Die wilden Kerle

Auf den ersten Blick erkennt man kaum Unterschiede zwischen den Teams. Bauchumfang, Altersdurchschnitt und Haarausfall sind auf beiden Seiten sehr ähnlich. Das Team «Raketen-Solothurn» spielt gegen das Team «Schriftsteller-Nati», welches von Patrick Tschan dirigiert wird. Die einzige Frau auf dem Platz ist eine Linienrichterin. Wieso spielen hier nur Männer in den Teams? An den Literaturtagen 2022 waren insgesamt mehr Frauen als Männer eingeladen. Ich schreie die Frage Peter Bichsel zu, der am Anstosspunkt steht. Er hört mich nicht. Er macht den Anstoss. «Sie hätten den Mittelkreis ruhig etwas verschieben können (für Bichsel)», meint einer der Herren neben mir. Er ist Teil der «Sirupkurve» – eingeschweisster Fanclub der Raketen. Wie viele dieser Duelle haben die wohl schon erlebt? Fans trudeln ein, darunter viele Familien. So jung habe ich das Publikum an diesen Literaturtagen nie erlebt.

Spielbeginn: Erster Angriff für die Raketen. Sie machen den frischeren Eindruck. 1:0 nach drei Minuten. Ein Storch fliegt über den Platz. Ich war abgelenkt, weil Peter Bichsel sich neben mich auf die Bank gesetzt hat. Die «Sirupkurve» stellt sich als Bichsels Entourage heraus. Das finde ich süss. Lukas Maisel hat die Brille auch auf dem Platz an. Die Schriftsteller versuchen eine hohe Linie zu spielen, um so die gegnerischen Spieler ins Abseits laufen zu lassen. Dafür braucht es schnelle Beine bei den Verteidigern. Ich weiss nicht, ob Wolfgang Bortlik das bieten kann.

Das Spiel findet vor allem im Mittelfeld statt. Es ist laufintensiv, die Energien müssen klug eingesetzt werden. Die ersten Auswechslungen folgen nach 9 Minuten. Die Nummer 10 der Schriftsteller, Captain, reisst das Spiel an sich. Technik und Tonsur ähneln dem jungen Zidane. Gerne wüsste ich, wie er schreibt. Sein Zuckerpass in den Lauf von einem anderen Schriftsteller wird via Lob verwertet. 1:1. Halbzeit. Die Stimmung auf der kleinen Bühne ist ausgelassen, endlich darf man mal bisschen grölen und eine Bratwurst essen während einer Literaturveranstaltung. Auch das Bier hilft.

Die zweite Hälfte plätschert so vor sich hin. Plötzlich eine rüde Grätsche von Maisel. Unruhe auf der Tribüne und der Bank. Die Gelbe Karte wird gefordert. Der Tschan macht auf Simeone und plädiert für Schwalbe. Aber es gibt Freistoss. Und den Pfostenschuss wird im Nachschuss verwertet. 2:1 für die Raketen. Sie haben das Spiel im Griff. Die Schriftsteller-Nati hat mehr Ballbesitz, aber kurz vor Schluss kontern die Raketen. Die 10 macht mit einem schönen Solo das 3:1. Die vermeidliche Entscheidung. Doch dann der grobe Schnitzer vom Goali der Raketen. Er lenkt einen harmlosen Ball ins eigene Tor. Nur noch 3:2. Noch einmal kehrt Hoffnung zurück in die rotgeschwitzten Gesichter der Textvirtuosen. Aber kurz darauf folgt der Abpfiff. Nackte, behaarte Oberkörper umarmen sich, noch ein Gruppenfoto und wir freuen uns auf die Revanche im nächsten Jahr.

Entepatete

«Hört ihr mich?» Ich: «Ja». Drei ältere Damen neben mir: «nein». Anaïs Meier spricht also lauter. Die Autorin sitzt auf der wohl kleinsten Bühne an den Solothurner Literaturtagen. Dafür ist die Tribüne umso imposanter. Wir befinden uns draussen auf der Treppe vor der St. Ursen-Kathedrale. Anaïs Meier liest uns aus ihrem aktuellen Buch Mit einem Fuss draussen vor.

Es geht ums draussen sein. Der Held der Geschichte, Gerhard, selbsternannter Kommissär, findet draussen im Egelsee einen abgetrennten Fuss. «Supergerhard», wie er sich selbst Mut macht, vermutet ein Verbrechen und nimmt sich der Sache an. Wenn man Anaïs Meier so zuhört, merkt man allerdings schnell, dieser Kommissar ist ein wenig gspässig. Jeden Morgen macht er die «Flamingo-Übung». Er redet mit der Ente, und versteht sich offensichtlich nicht mit ihr. Zum See steht er in einer symbiotischen Beziehung und sogar zum Universum hat er Kontakt. Er hält, als hypersensibler Mensch, alles im Gleichgewicht.

Ein esoterischer Kommissar?

Wir erfahren, dass Gerhard vielmehr ein Randständiger ist. Ausserhalb der gesellschaftlichen Norm. Draussen. Er wohnt in einer Klause, die wie aussieht wie das Haus von Rocky Docky. Googeln Sie das mal. Früher wohnten dort Süchtige und Punks. Anaïs Meier spricht mit dem ganzen Körper. Die Energie und den Enthusiasmus, mit der sie die Figur des Gerhard sprechen lässt, verleiht dem Text zusätzlichen Witz und erzeugt Sympathien. Wir lachen bei Sätzen wie «Ich muss ja in das Internet hineingehen» oder «Ich freue mich auf den Salbei». Ansonsten sind wir damit beschäftigt, unsere Köpfe vor der Sonne zu schützen. Viele tragen weisse oder beige Fischerhüte, Sonnenbrillen und manche gar kleine Sonnenschirmchen. Es sieht aus wie bei einem Federer-Tennismatch. Nachmittagssession. Gerhard hätte seine Freude.

Die Lyrik ins Weltall krähen

Von Joëlle Bischof und Silvan Preisig

Pagenschnitt, Brille, eher grau, so sehen die vielen Köpfe aus im Publikum vor uns. Das Licht scheint schüchtern von links auf den Boden aus Holzklötzen. Smooth-Jazz kommt aus den Boxen. Die Bühne wird gerahmt von zwei massiven Steinsäulen. Alles schön alt. Kaum vorstellbar, dass in diesem genormten, netten Ambiente gleich über Entgrenzung und Kannibalismus gesprochen wird.

«Auch als Romanautorin ist Lioba Happel Lyrikerin», heisst es in der Einleitung zur Lesung und Gespräch von Happel, die ihr neues Buch «Pommfritz aus der Hölle» vorstellt. Lioba Happel arbeitete lange Zeit als Sozialarbeiterin und lernte dabei einen aasgewöhnlichen Jungen kennen. Eines Tages kam er zu ihr, mit einem Text von Trakl in der Hand und meinte: «Das verstehe ich». Happel, im ersten Moment verblüfft, schenkte dem Buben ein Exemplar von Arthur Rimbauds Gedichten. Diese Begegnung diente ihr als Vorlage für die Hauptfigur des Romans: Pomelius Fridericus, genannt Pommfritz. 

Das Höchste mit dem Niedrigsten verbinden. Diesen Ansatz teilen Rimbaud, Verlaine und andere Dichter der frühen Moderne mit dem Roman «Pommfritz aus der Hölle». Pommfritz ist ein Ausgestossener der Gesellschaft. Mit dem Entschluss, die Mutter zu töten und zu essen, bricht er mit der Welt des Menschlichen. Er begibt sich, wie er selbst sagt, in die Sphäre des Nichtmehrbegreifbaren. Auf die Frage hin, wie Pommfritz zu seiner Sprache gefunden hat, sagt Happel, dass Pommfritz durch seine Omi zum Schwadronieren gefunden hat und durch Rimbaud zum Lesen. Fortan verschlingt er Bücher, wie die Mutter ihre Pommes Frites. Das Schreiben und Lesen dient dabei der Selbstermächtigung. In diesen Momenten ist Pommfritz gottgleicher Schöpfer. Doch das Schreiben eröffnet die Selbstreflexion des Ich-Erzählers und schafft so die Ebene, um für seine Taten Reue zu empfinden. 

Happel erzählt dynamisch. Lange Pausen unterbrechen die lauten und schnellen Passagen. Das passt zur wütenden Pommfritz-Sprache: unerwartet, frech und doch poetisch. Leider steht sie so im Kontrast zur Sprechweise der Moderatorin Martina Kuoni. Man spürt wenig Begeisterung, dafür ihre Nervosität. Das Publikum hört trotzdem artig zu. Kaum ein Geräusch stört die Veranstaltung, einzig der Witz, die Ironie, die dieser Text hat, will nicht recht auf die Zuhörer*innen überspringen. 

Unser Team in Solothurn:
Silvan Preisig

Ich will: völlig unvoreingenommen aus nächster Nähe miterleben, was man als Schweizer Literaturbetrieb versteht. Dabei bestenfalls die Fische in der Aare besser kennenlernen, ein Bier (oder zehn) mit Anaïs Meier trinken, 22 Männern beim Ball nachjagen zugucken, viele neue Autor*innen liebgewinnen und lernen, was eine Lesung aufregend macht. Am Schluss natürlich: schreiben.

Ich studiere Deutsche Literaturwissenschaft und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.