„Die Dinge, die mich umgeben.“ – Anja Kampmann und Thilo Krause im Gespräch

Naturlyrik. Der schlichte Veranstaltungstitel hält, was er verspricht und scheint im ersten Moment das Klischee einer verstaubten Gattung zu bestätigen: Beim Betreten des Säulensaals fühlen wir uns sehr jung.

Das Gespräch beginnt mit einer theoretischen Verortung: Anja Kampmann beschreibt Naturlyrik als Auseinandersetzung mit der sinnlich erfahrbaren, vielschichtig gemachten Welt. Thilo Krause, ganz unironisch als „Lyriker und Wirtschaftsingenieur“ vorgestellt, antwortet auf die Frage nach einer Begriffsbestimmung der Naturlyrik mit einem Abriss der ganzen Tradition und bemängelt im Scherz die Kürze des Wikipedia-Eintrags dazu, den er zur Vorbereitung auf das Gespräch konsultiert habe.

Die Veranstaltung soll dem Eindruck des Altbackenen trotzen, der dem Genre anhaftet. Naturlyrik müsse eben nicht eskapistisch sein. Wir verbrächten ohnehin den Grossteil unserer Zeit in menschgemachten Landschaften. Lyrik über solche könne gerade zeit- und ortsspezifische Ordnungen von einer konkreten, sinnlichen Erfahrung her reflektieren. Was findet also heute in der Naturlyrik alles Platz? Vieles. Und eben nicht nur Natur, zumindest nicht im engen Sinn. In Kampmanns und Krauses vorgetragenen Gedichten werden keine blühenden Schäfchenwiesen beschrieben, sondern der Great Pacific Garbage Patch – ein Abfallfeld im Pazifik so gross wie Eurasien – und Tauben, die unter Autobahnbrücken nisten.

Das Prinzip des Gesprächs, die Autoren Gedichte des jeweils anderen auswählen und kommentieren zu lassen, hätte Potential, erweist sich aber in diesem Fall als etwas repetitiv. Beider Gedichte sind mit einem aufmerksamen Blick für das häufig nur beiläufig Registrierte der alltäglichen Umwelt geschrieben. Sie sind aber wegen ihrer sprachlichen Dichte auch sperrig, und wenn man sie – im Gegensatz zu den Vortragenden – nicht ohnehin schon kennt, fühlt man sich, als belausche man nur zufällig eine Diskussion unter Freunden, der man nur halb folgen kann.

Das Ping-Pong-Spiel von Lesen und Kommentieren kommt zu einem Ende, als Anja Kampmann kurz vor Ablauf der Zeit den „Gleichstand“ verkündet. Unser Fazit fällt durchzogen aus: Die Texte haben gezeigt, dass die Gattung auch im Zeitalter von Umweltproblemen durchaus noch Relevanz hat, über das passende Format zur Vermittlung dieser lässt sich streiten.

Simon Härtner, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg

„Every sentence can be a sentence.“

„Jeder Satz kann ein Urteil sein“, gibt Melinda Nadj Abonji am Diskussionspodium im Solothurner Landhaussaal zu bedenken. Thema der Diskussion: „Die Balkan-Kriege – Wie geht die Literatur damit um?“ Einigkeit besteht unter den Podiumsteilnehmenden schnell darin, dass ein dokumentarischer Zugang zum Scheitern verurteilt ist, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen:

Robert Possner, der aus dem Tirol stammt, hatte zu Beginn gar keinen persönlichen Bezug zu den Jugoslawien-Kriegen. Diesen musste er für sein Buchprojekt Phantome zunächst durch Reisen, ausführliche Interviews und Recherchen erarbeiten. Seine Anekdoten lassen durchblicken, dass es selbst als Unbeteiligter kaum möglich ist, im Angesicht dieser Ereignisse eine emotionale Distanz zu wahren.

Ganz anders liegen die Dinge bei Jeton Neziraj, dessen schriftstellerische Tätigkeit durch das Schreiben von propagandistischen Texten im Dienste der kosovarischen Armee ihren Anfang nahm. Als unmittelbar Betroffener besteht die Herausforderung für ihn darin, die Distanz zum Geschehen zu gewinnen, die für klischeefreies, multiperspektivisches Schreiben notwendig ist. Das ermöglicht ihm eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema, obwohl er heute noch mit Morddrohungen von Nationalisten zu kämpfen hat.

Melinda Nadj Abonji nimmt in gewisser Hinsicht eine Zwischenposition in dieser Konstellation ein. Als in der Schweiz lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in der Vojvodina nahm sie durch Berichte von Verwandten und Medien Anteil am Kriegsgeschehen. Damalige deutschsprachige Pressestimmen haben ihrer Meinung nach aber gerade wegen distanzloser Übernahme unreflektierter Schlagwörter vor dem Kriegsgeschehen versagt. Entsprechend warf sie die Frage ein, wie man überhaupt über den Krieg berichten könne ohne die Anmassung, über das Geschehen verfügen zu können. Die Sätze sollen eben keine Urteile sein.

Was kann die Literatur also leisten? Ihr Potential als Erziehung wird zwar bezweifelt – „We never learn“, sagt Jeton Neziraj. Dennoch geht Melinda Nadj Abonji davon aus, dass die Literatur Utopien aufzeigen kann.

Angesichts dieser sehr verschiedenen literarischen und biografischen Perspektiven ist es schade, dass es im Verlauf der Diskussion zu erstaunlich wenig Interaktion kam. Auch die Texte wurden gegenseitig kaum kommentiert. Die Zugänge schienen eher nebeneinander zu existieren, nur gelegentlich fanden Wortwechsel zwischen den Autor_innen selbst statt. Fazit: Obwohl die Frage im Veranstaltungstitel erwartungsgemäss nicht abschliessend beantwortet wurde, erhielt das Publikum Einblick die Rolle der Literatur im Kontext von Brutalität, Gewalt und der „Militarisierung der Köpfe“.

Mia Jenni, Marco Neuhaus, Julia Sjöberg, Fabienne Suter