l’art en formulant à la fois les questions et les réponses. Tout s’y prête, au fond. Ce que les personnages vivent est intense, à la fois terriblement singulier et universel : une femme-canon fatiguée des longues marches quotidiennes pour rentrer au bercail, c’est insolite ; mais quoi de plus commun que le sentiment de parler sans être entendu ? On devine la richesse émotionnelle des personnages, bien qu’eux-mêmes se montrent réservés – taiseux, comme on peut l’être en Suisse, précise encore Albertine. Germano et elle ont ce soin des détails qui font naître le rêve.
À écouter le couple, leur pratique artistique est un cheminement vers ce quelque chose qu’ils n’identifient pas. S’ils l’avaient trouvé, d’ailleurs, la quête aurait cessé. L’inspiration se puise dans chaque rencontre, au hasard des rues, avant d’être transposée dans les petits détails qui font l’excellence des dessins d’Albertine ou la force des scénarios de Germano. Dès lors, tous les supports et toutes les thématiques sont propices à l’exploration.
Pour Albertine et Germano Zullo, les journées de Soleure offrent la possibilité d’être présentés en dehors des catégories dans lesquelles on les force trop souvent à entrer et qui ne reflètent pas l’entier de leur œuvre. Ici, pas de tente réservée à la littérature jeunesse, qui les empêcherait d’aborder les autres genres qu’ils pratiquent, notamment ceux destinés aux adultes. C’est donc tous leurs arts qui sont invités, de la bande dessinée à la poésie, en passant par les performances en live et le vernissage de l’exposition « Jardin ».

Agathe Herold et Louise Moulin

À propos des auteurs : en plus de vingt ans et trente livres co-signés, les Genevois Albertine (illustratrice) et Germano Zullo (écrivain) ont su se hisser parmi les figures incontournables de la littérature romande. Ils présentent à Soleure l’adaptation de leur bande dessinée La femme canon en parallèle à l’exposition d’Albertine « Jardin », à découvrir à la Künstlerhaus.

Blumen wachsen aus dem Kopf

Der Platz vor der Aussenbühne Landhausquai füllt sich, Menschen reihen sich in die Sitzreihen ein und bilden stehend weitere Reihen um die bereits bestehenden herum. Gespannt schauen alle in Richtung Rednerpult, noch ist niemand da. Dann kommt sie und liest. Melinda Nadj Abonji trägt aus ihrem neuen Buch Schildkrötensoldat vor.

Sie entführt uns in eine andere Welt – in vielerlei Hinsicht. Einerseits ist es die Welt von Serbien im Jahr 1991. Andererseits ist es die Welt des wunderbar phantasievollen jungen Mannes Zoli, der so gar nicht zum Militärdienst passt, den er absolvieren sollte. Er spricht von seinem Unfall, als er vom Motorrad seines Vaters gefallen ist. In Worten, die nur so sprudeln vor Poesie. Er spricht von Blumen, die aus seiner Wunde im Kopf herauswachsen und die dann plötzlich doch keine Blumen mehr sind, sondern Vögel. Er sieht die Welt auf seine ganz eigene Art. Blumen, Vögel, Farben, alles scheint er stärker wahrzunehmen als seine Mitmenschen, vor allem als seine Eltern.

Die grobe Sprache des Vaters steht im krassen Kontrast zu Zolis feiner Wahrnehmung. Zoli erzählt sehr assoziativ und unruhig. Als ob alles raus müsste, mit einem Schwall. Nadj Abonji betont den Rhythmus dieser drängenden Sprache mit unterstreichenden Handbewegungen auf dem Tisch. Das Publikum ist gebannt. Für zwanzig Minuten sind wir dank Melinda Nadj Abonjis farbenstarken Worten in einer anderen Welt.

Sackgassen oder existenzielle Schleudertraumata

18 Uhr. Das Foyer des Stadttheaters ist zum Bersten gefüllt. Ungeduldig warten die Besucher auf den Einlass. Mit einigen Minuten Verspätung beginnt schliesslich die Lesung von David Signer aus seinem neusten Werk Dead End – so glauben wir zumindest. Was dann aber folgt, ist eine euphorische Lobrede des Moderators Florian Vetsch auf den Autor, die kein Ende zu nehmen scheint. Dabei stellen wir uns die Frage, ob Signer diesen Vorschusslorbeeren gerecht werden kann.

Mit ruhiger Stimme liest Signer Ausschnitte aus drei seiner acht Erzählungen von Dead End vor. Sie alle weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Alle Protagonisten sind männlich, weiss und um die 40 Jahre alt. Durch seltsame Zufälle geraten sie in vertrackte Situationen, aus denen sie nicht wieder herauskommen – Sackgassen, oder auf Englisch Dead Ends. Wer dabei die grosse Tragik erwartet, irrt gewaltig: Die Geschichten triefen vor Humor, der genauso düster ist, wie die Milieus, in denen die Handlungen spielen.

Ein ominöses Erbe wartet darauf, in Empfang genommen zu werden und der Einzige, der dafür in Frage kommt, ist Christian Hartmann, Mathematiker und chronisch misstrauisch. Trotzdem rutscht er Schritt für Schritt in sein Verderben. Dies passiert auch Fred, der ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt unter dem Motto „to have a walk on the wild side“. Die Sinne von Drogen vernebelt, trifft er auf die viel jüngere Juliane und verliebt sich auf Anhieb. In absurden Zufällen glaubt er einen tieferen Sinn zu erkennen. Ihre blauen Augen erinnern ihn an den Bodensee – was für eine glückliche Fügung des Schicksals für den Schweizer! Am nächsten Tag versucht er sie anhand von Erinnerungsfetzen wieder aufzuspüren, wobei er ebenso in sein Verderben rennt, wie Christian Hartmann zuvor.

Der schwarze Humor kommt beim Publikum ebenso gut an wie beim Moderator, der die Augen während der Lesung nicht vom Text lassen und sich vor Lachen kaum halten kann. Zu Recht, denn die beschriebenen Situationen sind in ihrer witzigen Absurdität kaum zu überbieten.

Im anschliessenden Gespräch gesteht Signer seine Vorliebe für amerikanische Literatur. Die deutschsprachige Literatur weise für Signer einen zu grossen Fokus auf die Innerlichkeit auf, während in der amerikanischen Literatur die Figuren in die Handlung herausgeschleudert würden. Letzteres will auch Signer in seinen Texten erreichen. Dies ist ihm gelungen. In Dead End werden die Figuren der Handlung hilflos ausgesetzt, trotz vergeblicher Versuche, diese selbst zu bestimmen. Glaubt man Signers eigenen Worten im Gespräch, erleben die Figuren in Dead End ein „existenzielles Schleudertrauma“.

18:50 Uhr. Die Zeit drängt. Bis um 22 Uhr hätte die Lesung weitergehen können, findet der Moderator. Das finden wir auch.

Simon Härtner und Fabienne Suter

Was bei Dir so läuft

Das Übersetzungsatelier im Gemeinderatssaal wartete am Freitag mit einem eingespielten Tag-Team auf: Die alten WG-Genossen Pedro Lenz und Raphael Urweider, die mittlerweile jeder für sich erfolgreiche literarische Wege gegangen sind, verbindet eine sehr spezielle Übersetzungspraxis, nämlich die von Lenz‘ Oberaargauer Mundart ins Schriftdeutsche. Urweider hat diese Quadratur des Kreises nun bereits zum zweiten Mal zu bewältigen versucht; nach Der Goalie bin ig, aus dem bei Urweider Der Keeper bin ich wurde, wurde in diesem Jahr Di schöni Fanny in die Hochsprache transferiert.

Wie es sich für ein Übersetzungsatelier gehört, lag das Augenmerk vor allem auf den besonderen Schwierigkeiten, die solche Projekte mit sich bringen. Auf den ersten Blick wurden diese vor allem in der «allzu grossen Nähe» der Sprachen, also in einem scheinbaren Mangel an echten Differenzen ausgemacht, die auf den zweiten Blick dann eben doch umso stärker zutage treten. Sowohl Lenz als auch Urweider wussten den Abstand zwischen den Sprachen sehr routiniert wie kenntnisreich zu analysieren und zu kommentieren.

Unterscheiden liessen sich zunächst grammatikalisch-idiomatische, strukturell-narrative und poetische Probleme. Da ist zunächst der dann doch eher triviale Aspekt des Vokabulars und die berndeutsche Adoration der unübersetzbaren Ausdrücke, als deren Stellvertreter etwa der «Stürmisiech» herhalten durfte, von dem es mental dann doch ein eher weiter Weg zum «Schwafler» ist, der ja auch in Jonas Lüschers Kraft fröhliche Urstände feiern durfte. Dass das «Schwafeln» nun gerade eigentlich nicht das ist, was Leute auszeichnet, die in Bern einander des Stürmens bezichtigen, liegt auf der Hand; und so ist auch Lenz‘ Jackpot ja eher kein Grosssprecher, der in die eigene Beredsamkeit verliebt ist, sondern jemand, der da, wo ihm seine eigene Leere entgegenfällt, die Worte hineinstopft. In der hochdeutschen Version sieht man diesen Typus schlichtweg nicht und damit gilt es umzugehen.

Eine weitere Hürde stellte, wie Raphael Urweider ausführte, der durch den Text transportierte Zeithorizont dar. Unmöglich ist es, den Präsens/Perfekt-Modus der Mundart in das ausdifferenzierte Tempussystem des Hochdeutschen zu überführen. Auch hier sind das keine Petitessen, denn während die Mundart eher ein dämmerndes, vielleicht auch halluzinierendes Sprechen ist, in dem alles, was geschehen ist, sowohl abgeschlossen wie noch verhandelbar ist (was man sich erst einmal bewusst machen muss, denn daraus resultiert ein wesentlich entspannteres Verhältnis zu den Dingen), ordnet die Hochsprache rigoros die unabänderlichen von den noch zu verhindernden Ereignissen. Den Bewusstseinszustand der Mundart erreicht das Hochdeutsche somit nie – und umgekehrt; und für Texte, deren Protagonisten – man denke auch an den Goalie – sich unentwegt über ihre Bewusstseinsstände definieren, stellt das eine beachtliche Hypothek dar.

Man kann diese scheinbar oberflächlichen, tatsächlich aber in die Tiefen der erzählten Welten reichenden Differenzen fortspinnen: Sie zeigen sich etwa auch in der Kluft zwischen Mundart und Hochsprache, die Lenz‘ Texte selbst mit Bedeutung aufladen und die sich in der Übersetzung nicht mehr semantisieren lässt. (Wie es auch für das Französische gilt, das für ein deutsches Publikum nur partiell mitverwertet werden kann.) Wie stark sich scheinbar nur kulturell-lexematische Ersetzungen auf basale Strukturen wie die Charakterkonstitution auswirken, bemerkt in der Diskussion Franco Supino: Wenn Lenz‘ Jackpot auf einmal das Lied vom «Vogulisi» in seinen Monolog verwebt, welches einem deutschen Leser unbekannt sein dürfte, dann wird in Urweiders Fassung daraus das doch eher an ältlichen Jugendjargon erinnernde «Hätte, hätte, Fahrradkette». Dem Aussagesinn des betreffenden Absatzes schadet das nur bedingt, denn es geht darum, die das eigentliche Ereignis umkreisende Rede lapidar abzuschliessen, was bei Lenz mit einem Hinweis auf das nicht besuchte Berner Oberland, bei Urweider mit der Aussage «Fahrrad fahre ich sowieso nicht» erfolgt. Allerdings geht es in der Passage weniger um den Aussagesinn als um die Performance der Abschweifung, für die sich der Protagonist auch sogleich entschuldigt: eine Abschweifung, die man ihm jedoch nur in der Mundartfassung anlasten kann, weil sich aus der Fahrradkette eben kein Lied machen lässt.

Grundsätzlich bleibt zu konstatieren – auch wenn es nie ausgesprochen wurde -, dass man es hier eigentlich mit einem ontologischen Problem zu tun hat, das sich stilistisch äussert. Die Mundart scheint immer «zuviel» zu sein: Immer wieder kürzen und streichen müsse man bei den Wortwiederholungen, dem gedoppelten «ig», den Füllseln, der Emphase des Sprachstroms, führte Urweider aus. Dass das keinesfalls nur eine Stilfrage ist, sondern an den Kern des Problems rührt, liess sich erahnen, wenn man Original und Übersetzung nebeneinander hielt: Die Mundart erwies sich in ihrer Inszenierung eigentlich immer als Zitat, als eine Montage und Kombination von Sentenzen. Im Grunde bewegt man sich dort immer in einem style indirect libre, der die Sprecherinstanzen von vornherein verunklärt. Stets reden sie im Modus von anderen, rezitieren, wiederholen sich selber und kommentieren das Wiederholte durch weitere Wiederholungen, machen Vergangenes präsent, Fremdes sich zu eigen und das Eigene fremd. Das Nachdenken darüber, «was by Dir so louft», führt da immer schon den Gedanken an einen möglichen, lustvollen Wechsel der Identität, des Lebens, der Schallplatte mit sich, eine gefährliche Neugier, die einen am Ärmel in die Maschine zieht. «Was bei Dir so läuft» – das ist hingegen der Sound eines Milieus, das seinen Ort in den bundesdeutschen 90ern hat und in dem dieser Satz vor allem eine pubertäre Coolness, mithin das Gegenteil von Empathie ausdrückte. Die Meisterschaft von Pedro Lenz besteht genau genommen darin, dass er aus diesem Materialspiel heraus immer wieder Trouvailles, Effekte des Neuen zu zaubern vermag. Das Hochdeutsche kann ihm in diesen Momenten nicht folgen – sondern wirkt in seinen Bemühungen dann äuä scho cheesy.

„When you say X, the bot says Y“

Prolog

Definition Chatbot: Ein textbasiertes, autonomes Computerprogramm, das für Dialoge und Chatinteraktionen konzipiert wurde.

Definition Turingtest: Ein von Alan M. Turing entwickelter Test, der entscheiden soll, ob eine Maschine dem Menschen intellektuell ebenbürtig sei. Gelingt es der Maschine (bzw. Programm) den Menschen zu überzeugen, sie sei keine Maschine, gilt der Turingtest als bestanden.

Definition Eastereggs: Besondere Botschaften, Interaktionen und Meldungen, die von Designern und Programmierern in ihren Computerprogrammen versteckt wurden.

Die Reise beginnt – Chatbots und ihre Figurenzeichnung

Nur langsam trudeln die letzten Besucher in den schwach beleuchteten Seminarraum des Zukunftsateliers ein, als die Türen geschlossen werden und sich alle Blicke nach vorne richten, während das Geflüster abklingt. Der Raum ist mehrheitlich weiss, gar steril und vor allem verheissungsvoll modern; einzig die Backsteinwand wispert von vergangenen Tagen des alten Landhausgebäudes. Noch ahnt man nichts. Der Moderator Roland Fischer begrüsst heute zwei der erfolgreichsten Chatbotdesigner – Jacqueline Feldman und Steve Worswick.

So verwundert es nicht, dass der Einstieg unkonventionell und somit erfrischend ausfällt. Man beginnt prompt mit einer Skype-Direktübertragung. Marione Sardone, die Hauptverantwortliche für die Microsoft-Sprachassistentin Cortana Deutschland befindet sich am Ende der Leitung. Cortana sei kein Bot, stellt Sardone als Erstes klar, bei Microsoft nenne man sie «Digitale Assistentin». Die Kontinuität im Verhalten sei das oberste Gebot bei der Programmierung. Direkt spricht sie von Charakterzügen der Assistentin. So dürfe sie nicht kumpelhaft sein oder anzügliche Witze vorbringen, vielmehr müsse sie konstant in der User-Interaktion sein und angenehm: «Es ist eine vertrauensbildende Massnahme», so Sardone.

So weit, so gut. Doch nun schreiten wir durch die Pforten der Paradoxie und erfahren, dass Cortana noch einen Schritt weitergeht. In ihrem Design wurden echte Menschen zum Vorbild genommen. Ihr Charakter besteht aus vier Kerneigenschaften, nennen wir sie die vier Tugenden: Hilfsbereitschaft, Neutralität, positive Einstellung und Transparenz. Auf gar keinen Fall jedoch dürfe sie einen Menschen simulieren. Letztendlich sei Cortana eine helfende künstliche Intelligenz (AI) mit einem differenzierten kulturellen Verhalten. Eine japanische Cortana unterscheide sich somit von einer brasilianischen, unterstreicht Sardone.

Nicht menschlich, jedoch mit Persönlichkeit – so lautet also kurz die Devise. Und um ja keine «Sympathiepunkte» zu verlieren, darf Cortana auch auf die Frage «Soll ich duschen?» hin keine Antwort verweigern. Wahrlich, menschlich ist Cortana nicht.

Genderless is the new black

Gegen menschliche Chatbots entschied sich auch die junge New-Yorkerin Jacqueline Feldman, die unter anderem als Autorin, Journalistin, Übersetzerin und Chatbotdesignerin tätig ist. In ihrer jüngsten Arbeit entwickelte und skriptete sie (d.h. erstellte Dialoge) innerhalb von vier Monaten KAI, einen Bot für «consumer banking tasks». Während der Botentwicklung untersuchte Feldman die Sprachassistentin Amazon Alexa in ihrem Interaktionsverhalten und kam zum Schluss, Alexa sei «sublime, latent christian and feminine». Für Feldman schlicht nicht vertretbar. Ihre Lösung war ein «genderless» bot, der sich als «it» bezeichnet. In englischer Sprache überzeugend, in der deutschen könnte man «es» überdenken.

Der literarische Hintergrund Feldmans ermöglichte es ihr schliesslich, eine «botlike» Persönlichkeit des Bots zu entwerfen, der sich seiner Roboternatur bewusst ist und stets auf diese verweist. Er ist textbasiert und ein Sammelsurium menschlicher Idiome. Stellt der User themenabweichende Fragen, so entstehen Dialoge, die man als «Eastereggs» bezeichnen kann:

Human: «Do you ever sleep?»

KAI: «This does not compute, as the humans say.»

….

KAI: «My knowledge is specific, not general. What’s the best banking question?»

(KAI ist zu finden unter: https://kasisto.com/kai/)

Ist Skynet schon Realität? Nicht wirklich.

Als Letztes wird Steve Worswick vorgestellt, der Schöper des Chatbots Mitsuku. Worswick ist ehemaliger Technomusik-Produzent und wurde im Jahr 2005 von Mousebraker angestellt, den Chatbot Mitsuku zu programmieren. Ihm allein gelang es im Ein-Mann-Job, sich von Bots wie Alexa oder Cortana abzusetzen. Mit seinem Chatbot gewann Worswik drei Mal den Loebnerpreis, denn Mitsuku war in der Lage, den Turingtest zu bestehen.

(Entwicklung von Mitsuku seit 2005. Mitsuku ist zu finden unter: www.pandorabots.com)

Gleichwohl sind Worswicks Worte ernüchternd und zerstören das Spiegelkabinett der Technologie-Idealisierung – der Mensch erwarte, mit C3P0 zu sprechen, doch die Technologie sei schlicht noch nicht da. Ein Chatbot sei nichts anderes als: «When you say X, the bot says Y», klärt Worswick auf. Bis heute, also 13 Jahre später, erweitert Worswick lediglich den Sprachkorpus des Chatbots, die Software sei nämlich immer noch dieselbe. Trotz allem unterstelle ihm seine Frau heute noch im Jux, er verbringe mehr Zeit mit Mitsuku als mit ihr.

Fazit

Die Chatbotdesigner Feldman und Worswick sind sich einig, Chatbots sind mehr Literatur als ein einfaches Programm. Mit der Zeit wohnt ihnen eine Persönlichkeit inne, die sich durch «Glitches» und abweichende Antworten bemerkbar macht. Und um nochmals alle Verschwörungstheoretiker zu beruhigen: Eine «super intelligence» hat man heute noch nicht zu befürchten. Diese Zukunft liegt noch fern.

„Die Dinge, die mich umgeben.“ – Anja Kampmann und Thilo Krause im Gespräch

Naturlyrik. Der schlichte Veranstaltungstitel hält, was er verspricht und scheint im ersten Moment das Klischee einer verstaubten Gattung zu bestätigen: Beim Betreten des Säulensaals fühlen wir uns sehr jung.

Das Gespräch beginnt mit einer theoretischen Verortung: Anja Kampmann beschreibt Naturlyrik als Auseinandersetzung mit der sinnlich erfahrbaren, vielschichtig gemachten Welt. Thilo Krause, ganz unironisch als „Lyriker und Wirtschaftsingenieur“ vorgestellt, antwortet auf die Frage nach einer Begriffsbestimmung der Naturlyrik mit einem Abriss der ganzen Tradition und bemängelt im Scherz die Kürze des Wikipedia-Eintrags dazu, den er zur Vorbereitung auf das Gespräch konsultiert habe.

Die Veranstaltung soll dem Eindruck des Altbackenen trotzen, der dem Genre anhaftet. Naturlyrik müsse eben nicht eskapistisch sein. Wir verbrächten ohnehin den Grossteil unserer Zeit in menschgemachten Landschaften. Lyrik über solche könne gerade zeit- und ortsspezifische Ordnungen von einer konkreten, sinnlichen Erfahrung her reflektieren. Was findet also heute in der Naturlyrik alles Platz? Vieles. Und eben nicht nur Natur, zumindest nicht im engen Sinn. In Kampmanns und Krauses vorgetragenen Gedichten werden keine blühenden Schäfchenwiesen beschrieben, sondern der Great Pacific Garbage Patch – ein Abfallfeld im Pazifik so gross wie Eurasien – und Tauben, die unter Autobahnbrücken nisten.

Das Prinzip des Gesprächs, die Autoren Gedichte des jeweils anderen auswählen und kommentieren zu lassen, hätte Potential, erweist sich aber in diesem Fall als etwas repetitiv. Beider Gedichte sind mit einem aufmerksamen Blick für das häufig nur beiläufig Registrierte der alltäglichen Umwelt geschrieben. Sie sind aber wegen ihrer sprachlichen Dichte auch sperrig, und wenn man sie – im Gegensatz zu den Vortragenden – nicht ohnehin schon kennt, fühlt man sich, als belausche man nur zufällig eine Diskussion unter Freunden, der man nur halb folgen kann.

Das Ping-Pong-Spiel von Lesen und Kommentieren kommt zu einem Ende, als Anja Kampmann kurz vor Ablauf der Zeit den „Gleichstand“ verkündet. Unser Fazit fällt durchzogen aus: Die Texte haben gezeigt, dass die Gattung auch im Zeitalter von Umweltproblemen durchaus noch Relevanz hat, über das passende Format zur Vermittlung dieser lässt sich streiten.

Simon Härtner, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg

„Every sentence can be a sentence.“

„Jeder Satz kann ein Urteil sein“, gibt Melinda Nadj Abonji am Diskussionspodium im Solothurner Landhaussaal zu bedenken. Thema der Diskussion: „Die Balkan-Kriege – Wie geht die Literatur damit um?“ Einigkeit besteht unter den Podiumsteilnehmenden schnell darin, dass ein dokumentarischer Zugang zum Scheitern verurteilt ist, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen:

Robert Possner, der aus dem Tirol stammt, hatte zu Beginn gar keinen persönlichen Bezug zu den Jugoslawien-Kriegen. Diesen musste er für sein Buchprojekt Phantome zunächst durch Reisen, ausführliche Interviews und Recherchen erarbeiten. Seine Anekdoten lassen durchblicken, dass es selbst als Unbeteiligter kaum möglich ist, im Angesicht dieser Ereignisse eine emotionale Distanz zu wahren.

Ganz anders liegen die Dinge bei Jeton Neziraj, dessen schriftstellerische Tätigkeit durch das Schreiben von propagandistischen Texten im Dienste der kosovarischen Armee ihren Anfang nahm. Als unmittelbar Betroffener besteht die Herausforderung für ihn darin, die Distanz zum Geschehen zu gewinnen, die für klischeefreies, multiperspektivisches Schreiben notwendig ist. Das ermöglicht ihm eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema, obwohl er heute noch mit Morddrohungen von Nationalisten zu kämpfen hat.

Melinda Nadj Abonji nimmt in gewisser Hinsicht eine Zwischenposition in dieser Konstellation ein. Als in der Schweiz lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in der Vojvodina nahm sie durch Berichte von Verwandten und Medien Anteil am Kriegsgeschehen. Damalige deutschsprachige Pressestimmen haben ihrer Meinung nach aber gerade wegen distanzloser Übernahme unreflektierter Schlagwörter vor dem Kriegsgeschehen versagt. Entsprechend warf sie die Frage ein, wie man überhaupt über den Krieg berichten könne ohne die Anmassung, über das Geschehen verfügen zu können. Die Sätze sollen eben keine Urteile sein.

Was kann die Literatur also leisten? Ihr Potential als Erziehung wird zwar bezweifelt – „We never learn“, sagt Jeton Neziraj. Dennoch geht Melinda Nadj Abonji davon aus, dass die Literatur Utopien aufzeigen kann.

Angesichts dieser sehr verschiedenen literarischen und biografischen Perspektiven ist es schade, dass es im Verlauf der Diskussion zu erstaunlich wenig Interaktion kam. Auch die Texte wurden gegenseitig kaum kommentiert. Die Zugänge schienen eher nebeneinander zu existieren, nur gelegentlich fanden Wortwechsel zwischen den Autor_innen selbst statt. Fazit: Obwohl die Frage im Veranstaltungstitel erwartungsgemäss nicht abschliessend beantwortet wurde, erhielt das Publikum Einblick die Rolle der Literatur im Kontext von Brutalität, Gewalt und der „Militarisierung der Köpfe“.

Mia Jenni, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg, Fabienne Suter

Flaniermeile – Färöer-Inseln 1:0

Wie unpassend die Szenerie einer Kurzlesung doch sein kann. Die Solothurner Sonne lässt das Publikum vor der Aussenbühne am Landhausquai schwitzen. Verena Stössinger jedoch liest in ihrem Roman Die Gespenstersammlerin von einem kalten Ort. Von Astrid nämlich, die sich für eine Auszeit in den hohen Norden zurückgezogen hat, wo Nebel, Kälte und Dunkelheit die Szenerie bestimmen.

Astrid sammelt Geschichten. Geschichten von Trollen, Meerfrauen und Selbstmördern, die sich in Seehunde verwandeln. Sie will diese Sagen in einem Buch vereinen, deshalb hat sich in einem historischen Haus auf den Färöer-Inseln eingenistet. Auf die Gespenster und ihre Sagen, die im Roman immer wieder auftauchen, wartet man bei Stössingers Lesung jedoch vergeblich. Sie liest den Romananfang, der zwar Einblick gewährt in ihren feinen, unaufdringlichen und atmosphärischen Schreibstil, mit dem es ihr aber nicht gelingt, das Publikum zu fesseln, das zahlreich erschienen ist.

Vielleicht ist die lebendige Altstadtgasse, an der sich Festivalbesucher wie Einheimische tummeln und für einen Geräuschpegel sorgen, bei dem Stössingers leise Stimme fast untergeht, der falsche Ort für einen ersten Eindruck. Die Lesung im Stadttheater am Samstag um 10.00 Uhr wäre womöglich eine bessere Möglichkeit, diese Autorin und ihren gelungenen Roman kennenzulernen …

 

Gefiederte Delphine

Ein Läufer sei der Lyriker, meint Moderator Florian Vetsch, und ja: Man sieht das Levin Westermann bei der morgendlichen Lesung auch durchaus an. Überpräsent sind die leuchtenden Laufschuhe unter dem Tisch, aber es gibt hier keinen Bruch zwischen Körper und Wort. Das Laufen nämlich, so stellt sich im Gespräch heraus, ist die Grundlage von Westermanns Lyrik. Im Laufen, am Fuss des Jura, filtern sich ihm die Textstellen heraus, die im Gedächtnis bleiben, die fremden wie die eigenen; im Durchgang durch die Natur zeigt sich dem Lyriker die Zeit als formatives Element. (Und durch diesen Duchgang angeheizt wurde es metaphorisch dann doch einmal wild, als Vetsch in Westermanns «Exerzitien der Krähen» «gefiederte Delphine» zu entdecken hoffte.)

Die divergenten Konzeptionen von Zeit – zehn an der Zahl – bilden das Gerüst des Tschechow-Zyklus, den Westermann in Solothurn liest und der sich in seinem Gedichtband 3511 Zwetajewa findet, den das «Buchjahr» im vergangenen Jahr bereits extensiv besprochen hat. Zeit ist ihm der Prüfstein des Literarischen; Literatur, so führt er aus, vermag «die Grenzen der Zeit in einem Gespräch zu überschreiten» – ganz konkret die Grenzen zwischen einem in Biel ansässigen Autor der Gegenwart und einer 1941 in Jelabuga in den Freitod gegangenen Lyrikerin, deren Sätze den Kern des dritten Teils des Buches bilden. Dass die Kritik bemängelte, neben Zwetjewas Prosa kämen «die daran angelagerten Textpartien des Autors kaum zur Geltung», will Westermann so nicht gelten lassen. Für ihn ist Dichtung keine Frage von Erfindung, sondern eben von «Verdichtung»: Die vergangenen Stimmen mit der eigenen zu verweben, darum geht es – und eben hierin wird die Lyrik dann eben auch zur Trauerrede, zum Dokument eines die Zeit überdauernden Bewusstseins. Der Gehalt von Westermanns Texten ist, schön ist das formuliert, der des «Palimpsestes»: unsere eigene kurzlebige Existenz vor dem Hintergrund einer Landschaft, die immer gleich bleibt.