Die Lyrik ins Weltall krähen

Von Joëlle Bischof und Silvan Preisig

Pagenschnitt, Brille, eher grau, so sehen die vielen Köpfe aus im Publikum vor uns. Das Licht scheint schüchtern von links auf den Boden aus Holzklötzen. Smooth-Jazz kommt aus den Boxen. Die Bühne wird gerahmt von zwei massiven Steinsäulen. Alles schön alt. Kaum vorstellbar, dass in diesem genormten, netten Ambiente gleich über Entgrenzung und Kannibalismus gesprochen wird.

«Auch als Romanautorin ist Lioba Happel Lyrikerin», heisst es in der Einleitung zur Lesung und Gespräch von Happel, die ihr neues Buch «Pommfritz aus der Hölle» vorstellt. Lioba Happel arbeitete lange Zeit als Sozialarbeiterin und lernte dabei einen aasgewöhnlichen Jungen kennen. Eines Tages kam er zu ihr, mit einem Text von Trakl in der Hand und meinte: «Das verstehe ich». Happel, im ersten Moment verblüfft, schenkte dem Buben ein Exemplar von Arthur Rimbauds Gedichten. Diese Begegnung diente ihr als Vorlage für die Hauptfigur des Romans: Pomelius Fridericus, genannt Pommfritz. 

Das Höchste mit dem Niedrigsten verbinden. Diesen Ansatz teilen Rimbaud, Verlaine und andere Dichter der frühen Moderne mit dem Roman «Pommfritz aus der Hölle». Pommfritz ist ein Ausgestossener der Gesellschaft. Mit dem Entschluss, die Mutter zu töten und zu essen, bricht er mit der Welt des Menschlichen. Er begibt sich, wie er selbst sagt, in die Sphäre des Nichtmehrbegreifbaren. Auf die Frage hin, wie Pommfritz zu seiner Sprache gefunden hat, sagt Happel, dass Pommfritz durch seine Omi zum Schwadronieren gefunden hat und durch Rimbaud zum Lesen. Fortan verschlingt er Bücher, wie die Mutter ihre Pommes Frites. Das Schreiben und Lesen dient dabei der Selbstermächtigung. In diesen Momenten ist Pommfritz gottgleicher Schöpfer. Doch das Schreiben eröffnet die Selbstreflexion des Ich-Erzählers und schafft so die Ebene, um für seine Taten Reue zu empfinden. 

Happel erzählt dynamisch. Lange Pausen unterbrechen die lauten und schnellen Passagen. Das passt zur wütenden Pommfritz-Sprache: unerwartet, frech und doch poetisch. Leider steht sie so im Kontrast zur Sprechweise der Moderatorin Martina Kuoni. Man spürt wenig Begeisterung, dafür ihre Nervosität. Das Publikum hört trotzdem artig zu. Kaum ein Geräusch stört die Veranstaltung, einzig der Witz, die Ironie, die dieser Text hat, will nicht recht auf die Zuhörer*innen überspringen. 

Die Vision entsteht in der Bewegung

Seit Sommer 2020 hat sich das Leben der belarussischen Gesellschaft eminent gewandelt: Unter den Brutalitäten des diktatorischen Regimes leiden seither Millionen Menschen, die gefangen, gefoltert oder bedroht werden. Die Philosophin Olga Shparaga ist eine von ihnen. Nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis im Oktober 2020 floh die gebürtige Belarussin ins Exil nach Berlin. Heute berichtet sie über ihre Erlebnisse und die politische Lage in Belarus.

Obwohl Alexander Lukaschenko 2020 bereits seit 26 Jahren Machthaber in Belarus war, begannen die Proteste gegen ihn erst vor den Wahlen 2020. In ihrem 2021 erschienenen Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus beschreibt Olga Shparaga unter anderem die Gründe für diesen drastischen Umbruch 2020. In den Jahrzehnten davor herrschte eine Art stillschweigender Vertrag zwischen der belarussischen Bevölkerung und ihrem Präsidenten. Lukaschenko, der sich als Nachfolger des Sowjet-Systems versteht, garantierte seiner Bevölkerung die Sicherstellung ihrer Rechte und verlangte dafür deren Unterstützung. 2020 schoss sich der selbstsichere Lukaschenko jedoch selbst ins Bein: Wie Olga Shparaga berichtet, hat er seine Bürger*innen während der Corona-Pandemie alleine gelassen. Einige Jahre zuvor hatte er bereits das Gesetz gegen häusliche Gewalt klar abgelehnt und die Frauen aus der Verfassung ausgeschlossen. Für Olga Shparaga und viele andere Frauen in Belarus war das eine klare Ansage, sich gegen den patriarchalen Diktator zu wehren. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen 2020 wurden bei den Protesten mehr als 6’000 Menschen festgenommen, überwiegend Männer. Dadurch etablierten sich Frauenbewegungen, die für eine Welle der Solidarität sorgten und zu friedlichen Protesten für Demokratie und Freiheit führten.

Teil dieser Proteste war auch Olga Shparaga. Wie viele andere Frauen setzt sie sich in feministischen Kollektiven für Freiheit und Gleichberechtigung ein. Für ihren Einsatz musste sie eine 15-tägige Gefängnisstrafe absitzen. Nach der Freilassung im Oktober 2020 schrieb sie innerhalb von drei Monaten Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Darin widmet sie sich ihren Erlebnissen inmitten dieser konfliktreichen Zeit.

Shparagas Buch verweist nicht nur auf die Konflikte und Brutalitäten in Belarus, sondern auch auf den Krieg in der Ukraine. Wie sie selbst sagt, stellt dieser die belarussische Bevölkerung vor neue Herausforderungen. Trotz der schwierigen Lage für viele Belaruss*innen setzen sich diese nun auch solidarisch für die ukrainische Bevölkerung ein. Olga Shparaga macht darauf aufmerksam, dass man nicht auf die Veränderung verzichten soll, sondern jede*r dafür etwas tun kann.

Von belämmerten Wölfen und an Pflaumen klebenden Zungen

Die Sprache, ein Protagonist – das gilt sowohl für Joshua Cohens Roman Witz als auch für das Gespräch zwischen Cohens Übersetzer Ulrich Blumenbach und Florence Widmer. Mit viel Humor berichtet Blumenbach davon, wie er die englische Satire ins Deutsche übertrug.

Das 900-seitige Buch voller Anspielungen, Metaphern, Homonymen und Bibel-Persiflagen stellte selbst einen erfahrenen Übersetzer wie Blumenbach vor Herausforderungen. Einerseits galt es auf übergeordneter Ebene den Ton zu treffen, denn die Thematik des Romans erfordert viel Feingefühl. In Witz wehrt sich Cohen gegen die Sentimentalisierung der Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust, indem er sich der Komik bedient.

Andererseits war es schlicht unmöglich, die Fülle sprachlicher Stilmittel der englischen Version eins zu eins zu übersetzen. Es war Blumenbachs erklärtes Ziel, den gleichen Gesamteffekt zu erzeugen, auch wenn dies teilweise nur durch Kompensation gewisser sprachlicher Figuren an anderer Stelle möglich war. Insbesondere der Umgang mit Bibelzitaten war für Blumenbach und Cohen ein wichtiges Thema. Sie entschieden sich für die Verwendung der Luther-Bibel als Vorlage, um einen möglichst grossen Wiedererkennungseffekt bei den Lesenden zu erzeugen, obwohl die Buber-Rosenzweig Übersetzung stilistisch näher an den hebräischen Strukturen wäre. Für Blumenbach war es in dieser Hinsicht von Vorteil, dass er «erzchristlich» aufgewachsen war und die Bibel sehr gut kennt.

Den Prozess des Übersetzens beschreibt Blumenbach in diesem Fall als linear: «Es macht keinen Sinn, Satz B zu übersetzen, wenn ich Satz A noch nicht verstanden habe.» Das ist dem mäandrierenden Erzählstil Cohens sicherlich angemessen, entspricht aber nicht unbedingt Blumenbachs typischer Herangehensweise und verlangsamt die Übersetzungsarbeit beträchtlich. Etwas schneller ging Blumenbach denn auch die Übersetzung von Irene Disches Roman Die militante Madonna von der Hand. Deshalb nimmt sich Blumenbach am Ende der Veranstaltung noch einige Extraminuten Zeit, die Zusammenarbeit mit Dische und dem Verlag zu loben. Als Übersetzer ist es für ihn eine besondere Freude, wenn seine Überlegungen zur Sprache die Autorin zu neuen Ideen anregen. Das Ergebnis ist ein wahrhaft polyphones Buch.

Bedrohte Arten im Buchhandel

Es ist ein paradoxes Bild, das sich im Gespräch zur Bibliodiversität und dem Beitrag von unabhängigen Verlagen dazu abzeichnet: Weil so viel diverse Literatur produziert wird, geht das Diverse im Mainstream unter. Christiane Schmidt vom Rotpunktverlag stellt dabei fest: «Ich sehe im Literaturmarkt schon bedrohte Arten.» Darunter fallen beispielsweise Sachbücher und Lyrikbände.

Wer kennt es nicht: Man geht durch eine der grossen Buchhandlungen und ist beinahe erschlagen von den vielen Regalen voller Bücher. Da ist bestimmt schon einigen Bücherwürmern durch den Kopf geschossen: Too many books, too little time. Nie im Leben könnte man all diese Bücher nach ihrem Inhalt prüfen, geschweige denn vollständig lesen. Damit Bücher gekauft werden, müssen sie zuerst ins Bewusstsein der Kund*innen geraten. Da das Feuilleton immer weiter schrumpft und dabei weniger Platz für Rezensionen bleibt, liegt es oft besonders an den Buchhandlungen ihren Kund*innen die Titel nahezulegen. «Buchhändler sind unsere Verbündeten», hält Claudio Barandun aus der Verlagsleitung der Edition Moderne fest. Besonders diejenigen Buchhändler*innen kleinerer Buchhandlungen, welche um ein weitläufiges Sortiment bemüht sind. Doch unter all den vielen Neuerscheinungen die Perlen zu finden ist schwierig. Gerade weil den Buchhändler*innen eine solch zentrale Rolle für die Büchervielfalt zugesprochen wurde, waren sich die Gesprächsteilnehmer*innen darüber einig , das jemand von dieser Seite des Literaturbetriebs eigentlich ebenfalls an diesem Gespräch teilhaben sollte.

Auch auf die wichtige Rolle der Person der Autorin und des Autors wurde von den Gesprächsteilnehmer*innen hingewiesen. Deren Bekanntheit nimmt ebenfalls Einfluss auf die Wahrnehmung der Bücher und werde durch Veranstaltungen wie die Solothurner Literaturtage gefördert. Deshalb war es leider ein wenig schade, dass Julia Weber, die Autorin in der Runde der Gesprächsteilnehmer*innen, eher wenig zu Wort kam. Sie hielt trotzdem fest: «Ich lebe vor allem von den Veranstaltungen. Auftritte nehmen zwar viel Platz ein, aber ich mache es gerne.»

Schlussendlich geht es aber auch bei Literatur leider doch meistens ums Geld. «Bücher aus Kalkül machen, bringt es nicht», hält Claudio Barandun fest, «Aber natürlich sind wir ökonomischen Zwängen unterlegen.» Die diversen Fördergelder nehmen alle Verlage gerne an und sie sind auch auf sie angewiesen. Ausserdem steuern die Förderbeiträge zur Diversität der Bücher bei. Beispielsweise gäbe es beinahe keine Übersetzungen von Westschweizer oder Tessiner Literatur, würden diese nicht gefördert werden. Dass diese Fördergelder aber nicht ausreichen, darüber sind sich alle Gesprächsteilnehmer einig. Deshalb meint Schmidt: «Bücher müssten dringend teurer werden.» Das geht aber leider nicht so einfach. Den die Schweiz als Teil des deutschsprachigen Raumes, ist auch vom Eurokurs und den Buchpreisen im Ausland abhängig. Um dort konkurrenzfähig zu bleiben, können die Preise der Situation der Verlage nicht angepasst werden. Erwin Künzli von der Verlagsleitung des Limmat Verlags bringt es folgendermassen auf den Punkt: «Entweder man verliert den deutschen Markt oder Geld in der Schweiz.»

Teil des deutschsprachigen Raums zu sein, birgt aber auch Vorteile. Denn obwohl oft davon ausgegangen wird, dass Schweizer Literatur auch bloss in der Schweiz gelesen wird, weiss Christiane Schmidt: «Interessante Bücher werden auch in Deutschland und Österreich gelesen.» Und interessant kann Schweizer Literatur bestimmt sein, wie Künzli ergänzt: «Das Lokale darf nicht mit dem Provinziellen verwechselt werden.»

Der Klang von Decke und Decke

Gesprächsfetzen in Französisch, Italienisch, Deutsch schwirren durch den Kreuzsaal. Vorne auf der Bühne richten sich die Übersetzerin Barbara Sauser und der Moderator Renato Weber ein. Der Saal füllt sich.

Sauser übersetzt eine grosse Vielfalt unterschiedlicher Genres von literarischen Werken und Sachbüchern über Untertitel von Kinofilmen, bis hin zu Werken der Weltliteratur für Deutschlernende.

Zwei Sätze aus ihrem kürzlich übersetzten Roman Drei Lebende drei Tote ploppen auf der Leinwand auf. Die Autorin Ruska Jorjoliani schrieb sie auf Italienisch. Aus «Fissando il soffitto con le braccia fuori della coperta» wird im Deutschen in einer ersten Version «er starrte die Decke an, die Arme über der Decke ausgestreckt». Sauser erklärt, wie sie mit Knacknüssen umgeht, wie sie mit Wörtern spielt. Die Wiederholung der Decke wird in der Übersetzung elegant durch Laken ersetzt. Nur entsteht dadurch noch ein A mehr, was Sauser nun klanglich nicht überzeugt. Verschiedene Versionen werden ausprobiert, der Satz mehrmals umgestellt. So ist jede Übersetzung eine Gleichgewichtsarbeit, in der Inhalt, Klang und syntaktische Umschichtungen ausbalanciert werden müssen. Im Saal erhält Sauser zustimmendes Gemurmel und der Herr neben mir nickt eifrig. Die Übersetzerinnen und Übersetzer im Saal wissen, wovon Sauser spricht. Überhaupt geht es in Übersetzungen darum, den richtigen Klang zu finden. Anfangs ist es ein Abtasten und Ausprobieren. Nach 20 bis 50 Seiten hört Sauser ihn raus und ab dann fliesst die Übersetzung. In literarischen Texten lässt sie nichts aus, übersetzt jeden Schlenker. In Sachtexten hingegen zählt der Inhalt und da glättet sie schon mal eine Passage – «unterschiedliche Heiligkeiten», wie Sauser schmunzelt.

Überflüssig werden Übersetzerinnen und Übersetzer genau darum nicht, auch wenn es schon sehr gute Übersetzungsprogramme gibt. Der Moderator verwendet mehrmals Handwerk, wenn es um die Übersetzungsarbeit geht. Irgendwann greift Sauser ein und bringt auch Kunst ins Spiel. Die Kunst, Romane zu schreiben, überlässt sie jedoch lieber anderen. Somit ist zum Schluss auch die Frage geklärt, ob sie selbst ein Buch schreiben möchte: «Ich bin froh, wenn ich kein weisses Blatt vor mir habe»

Julia Weber: «Die Vermengung»

Mutter werden als Akt der Rebellion? – Ist diese Motivation für Geburt und Geborenwerden nicht etwas weit hergeholt? – Auf keinen Fall!

Julia Weber las am Freitagmorgen im Grossen Saal des Landhauses aus ihrem zweiten Roman «Die Vermengung» und wurde von der Moderatorin Nadia Brügger zu den Hinter- und Beweggründen des Textes befragt. Brügger moderiert souverän, beginnt mit einer kurzen und prägnanten Einführung zum schriftstellerischen Profil Julia Weber, wie z.B. ihre Mitbegründerschaft des feministischen Autorenkollektivs RAUF. Dann liest Weber eine erste Stelle aus dem Roman. Eigentlich ein Risiko, denn auch in diesem Blog kann es für Webers Buch nicht genug der autofiktionalen Disclaimer geben. Also: Achtung! – Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin «Julia» im Buch von Julia Weber ist zwar die Autorin, aber sie ist es auch nicht!

Das, so erfährt man im weiteren Gespräch zwischen Weber und Brügger, hat mit der Vermengung von verschiedenen Lebensumständen der Autorin zum Entstehungszeitpunkt des Buches zu tun; und mit dem Vermengen als Schreibprinzip, das Weber für den Roman gewählt hatte. Wobei sich das Prinzip wohl eher geradezu aufgedrängt hatte. Weber skizziert das kurz: Sie wollte einen Roman schreiben, die Figur «Ruth» stand schon von Beginn an im Zentrum, dann wurde sie angefragt, ob sie nicht doktorieren wollte – und sie wollte. Deshalb begann sie eine Poetik, eine literaturtheoretische Reflexion ihres künstlerischen Schaffens, zu verfassen. Doch dann kam bereits das nächste dazwischen: die Schwangerschaft. Die literarische Methode des Fragmentarischen und seiner Vermengung bot so Weber die Möglichkeit, mit der chaotischen Gleichzeitigkeit dieser vielen neuen Zustände und Gefühlssituationen umzugehen: Sie vermengte kurzerhand Roman, Literaturtheorie und Schwangerschaft zu einem einzigen literarischen Text.

Interessant ist, dass für Weber der Verarbeitungsprozess mit dem Buch auch nach seiner Veröffentlichung noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint. So realisiere sie erst jetzt vieles, was ihr während dem Schreiben wohl eher unbewusst unter der schreibenden Hand geschah. Zum Beispiel, dass die detaillierte Erzählung der Kaiserschnitt-Geburt so politisch aufgefasst werde. Das fände sie super, sie habe das aber nie bewusst als Statement geplant. Aber tatsächlich würden viele Leserinnen darauf reagieren – aus dem schlichten Umstand heraus, dass ihnen nicht viele solcher Geburtsszenen in der Literatur begegnen.

Dass Brügger mit ihren Fragen etwas wagt und nachhakt, belebt die Lesung deutlich. Kann die literarische Zentrierung des Mutterseins und der Sorge ums Kind nicht auch bereits als eine Art von Rebellion verstanden werden? Weber gefällt an dieser Überlegung das Kämpferische; die Reflexion ziele auf die Liebe ab, die man als Mutter zum eigenen Kind empfinde – und das sei eben nach ihrer Erfahrung keine Liebe, die frei von Ambivalenzen sei. Hier öffnet sich das Gespräch dann wieder einer allgemeineren Fragestellung: Müsste es nicht grundlegend mehr darum gehen, im Alltag sich den Widersprüchen zu stellen, diese auszuhalten?

Trotz der knapp bemessenen Gesprächszeit verfolgen die beiden Gesprächspartnerinnen einen interessanten gemeinsamen Gedankengang. Man einigt sich darauf: Das wirklich Politische, wirklich Provokante liegt wohl letztlich noch immer im Anspruch, beides sein zu wollen: Mutter und Künstlerin.

Am Ende entfaltet Webers bildlich präzise literarische Sprache noch einmal ihre Wirkung im Saal. Ein feiner Humor zwischen den Zeilen findet stets sein Publikum:

«Und H. schreibt. Ich liebe dich.
Und ich denke, aber das nützt nichts.»

Im Gespräch mit Johanna Schaible

Johanna Schaible hat an den Solothurner Literaturtagen den Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 2022 gewonnen. Am Tag vor der Preisverleihung sassen wir in der Küche ihres Apartments und haben über dieses und jenes, aber vor allem über ihr Buch «Es war einmal und wird noch lange sein» gesprochen.

Johanna, hast du einen Lieblingsort in Solothurn?

Ja, bei meiner guten Freundin Dimitra Charamandas zuhause. Ihre Eltern besassen das beste Restaurant in Solothurn, die Taverna Amphorea. Wir haben gemeinsam ein Kochbuch über das Restaurant und die griechische Küche herausgegeben («Amphorea Me Kéfi», Anm. d. Red.). Dimitra ist meine stärkste Verbindung zu Solothurn. Das Restaurant heisst heute Taverna Elea und ist immer noch fantastisch!

Kommen wir vom Kochbuch zu dem Werk, mit dem du dieses Wochenende in Solothurn bist: Am Anfang war unklar, ob dein Bilderbuchdebut «Es war einmal und wird noch lange sein» je publiziert werden würde, weil es ein sehr ungewöhnliches und aufwändiges Format hat. Mittlerweile ist es in neun Sprachen erschienen und unter anderem für den Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert, der morgen hier in Solothurn verliehen wird. Wie fühlt sich das an?

Ziemlich unglaublich (lacht). Ich habe mittlerweile das Gefühl, das Buch hat ein Eigenleben angenommen und ich stehe daneben, ganz erstaunt, und sehe zu, wie es durch die Decke geht. So etwas erwartet man nicht, erst recht nicht bei einem Buchdebut. Am Anfang hiess es, es sei viel zu komplex, viel zu teuer, doch dann hatte mein Hauptverleger Erik (Erik Titusson, Verlagsleitung und Verleger des schwedischen Lilla Piratförlaget, Anm. d. Red.) die Idee, das Buch als Koproduktion herauszugeben, so dass es zur gleichen Zeit in neun Sprachen erscheint. Schon da habe ich gedacht, besser kann es nicht werden! Der Erfolg ist wunderschön und freut mich sehr.

Deine Projekte sind sehr abwechslungsreich: Deine Kunst war in diversen Ausstellungen zu sehen, du hast wie bereits erwähnt ein Kochbuch mitgestaltet, leitest ein Kunstatelier für Kinder und Jugendliche. Und jetzt dein Bilderbuchdebut. Woher kommt diese Vielfalt?

Schwierig zu sagen. Ich habe lange darunter gelitten, dass ich eben nicht wie viele andere Illustratorinnen und Illustratoren einen bestimmten Stil habe, der sofort wiedererkennbar ist. Aber mittlerweile akzeptiere ich das und merke: Ich kann gar nicht anders als in die Breite zu arbeiten, sonst würde mir langweilig werden (lacht). Ich habe deshalb aufgehört, mich selbst in eine bestimmte Schublade stecken zu wollen. Ich sehe mich als visuelle Gestalterin, die je nach Projekt zu sehr unterschiedlichen Mitteln greifen kann. Ein roter Faden, der sich durch meine Projekte zieht, ist, dass ich immer von einem Begriff, Material oder einer Technik ausgehe. Aufgrund dieser experimentiere und recherchiere ich und schaue, was sich daraus ergibt. Es ist also nicht immer so, dass ich von Anfang an weiss, was daraus entsteht. Im Falle des Bilderbuchs war klar, dass es ein Buch geben würde, aber bei anderen Projekten kann das in Objekten, einer Ausstellung oder in einer Zusammenarbeit enden. Diese Vielfalt schätze ich sehr. Das Kinderkunstatelier ist meine sichere Arbeitsstelle, die ein Minimum an Geld, ein regelmässiges Einkommen bietet – überleben muss man ja auch noch.

Je nach Projekt lässt du dich also von einem bestimmten Stil oder Material leiten – was kam denn beim Bilderbuch zuerst, das Konzept für den Inhalt oder die Technik der Collage?

Ich bin von universellen Begriffen ausgegangen, die mich interessieren. Zu Beginn waren das zum Beispiel «Luft», «Nacht» und «Zeit». Als ich mich stärker mit dem Thema Zeit auseinandergesetzte, realisierte ich, wie spannend ich es finde, Fragen wie «Was war?», «Was ist?» und «Was wird sein?» zu stellen. Das endgültige Konzept des Buches entstand schliesslich aus der Zusammenführung zweier Ideen: Einerseits ein Zoom von weit weg hin zu einem Kind mithilfe von kleiner werdenden Seiten und andererseits diese Beschäftigung mit der Zeit. Die Kombination war dann der Startschuss zum Buch.

In deinem Bilderbuch bewegen wir uns von der Vergangenheit übers Jetzt mit einem «Wünsch dir was!» in die Zukunft, die in Fragen formuliert ist. Was war die Idee hinter diesen Fragen?

Die Zukunft war ein Knackpunkt bei der Entstehung des Buches. Der Einstieg mit der Vergangenheit war einfach, weil ich mich an der Geschichte orientieren konnte. Ich habe mich lange gefragt, wie ich die Zukunft darstellen soll, da ich sie weder voraussehen kann noch ein Zukunftsszenario zeigen wollte. Ich hatte, glaube ich, bereits Sätze geschrieben, ähnlich wie sie jetzt im Buch stehen, aber noch nicht als Fragen formuliert. «Was wünschst du dir für die Zukunft?» war schon immer als Frage formuliert und irgendwann kam dann die Lösung, dass ich den gesamten Zukunft-Teil mit Fragen darstellen könnte. Damit erreichte ich dann, was ich wollte, nämlich, dass sich die Leute damit auseinandersetzten, was für eine Zukunft wir gestalten wollen oder was für Wünsche jeder hat.

Spielte der Gedanke an ein interaktives Vorlesen für Kinder auch eine Rolle?

Am Anfang eigentlich kaum. Ich habe lange nicht an die Zielgruppe des Buches gedacht. Das Zitat, das zu Beginn des Buches zu lesen ist, «Für die Erwachsenen von morgen und die Kinder von gestern», habe ich in meinem Skizzenbuch bereits sehr früh als Gedanken notiert. Mein Hauptverleger, Erik, hat einmal gesagt, es sei ein Generationenbuch. Es ist etwas anderes, wenn es sich zwei Kinder anschauen oder eine Grossmutter mit ihrem Enkel. Ich habe ein Buch gemacht, dass sehr viel von den Betrachtenden verlangt. Es ist keine klassische Vorlesegeschichte, im besten Fall entsteht ein Austausch. Das merke ich jetzt auch bei Lesungen, insbesondere bei Kinderlesungen: Ich kann mich kaum vorbereiten, weil es so darauf ankommt, was für Kinder vor mir sitzen. Ich merke erst vor Ort, was sie interessiert und was sie mitzuteilen haben, und kann spontan mit dem Buch darauf reagieren.

Was haben die Kinder denn so mitzuteilen?

Viel, sehr viel! Es sind sehr lebendige Lesungen. Sobald die Kinder merken, dass sie sich mitteilen dürfen, schnellen tausend Hände in die Höhe und alle wollen etwas sagen. Es ist sehr spannend. Klar, es gibt Themen, die sehr präsent sind, etwa die Dinosaurier – aber es kam auch schon vor, dass mich ein Kind bei der Seite mit dem Satz «Vor hunderttausend Jahren zogen die Menschen von Ort zu Ort» fragte: «War da mein Grossvater auch schon dabei?». Sobald wir bei den Fragen zur Zukunft sind, kommen natürlich die Antworten: «Ich will Ärztin werden» oder «Ich will einen Bauernhof». Am Schluss der Lesung lasse ich sie immer ein Bild zeichnen oder eine Antwort schreiben zur letzten Frage «Was wünschst du dir für die Zukunft?». Das ist jeweils ein schöner Moment, bei dem alles dabei ist, von «Ich möchte ein Pony», über «kein Krieg mehr» hin zu «mehr Tierliebe». Es kommen also auch viele sehr ernsthafte Gedanken, Wünsche und Zukunftsängste.

Àpropos Zukunft: Was für ein Projekt dürfen wir als nächstes von dir erwarten?

Ich habe vor, erneut an einem Buchprojekt zu arbeiten. Ich denke an eine Form von Bilderbuch, ich lasse offen, ob es ein Kinderbuch sein soll oder sich an Menschen jeglichen Alters richtet. Dabei werde ich wohl auch wieder von Themen ausgehen, die mich bereits als Kind interessiert haben und es immer noch tun. Ich gebe keine Gewähr, dass es ein Buch über das Wetter wird, aber das wäre ein Thema, das mich sehr interessiert. Es ist alltäglich, universell und trägt viele weitere Inhalte wie den Klimawandel mit sich.

Man darf gespannt bleiben, mit welchen Ideen Johanna Schaible uns in Zukunft überraschen wird. Einer ihrer Zukunftsträume hat sich auf jeden Fall bereits verwirklicht: Das Preisgeld des Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreises ermöglicht ihr vorerst, sich ohne finanzielle Sorgen in ihr nächstes Projekt zu vertiefen.

Ein Interview von Ronja Holler