Liegelandschaften im Resonanzraum

Schon von draussen höre ich die Erzählstimme, die von einer Biene berichtet. Ich betrete das Künstlerhaus S11 und werde empfangen von Michael Fehrs Text Der hundertjährige Holzboden. Gross hängt er an der Wand und erklingt gleichzeitig aus den Lautsprechern.

Etage um Etage erklimme ich die knarrende Holztreppe, vorbei am ausgestellten Bett mit den grauen Laken. Oben erwartet mich das Podiumsgespräch Im gutmütigen hellgrauen Bett. Es gehört zum Resonanzraum, ist selbst ein Resonanzraum. Wie Moderator Livio Beyeler, Theaterregisseur und Konzeptkünstler, gleich zu Beginn verspricht, dient Fehrs Text auch in diesem Gespräch als Ausgangspunkt. Zusammen mit der Innenarchitektin Jacqueline Rondelli und Meret Ernst, Dozentin für Designgeschichte und Designtheorie an der Fachhochschule Nordwestschweiz, folgt er dem Text entlang der Verbindungslinien von Architektur und Design bis in unsere Schlafzimmer.

Innen und aussen

Leitmotive sind dabei das Bett und der titelgebende hundertjährige Holzboden. Rondelli und Ernst sprechen über die Rolle des Betts als Schutzraum und Zufluchtsort. Sie reflektieren den Luxus der Intimität, die ein eigenes Bett in einem eigenen Zimmer bietet. Demgegenüber hinterfragen sie aber auch den vermeintlichen Schutz unserer Betten. Rondelli weist dabei auf die Formulierung in Fehrs Text hin, der das Bett als «verhältnismässig ungefährlich» beschreibt. Trocken meint sie, dass auch schon Menschen im Bett umgebracht wurden.

Der Holzboden kommt in der Diskussion weniger konkret zur Sprache. Vielmehr wird er im Verhältnis zum Bett im übertragenen Sinn als bedrohliche Aussenwelt thematisiert und mit verschiedenen Entwicklungen unserer heutigen Zeit in Verbindung gebracht. Ernst spricht von der Krise und meint damit die Covid-19 Pandemie. Die Erzählungen der Podiumsgäste, aber auch Fragen aus dem Publikum, zeigen deutlich, dass in den letzten Jahren die Grenze zwischen innen und aussen, privat und öffentlich verschwommen ist. Das stellt viele auch bei der Raumgestaltung in den eigenen vier Wänden vor Herausforderungen. Ernst betont, dass es in so einem Fall hilfreich ist, die Krise als solche zu benennen und die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten anzuerkennen. Als Tipp hält das Podium fest, statt auf die Raumgestaltung, auf das Zeitmanagement zu fokussieren.

Gleichgewicht als Ziel

Im Zusammenhang mit der Zeiteinteilung streift das Gespräch Themen wie neue Arbeitsformen, Gestaltung von Arbeitsplätzen und Firmengebäuden (Stichwort Campus), aber auch den Umgang mit elektronischen Geräten. Rondelli appelliert ans Publikum, wir sollen alle unsere Handys, TVs und Laptops aus dem Schlafzimmer verbannen. Auch sonst bringt Rondelli immer wieder hilfreiche Einrichtungstipps in die Diskussion ein. Ich weiss, dass ich nie wieder in einem Bett mit der Fusskante richtung Zimmertür liegen werde, ohne Rondellis Stimme zu hören: «Meh sett ned chöne d Tür uftue und di gspreizte Bei gseh.»

Bei anderen Zuhörer:innen scheint jedoch ein anderer Tipp stärker hängengeblieben zu sein. So dreht sich die Fragerunde am Ende insbesondere um die Farbenlehre: von sehr persönlichen Einblicken in die farbliche Gestaltung von Rondellis Schlafzimmer über Diskussionen rund um die Verwendung von Rot in Zimmern von Prostituierten bis hin zur Grundsatzfrage, ob Schwarz eine Farbe sei. Nach dieser angeregten Diskussion steige ich die knirschende Holztreppe wieder hinab und verlasse den Resonanzraum mit vielen neuen Ideen. Was ich mir zu Herzen nehmen werde, ist Beyelers Vorschlag: Einfach mal länger im gutmütigen hellgrauen Bett bleiben und «en Gang abefahre».

Von belämmerten Wölfen und an Pflaumen klebenden Zungen

Die Sprache, ein Protagonist – das gilt sowohl für Joshua Cohens Roman Witz als auch für das Gespräch zwischen Cohens Übersetzer Ulrich Blumenbach und Florence Widmer. Mit viel Humor berichtet Blumenbach davon, wie er die englische Satire ins Deutsche übertrug.

Das 900-seitige Buch voller Anspielungen, Metaphern, Homonymen und Bibel-Persiflagen stellte selbst einen erfahrenen Übersetzer wie Blumenbach vor Herausforderungen. Einerseits galt es auf übergeordneter Ebene den Ton zu treffen, denn die Thematik des Romans erfordert viel Feingefühl. In Witz wehrt sich Cohen gegen die Sentimentalisierung der Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust, indem er sich der Komik bedient.

Andererseits war es schlicht unmöglich, die Fülle sprachlicher Stilmittel der englischen Version eins zu eins zu übersetzen. Es war Blumenbachs erklärtes Ziel, den gleichen Gesamteffekt zu erzeugen, auch wenn dies teilweise nur durch Kompensation gewisser sprachlicher Figuren an anderer Stelle möglich war. Insbesondere der Umgang mit Bibelzitaten war für Blumenbach und Cohen ein wichtiges Thema. Sie entschieden sich für die Verwendung der Luther-Bibel als Vorlage, um einen möglichst grossen Wiedererkennungseffekt bei den Lesenden zu erzeugen, obwohl die Buber-Rosenzweig Übersetzung stilistisch näher an den hebräischen Strukturen wäre. Für Blumenbach war es in dieser Hinsicht von Vorteil, dass er «erzchristlich» aufgewachsen war und die Bibel sehr gut kennt.

Den Prozess des Übersetzens beschreibt Blumenbach in diesem Fall als linear: «Es macht keinen Sinn, Satz B zu übersetzen, wenn ich Satz A noch nicht verstanden habe.» Das ist dem mäandrierenden Erzählstil Cohens sicherlich angemessen, entspricht aber nicht unbedingt Blumenbachs typischer Herangehensweise und verlangsamt die Übersetzungsarbeit beträchtlich. Etwas schneller ging Blumenbach denn auch die Übersetzung von Irene Disches Roman Die militante Madonna von der Hand. Deshalb nimmt sich Blumenbach am Ende der Veranstaltung noch einige Extraminuten Zeit, die Zusammenarbeit mit Dische und dem Verlag zu loben. Als Übersetzer ist es für ihn eine besondere Freude, wenn seine Überlegungen zur Sprache die Autorin zu neuen Ideen anregen. Das Ergebnis ist ein wahrhaft polyphones Buch.

Brücken bauen

Erinnerungen verbinden Menschen. Sie werden erzählt, sie werden in Bildern festgehalten und sie finden Eingang in die Literatur. Aber können sie tatsächlich geteilt werden? Julia Franck, Nino Haratischwili und Brigitte Helbling geben im Podiumsgespräch «Woran wir uns erinnern» vielschichtige Antworten.

Julia Franck, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, stellt fest, dass man in seiner Erinnerung grundsätzlich allein ist. Die Erinnerung beginnt mit dem Ich. Die Einsamkeit der Erinnerung ist auch der vielseitigen Kulturjournalistin und Autorin Brigitte Helbling bewusst, die das Erinnern als «ziemlich mühsamen und ziemlich traurigen Prozess» beschreibt. Es gibt aber Menschen, die sich an dieselben Situationen erinnern, nur aus anderer Perspektive. So erzählt Julia Franck in ihrem neuen Buch Welten auseinander von der tiefen Verbundenheit mit ihrer Zwillingsschwester. Aufgrund der vielen geteilten Momente war es für die Zwillinge immer ein Aushandlungsprozess, die gemeinsame Wahrheit des Erlebten zu ergründen.

Unterstützt werden können kollektive Erinnerungsprozesse auch durch Bilder und Fotografien, wie Nino Haratischwili in ihrem neuen Buch Das mangelnde Licht aufzeigt. Sie betont im Gespräch, dass der Schauplatz einer Fotogalerie in ihrem Buch ihr die Möglichkeit gibt, die Chronologie der erinnerten Geschehnisse aufzubrechen. Durch die Erzählung in Flashbacks wirft Haratischwili die Frage auf, inwiefern die eigene Erinnerung verlässlich ist. Um diesem Zweifel an der eigenen Erinnerung Rechnung zu tragen, verlassen sowohl Franck als auch Helbling in ihren Werken die Ich-Perspektive und lassen auch fremde Stimmen sprechen. Zum Beispiel bezieht Helbling in ihrem neuen Roman Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich sowohl das Tagebuch ihrer Schwiegermutter als auch die Aufzeichnungen ihres Vorfahren mit ein. Dabei geht es ihr darum, eher ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln als harte Fakten darzustellen.

Trotz des schweren Themas haben es die Podiumsgäste unter der Moderation von Lucas Gisi geschafft, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen. Nicht selten führten die erzählten Erinnerungen der Autorinnen zu herzhaften Lachern im Saal. Was dabei leider vergessen ging, war die angekündigte Diskussion zur politischen Dimension von Erinnerungskultur.

Noëlle Lee und Jacqueline Kalberer

Unser Team in Solothurn:
Jacqueline Kalberer

Eintauchen in die Schweizer Literatur, mitschwimmen im Strom der Besucherinnen und Besucher und möglichst nicht untergehen im noch weitgehend unbekannten Literaturbetrieb – das erwartet Jacqueline von ihrem ersten Besuch an den Solothurner Literaturtagen. Sie ist gespannt auf Denkanstösse und neue Gesichter bei den Podiumsgesprächen Woran wir uns erinnern und Im gutmütigen hellgrauen Bett. Im Übersetzungsatelier mit Ulrich Blumenbach und Joshua Cohen hofft sie auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Feinheiten und Unterschieden von Sprache(n). Besonders freut sie sich aber auf die Lesung mit Adania Shibli und das Entdecken neuen Lesestoffs.

Jacqueline studiert Strategische Kommunikation und Deutsche Literatur: TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master an der Universität Zürich.