Eine Geschichte zwischen Narration und bildender Kunst

Etwas verwirrt stehe ich im Eingangsbereich des Collab, einem hippen Modeladen beim Kulturpark Zürich. «Entschuldigung, wo befindet sich denn die Ausstellung Ada + Eva?», frage ich eine Verkäuferin. Hinter ansprechend präsentierten Kleidungsstücken, Schmuck und Handyhüllen stossen ich und meine Begleitung auf einzeln präsentierte Bilder aus der textlosen Publikation der Berner Künstlerin Laura D`Arcangelo. Mitten im farbig ausgestalteten Laden fügen sie sich als erwerbbare Plakate perfekt ein – vielleicht ein bisschen zu gut?

Die liebevoll gestalteten Bilder erzählen die Geschichte zweier Frauen, die sich im Paradies kennenlernen und verlieben – kommen aber zwischen den Kleidern und diversen anderen ausgelegten Kurzgeschichten auf dem Büchertisch kaum zur Geltung. Auch die übergrossen Adaptionen aus Pappe, die in den Schaufenstern von der Strasse aus gut sichtbar sind, werden nur von aufmerksamen Passant*innen mit dem kleinen Büchlein in Verbindung gebracht. Und was haben die farbigen Zältli in dieser Szenerie zu suchen?

Auffällig ist auch, dass die kleineren Bilder nicht chronologisch aufgehängt sind und die Narration somit fast gänzlich verloren geht. Wäre nicht genau das der Kern ihres Schaffens? Eine Erzählung ganz ohne Text, welche nur aus der Abfolge ihrer Bilder lesbar wird? Die Ausstellung lädt jedoch mehr dazu ein, die einzelnen Bilder als alleinstehende Kunstwerke oder als Einrichtungsgegenstände zu betrachten. Ein durchaus legitimer Ansatz, auch wenn es die kurze Handlung durchaus wert wäre, in Form einer Ausstellung erzählt zu werden. Schliesslich handelt es sich um eine originelle Überschreibung der Anfangsgeschichte der Menschheit, kein Mann ist der erste Mensch, aus dessen Rippe die Frau geschaffen wird. Es sind zwei Frauen, die sich im exotisch anmutenden Wald erblicken, verlieben und ein gemeinsames Leben beginnen.

Was wäre, wenn der Beginn der Menschheit weiblich wäre? Eine Frau, die eine andere Frau liebt, ist in diesem Szenario das Natürlichste auf der Welt, sie gehört zur Menschheitsgeschichte dazu. Auch gibt es hier keinen Sündenfall, nur tragische Wendungen wie der Tod, welcher die Natur bereithält.

Wer diese leise Geschichte über ein homosexuelles Empowerment in Ruhe anschauen möchte, kann das Büchlein auch vor Ort durchblättern oder kaufen. Und einzelne Auszüge auf den Plakaten oder im Schaufenster auf sich wirken lassen. Aussergewöhnlich ist die Ausstellungsweise im Ladenfenster auf jeden Fall.  

Entgrenzende Wortkunst mit Eva Maria Leuenberger

Das kann auch nur in dieser besonderen Zeit passieren: Ich gehe mit meiner Maske vorm Gesicht und einem Aperitif in der Hand zur Lesung im Erkerzimmer im Zentrum Karl, nehme Platz – als meine Sitznachbarin aufsteht und sich als Autorin des Lyrikbandes dekarnation entpuppt, aus dem heute Abend gelesen wird. Ohne ihre rote Mähne vom Buchcover und mit Maske hatte ich Eva Maria Leuenberger gar nicht erkannt.

Auch die ersten Worte des Abends gelten diesen besonderen Umständen, indem sich die Organisatorin des St. Galler Literaturfestivals «Wortlaut» herzlichst bei «Zürich liest» bedankt. Eva Maria Leuenbergers Lesung ist eine von zwei Veranstaltungen, die nach der abgesagten Frühlingssaison im Rahmen des Zürcher Literaturfestivals doch noch ihren Weg auf die Bühne finden.

Der Abend beginnt so zugänglich und entspannt, wie er begonnen hat. Ohne Mikrofon liest die junge Lyrikerin in intimem Rahmen abwechselnd zwei Teile aus ihrem Erstlingswerk vor und äussert sich im Gespräch mit Gallus Frei-Tomic zu ihrer Wortkunst. Ihre klare, ruhige Stimme entblösst eine stimmungsvolle Szenerie im Wald, zuerst im Tal, dann in der Schlucht, die so verletzlich wie erbarmungslos daherkommt. Trotz der zahlreichen Naturmotive grenzt sich Eva Maria von der klassischen Landschaftslyrik und der ihr inhärenten Distanz ab. Im Gegenteil: es geht ihr gerade um den direkten Kontakt von Körper und Umgebung.

Schicht um Schicht trägt ihre Lyrik vom Vorhandenen ab, gräbt immer tiefer, nach einem Sinn, einem Kern. Diese Suche trägt die Künstlerin immer weiter, sodass ihre Gedichte gleichzeitig auch als ein Gesamtkunstwerk zu lesen sind, welches im Grunde die Grenze der Lyrik zum Romanhaften sprengt. Immer wiederkehrende Motive verdichten sich und entgrenzen gleichzeitig ihren Sinn in unterschiedliche Richtungen. Das Ich im ersten Teil wird im dritten zu einem Du, welches sich in seiner Umgebung gespiegelt wiederfindet.

Ihr Gesprächspartner zeigt uns Zuhörenden, wie diese Ausdehnung der lyrischen Instanz auch graphisch abgebildet ist, indem sich die anfänglichen Blocksätze je länger je mehr in Wortfetzen über die Seite bewegen. Die Stille, die Störungen zwischen den Wörtern sind der Lyrikerin genauso wichtig wie das Wort selbst, meint sie. Gleichzeitig ist es ein multivokales Werk, in dem sich die englischsprachigen Stimmen unterschiedlichster Dichterinnen wie Beth Bachmann und Christina Davis mit ihrer Lyrik verbinden, sich gegenseitig umtänzeln, ergänzen und hinterfragen.

Als ich den Karl der Grosse verlasse, lächle ich mit Blick auf die Hausfassade, an der der Name gerade so passend mit «Karla die Grosse» überschrieben wurde. Heute war ein Abend der weiblichen Ausdruckskraft.

Für uns bei «Zürich liest»:
Mirjam Rusterholz

Wenn man im Jahr 2020 schon nicht gut verreisen kann, dann lasst uns in diesem Herbst wenigstens unseren Geist schweifen. Zum ersten Mal bei «Zürich liest» mit dabei, freut sich Mirjam, Literatur nicht nur mit den Augen, sondern mit allen Sinnen erleben zu dürfen. Angeregte Literaturgespräche und bildnerische Auseinandersetzungen mit dem geschriebenen Wort lassen erkennen, wie vielfältig, kritisch und gesellig Literatur sein kann.

Um diese Erfahrung für alle Interessierten einzufangen, wagt sich Mirjam hinter den Bücherbergen aus ihrem Literaturstudium an der UZH und ihrer Arbeit als Bibliothekarin hervor und begibt sich mit viel Vorfreude auf literarisch-journalistische Spurensuche in der Stadt Zürich.